Camino de Santiago Ein weiterer Blogs Blog

7. Oktober 2008

Leon – Santiago de Compostela

Filed under: Allgemein — Joe @ 13:13
14.9.
León – Villar de Mazarife (420 EW); 24.3 km; 5 h 10’; 1109 Kcal
Es braucht geschlagene zwei Stunden, bis die Agglomeration León verlassen ist. Das hätte auch länger dauern können, wenn wir uns an den sonst verlässlichen Pfeilen orientiert hätten. Unser Reiseführer lenkt uns in die richtige Spur. Um von der stark befahrenen Autobahn N120 wegzukommen, