BELARUS in 10 Tagen (5. – 15. September 2012)
Sep 16th, 2012 von Joe
5. September
Die Aussagen der jungen Ärztin und Sitznachbarin auf dem Rückflug nach Minsk von einem Kongress in Wien wirken beruhigend: Es gäbe keine Gepäckskontrollen am Flughafen Minsk. Die durch Gastgeschenke aufgedunsenen Bäuche unserer Koffer hätten beim Grünen Ausgang auffallen und wir dadurch den letzten Pendelbus in die Stadt verpassen können. Doch alles verläuft problemlos im beschaulichen Kleinflughafen der Hauptstadt von Weissrussland oder Belarus.
Tamara, welche uns abholt, streckt uns das Fahrgeld vor. Etwas über 25’000 leuchtet auf der elektronischen Anzeige im Autobus auf. Ein astronomischer Preis für drei Personen. Unsere Gastgeberin für die nächsten Tage erklärt und beruhigt: Der Euro gelte etwa zehntausend belorussische Rubel.
Der Bus hält sich an den Fahrplan und nimmt die spärlichen Passagiere gegen Mitternacht auf die Vierzigminutenfahrt. Eine Viertelstunde verstreicht, bis uns auf der schnurgeraden Autobahn ein PW überholt. Himmlische Zustände. An einer Metrostation eingangs der Stadt steigen wir um in einen geräumigen Niederflur-Trolleybus. Die Tickets werden an einem vorsintflutlichen Stanzapparat durch den Fahrgast selbst entwertet.
Tamaras Zweizimmerwohnung mit Balkon liegt im sechsten Stock. Zehnstöckige Siedlungsblöcke formen eine Art Innenhof, in welchem eine Ansammlung von Birken und andere Laubbäume den Wagenpark bewachen. Dazwischen, auf einem Rasen-Flickenteppich, fest montierte Spielgeräte, welche schon einigen Generationen von Kindern gedient haben.
6. September
Tamara tischt uns mit Gurken angereicherten Kefir auf, dazu Kaffee mit Kondensmilch und Dunkelbrot mit Apfelmarmelade.
Auf dem Gang zur Metrostation macht Michiko Notizen, um sich den Weg einzuprägen. Wir begleiten Tamara in ihr Büro und glauben, dass sie sich vergebens Sorgen um uns macht. Ob wir uns merken sollen, den Ausgang beim hintersten Wagen zu benützen, erscheint höchstens aus ökonomisch-rationeller Sicht sinnvoll. Unser Tagesziel ist bescheiden, hält uns aber einige Stunden auf Trab: Wir suchen Ansichtskarten und eine Postdienststelle für die benötigten Briefmarken. Am Ende des Tages haben wir unser Ziel erreicht und unterwegs Kirchen besucht, ein mehrstöckiges Warenhaus gemustert, kilometerlang die breiten Boulevards abgewandert und in einem japanischen Restaurant gespeist. Die beiden Metrolinien haben uns gute Dienste geleistet. Tamara hat uns eine zehn Tage gültige Karte (für 2 Euros) geschenkt. Das hilft Zeit sparen. Dass wir dann wieder etwas davon abgeben, indem wir den falschen Ausgang wählen, nehmen wir als Lernprozess in Kauf.
7. September
Zweigeteilter Tag. Um eins werden wir von einer ehemaligen Arbeitskollegin abgeholt. Natalia und ihr Schweizer Ehemann Markus sind gegenwärtig in Minsk im Urlaub. Unser vormittägliches Ziel ist der Hauptbahnhof. Dort treffen wir auf Japanisch sprechende Rucksacktouristen. Die Muscheln auf ihren Säcken verraten sie als Jakobspilger. Angeregter Gedankenaustausch; dann schlendern wir vorbei am Fussballstadion von Dynamo Minsk und stossen in Stadtteile vor, die wir bereits kennen. Wir finden ein zweites japanisches Restaurant derselben Kette wie das gestrige. In einer katholischen Kirche faucht mich eine Aufseherin an, als ich fotografiere. Ich führe sie zum Piktogramm am Eingang, woraus hervorgeht, dass lediglich Blitzlicht untersagt ist. Das Kleingedruckte darunter bleibt mir unverständlich.
Beinahe so unverständlich, wie eine Abmachung, die Dritte für uns gemacht haben: So warten wir ein paar Minuten vor eins in Tamaras Wohnung auf Natalias Anruf. Etwa zehn Minuten nach dem vereinbarten Termin ruft Tamara von ihrem Büro aus an, Natalia habe in unserer Wohnung angerufen, aber niemand geantwortet. Wenig später ruft sie nochmals an, Natalia sei auf ihrem Heimtelefon nicht zu erreichen, was logisch scheint, erwarten wir sie doch bei uns. Wir entscheiden, unten beim Eingang zu warten mit dem Risiko, dass wir telefonisch nicht erreichbar sind in der Wohnung.
Eine Dreiviertelstunde nach dem abgelaufenen Termin sitzen wir im Wagen von Natalias Vater. Wir verlassen die Stadt, unterwegs zu einem Freilicht-Museum, wo bäuerliche Behausungen des letzten und vorletzten Jahrhunderts ausgestellt sind. Im Unterschied zum schweizerischen Ballenberg werden keine Aktivitäten in historischen Kleidern dargeboten, nicht einmal alle Hütten mit Schilfdächern sind zugänglich. Ein Brautpaar hat diesen Ort ausgesucht, ob als Kulisse für das engagierte Team von Filmern und Fotografen, oder um einem alten Ritus zu huldigen, bleibt für uns Gegenstand von Spekulationen. Wir beschliessen den Besuch im ebenfalls musealen Restaurant vor Ort, wo wir weit und breit die einzigen Gäste sind.
Zurück in unserer Wohnung, erfreuen wir uns am Nachtessen, zu dem Tamara alle lädt. Unglaublich, wie sie zu diesem Zweck ein unscheinbares Möbelstück zu einem Tisch für sechs Personen auffalten kann. Die Zweiteilung der Anwesenden in Weissrussen und das Ausländertrio, tritt offen zu Tage. Während die Schweizer Fraktion immer nur über Natalias Übersetzung eingebunden ist, sinnieren Markus und ich über die augenfälligsten Unterschiede zwischen beiden Kulturkreisen. Dass wir Schweizer uns hierzulande ab und zu fremdbestimmt vorkommen, fällt beiden auf und hängt wohl auch damit zusammen, dass Pläne oft über den Haufen geworfen und wir nicht jedes Mal aufdatiert werden. Als Gäste gilt es, uns anzupassen. Kurz vor der Verabschiedung einigen wir uns darauf, es Kommissar Zufall zu überlassen, ob wir uns irgendwo treffen am morgigen Minsker Stadtfest.
8. September
Heute fällt es schwer, Notizen zu machen. Entweder ich blende einiges aus, oder ich bleibe vage. Es ist der Tag des alljährlichen Stadtfestes. Die Minsker als Puppen des gleichnamigen Theaters zu betrachten, hiesse ihnen Unrecht antun. Dass sie die Horden von Milizen unter sich dulden, heisst doch wohl nur, dass sie keine andere Wahl haben. Ausser, das Fest mit Abwesenheit abzustrafen, wie die kommenden Parlamentswahlen vom 23. September. So meiden sie die Kontrollen an allen Ecken und Enden, inkl. Abtasten. Dass unweit neben jedem Zugang die ganze Prozedur per Video aufgezeichnet wird (check the checker), entlarvt die Ohnmacht der Machthaber. Ihnen ist es wohl wurst, wenn die fast Zweimillionenstadt Minsk weniger Menschen, als jedes Luzerner Altstadtfest auf die Beine bringt. So gesehen, lohnt es sich kaum, weiter auf einzelne Darbietungen einzugehen, es sei denn, zu erwähnen, dass ein von einer privaten Firma gesponsertes Open Air Konzert ohne jeden Uniformierten über die Bühne geht. Im Vorjahr noch machte folgende Medienmeldung die Runde (und das ohne jeden ironischen Unterton):
MINSK, 07. September (RIA Novosti).
Die weißrussische Polizei hat den Einwohnern Minsks gestattet, beim Minsker Stadtfest am 10. September in die Hände zu klatschen.
„Niemand soll Angst haben, Beifall zu klatschen, wenn es einen Grund dazu gibt“, erklärte Iwan Kubrakow, Erster Vizechef der Verwaltung für Ordnungsschutz und Vorbeugung im weißrussischen Innenministerium, am Mittwoch Journalisten.
Wir treffen Markus, Natalia und ihren Vater. Das mag, muss aber nicht mit dem mässigen Zuschauerinteresse zusammenhängen. Für Michiko und mich kommen unsere Gäste von gestern zum richtigen Zeitpunkt, denn heute ist mit Tamara nicht gut Kirschen essen. Als wir sie am Arbeitsplatz abholen und ihr von den vormittäglichen Kontrollen berichten, verneint sie stoisch, dass es so was gibt. Wenig später selbst vor einem bewachten Zugang auf offener Strasse stehend, bespricht sie sich mit einem Uniformierten und erkundigt sich nach einem Umweg. Sie steuert mit uns Warenhäuser an, vielleicht um uns abzulenken. Einen Restaurantbesuch schlägt sie aus und zieht es vor, auf der Strasse auf uns zu warten. Die Schmach der Kontrollen, sofern es eine ist, wird ihr aber nicht erspart, denn wir bestehen auf dem Besuch des Stadtfestes. Das Auftauchen von Natalia, Iwan Iwanowitsch und Markus rettet die Situation für den Tag.
9. September
Wir haben die Minsker Nächte bei offener Balkontür verbracht und herrlich geschlafen. Heute strahlt die Morgensonne in den Wintergarten und verspricht einen heissen Tag. Der Blick in den Hof verrät ein anderes Bild. Die Birken werden von einem starken Wind durchkraust. Wir müssen uns auf herbstliche Temperaturen einstellen. Nach einem Telefonat mit Halina ziehen wir heute in ihr Haus um, in einer Ortschaft etwa 30 km ausserhalb der Kapitale. Darauf freuen wir uns jetzt sehr.
Ich kenne Halina, seit sie – noch in Minsk lebend – mir vor acht Jahren ein paar Wochen Privatunterricht Russisch gab, während ich damals bei Tamara Unterkunft fand. Tamaras Tochter Katja und Halinas Sohn Dima sind inzwischen miteinander verheiratet und leben in der Schweiz.
Radaškovicy heisst der Ort, ein Dorf wie vermutlich hunderte in Weissrussland. Niedrige Holzhütten im Wechsel mit bis zweistöckigen Häusern mit solideren Backsteinwänden. Das Haus von Halina und Vladimir am Dorfrande stellt sie in den Schatten punkto Ausstrahlung. Es sei zwar nicht neu, immerhin aussen komplett erneuert und gestrichen. Dazu der grosszügige Umschwung, der sich zusammensetzt aus Rasen, Gemüseacker und Sträuchern an der Abzäunung. Ein Rebstock mit blauen Trauben kurz vor der Reife bildet eine Veranda mit der „Datscha“, einem separaten Bau mit drei Räumen, wobei die Sauna das Herzstück und den Stolz der Besitzer bildet.
Wir werden überschwänglich empfangen und fühlen uns in unseren eigenen vier Wänden im Obergeschoss augenblicklich pudelwohl. Das überträgt sich auch auf Jack, den Hund und klein Patrizia, Yorkshire Terrier und Halinas Schosshündchen, welche uns ohne Bellen, dafür mit Kapriolen willkommen heissen.
Nach einem ausgiebigen Mittagessen, das keine Wünsche offen lässt (ausser für Linientreue), erkunden wir die Umgebung zu Fuss. Weite Wälder, durch Wasserläufe getrennt, und weisse Wolkenskulpturen am blauen Firmament buhlen um den besten Hintergrund für unsere Kameras. Fernab jeder Hektik lässt sich hier wandern, fischen, Pilze sammeln, Energie tanken. Ohne jede Einmischung von Behörden und Polizei. Und das relativiert wieder einiges, was Städtern im Leben blüht.
10. September
Im Renault Scenic durchforsten wir die weitere Umgebung. Sie ist geprägt durch Wälder, sowie fliessende und gestaute Gewässer. Behutsam auf dem weichen Moosboden vorrückend, erklärt uns Halina, welche Pilze gut, welche ungeniessbar sind. Pilze sammeln ist eines ihrer beliebten Aktivitäten, da sie damit Bewegung, frische Luft und kulinarische Köstlichkeiten verbinden kann. Es ist warm und windstill in den weiten Wäldern. In solcher Umgebung verstecken sich Sanatorien, wovon wir eines besuchen. Wie es scheint, erholen sich vor allem ältere Menschen, man sucht Genesung und weniger den Jungbrunnen.
In Radaškovicy (Radoschkowitchi) schafft eine Keramikfabrik Einkommen für viele Einwohner. Michiko kauft einen Teekrug als praktisches Souvenir.
Den Nachmittag verbringen wir im Liegestuhl bei herrlichem Sonnenschein und heiteren bis schöngeistigen Gesprächen. Halina übersetzt uns Gedichte ihrer Familienmitglieder. Sicher trägt auch der Wodka das Seine bei zur aufgeräumten Stimmung. Ich erinnere mich jedenfalls kaum je an eine so anregende Siesta. Zu guter Letzt gesellt sich Vladimir zu uns auf den Rasen, mit einer Flasche Champagner (Советское Шампанское) als „Afternoon Tea“.
Nachdem wir mit den Hunden Gassi gelaufen sind, wartet Halina und Vladimirs Sohnemann Dima aus Zürich auf eine halbstündige Session auf Skype. Er interessiert sich nachdrücklich nach unserem Befinden und gibt Ratschläge für die kommenden Tage.
Vor dem Nachtessen lassen wir uns spontan in das Experiment „Russische Sauna“ ein. Zur besonderen Prozedur in der Schwitzkammer gehört das Streicheln des schwitzenden Körpers mit einem Bund von belaubten Ästen, die vorgängig in Aufgusswasser getaucht werden. Wenn die schiere Temperatur im Raum den Körper fast zur Ohnmacht getrieben hat, so bringt der Besen zusätzlich eine Dampfwalze auf die Haut und die Atemwege. Ich torkle beinahe von Sinnen unter die kalte Dusche im Vorraum und lasse mich dort gerne mit einer Bambusfitze den Rücken rot schlagen. Zur Wiederbelebung im Lehnstuhl im Freien gehört ein kaltes Bier. Körper und Geist geniessen die Wiedergeburt der Sinne, bis uns Halina mahnt, dass wir bei zehn Grad Aussentemperatur doch bitte dass Innere aufsuchen sollen.
11. September
Die heutige Ausfahrt in die nördlichen Landesteile von Belarus ist vor allem für unseren Fahrer Vladimir anstrengend. Wir können es uns in der Sänfte seines Wagens bequem machen. Erstes Ziel ist der Narač-See, bzw. die gleichnamige Ortschaft. Die Naračer Seenplatte birgt mehrere von Wäldern umsäumte Gewässer, jedes auf seine Art charmant. Sie laden alle zum Bade, doch Halina weiss, dass am Ufer des grössten unter ihnen sommers eine Warntafel steht. Auch für die kleineren Seen, die man erst nach halbstündiger Wanderung auf einem Waldweg und vorbei an Böden mit reichen Pilzbeständen entdeckt, macht Halina Vorbehalte. Beim kleinsten, Schönheit (Глубелька) genannten Kleinod, schwimmt eine fest verankerte Plattform hart an der Wasseroberfläche, doch da schreckt mich die Aussentemperatur von unter 20° ab vor dem Sprung in den blauen Wasserspiegel, wo Wasserhüpfer und Libellen ihren Lebensraum verteidigen. Das Gebiet ist Nationalpark, die Wanderwege gut ausgeschildert und unterhalten. Welch ein Segen, dass man nicht alle Seeufer im PW ansteuern kann!
Auf dem Rückweg speisen wir in einem anmutigen Restaurant bei Miadziel. Vladimir scheint unsere Ansprüche zu erraten und bestellt auf die Schnelle Suppe als Vorspeise, sodann ein mit gefrorenen Kirschen, Mayonnaise und Käsestreifen paniertes Schweinsplätzchen mit Salzkartoffeln. Uns bleibt keine Chance, die Rechnung zu begleichen. Weiterhin durchfahren wir eine recht modern anmutende Hunderttausendseelenstadt, Maladziečna. Kein Wunder, wurde sie doch im letzten Herbst eigens auf einen Besuch des autokratischen Langzeitherrschers Lukaschenko aufgepeppt.
Der Champagner-Apéro im heimischen Garten fällt diesmal mit dem Sonnenuntergang einher.
12. September
Teile des gegenwärtigen Weissrussland gehörten einmal zu Polen, wie überhaupt wechselvolle Besitzverhältnisse die Geschichte des Landes prägen. Heute fährt uns Vladimir nach dem mit UNESCO-Weihen bedachten Njasviž im Südwesten. Unsere Aufmerksamkeit gebührt vorerst der Landschaft. Abgeerntete Getreidefelder wechseln ab mit Wäldern. Obschon die höchste Erhebung des Landes ganze 345 m beträgt, führen die Strassen durch recht hügeliges Gebiet. Den sichtbaren Horizont bildet oft ein Waldrand. Ab und zu reicht die lange Strasse bis zur Erdkrümmung. Und auf die Strasse zu gucken, kommen wir nicht umhin, denn Vladimir fordert seinen Renault zur Hochform. Hin und wieder entgeht eine künstliche Schwelle seiner Aufmerksamkeit, was ihn zu abrupten Bremsmanövern in letzter Sekunde zwingt. Neben einwandfreien Belägen auf Überlandstrassen gibt es als Anfahrtswege dahin wahre Löchersiebe, was uns zur wohl nicht ganz abwegigen Vermutung verleitet, dass dort Lukaschenko noch nie auf Besuch war. Von verschiedener Seite her haben wir den Eindruck gewonnen, dass bei den Verkehrteilnehmern in Belarus die Null-Toleranz beim Alkohol gilt. Ob sie gesetzlich verankert ist, können wir nicht erfahren, aber man setzt auf Nummer sicher. Beim Einhalten der Geschwindigkeitslimiten geht man sorgloser um: Vladimir glaubt, dass man mit wachsamem Auge sehe, wo kontrolliert wird. Für versteckte Messungen fehlten den Polizisten die notwendigen technischen Hilfsmittel.
Njasviž ist ein erst seit kurzem wieder zugänglicher Komplex mit einer Kirche, die seinerzeit vom polnischen Papst Johannes Paul II besucht worden ist. Die fürstlichen Anlagen unweit daneben strahlen wieder jene Grösse aus, die ihnen Fürst Radziwill im ausgehenden 16. Jahrhundert zugedacht hatte. Ein paar prunkvolle Säle besuchen wir, aber auch der Gesamteindruck des restaurierten Schlosses auf einer leichten Anhöhe, umgeben von einem Wassergraben, der vom angrenzenden See gespeist wird, ist majestätisch. Unsere Gastgeber sehen diese Sehenswürdigkeit ersten Ranges wie wir zum ersten Mal.
Auf dem Heimweg halten wir in Rakaŷ (Раков), wo Halinas Grosseltern wohnten. Beim Gang auf den Friedhof, wo ihre Vorfahren ruhen, finden wir Familiengräber, bei denen im Grabstein bereits die Namen noch lebender Angehöriger eingraviert sind. Viele Friedhöfe verstecken sich an Waldrändern, abseits der Gotteshäuser. Ein Dorf hat typischerweise zwei oder drei Sakralbauten, einen für Römisch-Katholiken, einen für Orthodoxe und allenfalls noch einen für ein Mittelding zwischen den beiden hauptsächlichsten Bekenntnissen der Weissrussen. Im Alltag spielt die Zugehörigkeit zum einen oder andern Bekenntnis kaum eine Rolle. Zahlreiche Gotteshäuser sind erst mit der Wende in den 90er-Jahren allmählich renoviert und ihrer Bestimmung zurückgeführt worden. Uns gefallen die orthodoxen Kirchen mit ihren oft goldenen, jedenfalls farbigen Zwiebeltürmen als Fotosujets am besten. Überhaupt fotografieren wir unterwegs viele Kirchen, ohne uns gross um Namen oder Ortschaften zu kümmern. Bei den römisch-katholischen Tempeln herrscht nach unserer Beobachtung innen meistens striktes Fotografierverbot, weiss Gott, weshalb.
Champagner vor dem Nachtessen hat für uns bereits Tradition. Heute sind Schaschlik-Spiesse angesagt. Vladimir bringt den Feuerherd im Freien auf Glut und steckt Schweinefleisch nebst Zucchini- und Paprikascheiben an die Schwerter, derweil sich Halina bei mir als Barbier betätigt. Das Resultat überzeugt dermassen, dass sich Michiko spontan für einen der Folgetage anmeldet… Dann speisen wir bis in die einbrechende Nacht und toasten mit jedem Glas Wodka von neuem. Michiko fordert auf zum Singen von Volksliedern in der jeweiligen Landessprache. Lachsalven sind garantiert. Wir freuen uns, den Gastgebern eine verdiente Abwechslung zu bringen.
13. September
Seit Tagen ist für heute Regen vorhergesagt. Aber ein strahlender Tag begrüsst uns. Wir haben uns ein paar Ziele in der Nähe vorgenommen. Als erstes das Geburtshaus von Janka Kupala (1882 – 1942). Der Autodidakt ging nur ein Jahr zur Schule, machte sich aber später um die weissrussische Literatur einen bleibenden Namen. Sein Geburtshaus, zum Museum umgewandelt, zeigt noch das einfache bäuerliche Leben, wo ein halbes Dutzend Menschen einen Raum teilen mussten. Heute grenzt das Holzhaus an einen idyllischen Stausee, der die damaligen Zeiten über Gebühr verherrlicht.
Nach kurzen Halten in einem lokalen Markt und bei einer orthodoxen Kirche des 16. Jahrhunderts in Zaslavl (Заславль), wo es noch Mauerreste aus dem 1. Jahrtausend zu sehen gibt, fahren wir zur „Linie Stalin“. Unter diesem Begriff versteht man heute ein Freilicht-Museum auf einer Verteidigungslinie gegen Hitler-Deutschland. Dort werden nicht nur die einstigen Bunker und Schützengräben der Öffentlichkeit zugängig gemacht, das Gebiet ist grossflächig mit Kriegsgerät aus der Nachkriegszeit „geschmückt“. Dieses Arsenal an Waffen und Geräten hat am vergangenen Sonntag so viele Schaulustige angelockt, dass deren Fahrzeuge kilometerlang entlang der Strasse parkiert waren. Heute dürfen wir die Panzer, Flugzeuge, Abwehrkanonen und Raketen fast nach Belieben beschnuppern, wobei der Horror über soviel Vernichtungspotential uns beschleicht. Eher zum Schmunzeln bringt uns ein Hinweis auf einem Schild, wonach Wodka in den Schiessscharten nicht erlaubt sei.
14. September
Es regnet. Eine Wohltat für Halinas Blumen und Gemüsepflanzen. Wir verbringen den Vormittag damit, Radoschkowitchi etwas genauer zu besichtigen. Zu Fuss schlendern wir zur Bibliothek und einer Anzahl von privaten und staatlichen Geschäften des täglichen Bedarfs. Im Zentrum stehen sie noch reihenweise, die mehrstöckigen Wohnblöcke sowjetischer Bauart. Ein klar erkennbarer Ortsmittelpunkt ist kaum auszumachen und die katholische Kirche mit zwei Türmen nicht zugänglich. Zu unserer Überraschung fährt uns Vladimir anschliessend zum Mittagessen ins „Kristina“, ein besonders originelles Restaurant in einem benachbarten Ort. Wie bei früheren Gelegenheiten bestellt er das Essen im Voraus und sagt dem Personal, wann wir eintreffen. Damit entfallen Wartezeiten im Etablissement, die für Halinas Ehemann Zeitverschwendung darstellen, denn er ist des Deutschen nicht mächtig. Halina, als Deutschlehrerin, hingegen freut sich, ihre Sprachkenntnisse mit uns zu festigen. Obwohl in Pension, führt sie weiterhin jedes Jahr ein paar besonders begabte belorussische Musikschüler ins deutsche Solingen, wo diese an einer Reihe von Vorträgen und Wettbewerben zu brillieren versuchen.
Unsere Zeit in Belarus neigt sich dem Ende zu. Es ist wahrscheinlich schon so, dass wir für unsere Freunde Abwechslung in ihren Alltag gebracht haben. Ungewohnt und schwer zu ‚verdauen’ hingegen: Dass über das Gewähren von Gastrecht hinaus alle Ausgaben für Ausflüge, Eintritte, Restaurantbesuche und Treibstoff von unseren Gastgebern übernommen wurden. Falls sich keine Möglichkeit zum Gegenbesuch bietet, werden wir verständlicherweise mit Zurückhaltung eine erneute Reise nach Weissrussland ins Auge fassen.
15. September
Wir haben zwei unterschiedliche Facetten von Belarus erlebt. In der Oeffentlichkeit sind die Weissrussen eingeschränkt. Privat äussern sich die Leute differenzierter, sind offen und orientiert. In den täglichen Auslandnachrichten am Fernseher dominieren Gewalt, Terror, Chaos, was in die Hände der Machthaber spielt. Hier herrschen Ruhe, Sicherheit, Ordnung. Der Preis dafür wird nicht von der ganzen Bevölkerung gleich beurteilt. In Belarus könnte vermutlich die gleiche Regierung an der Macht sitzen, wenngleich mit ein paar Prozenten weniger Zustimmung. Mit vermuteten Wahlfälschungen aber steht Weissrussland in der zweifelhaften Ehre, den letzten Diktator Europas zu beherbergen, was dem Lande Aechtung der westlichen Welt einträgt.
Wir werden zum Flughafen gefahren und verabschieden uns dort von Halina und Vladimir als Freunde, die bereits das Wiedersehen beschwören. Keine Probleme bei der Ausreise. Die fehlende örtliche Registrierung während unseres Aufenthaltes ist kein Thema bei der Passkontrolle.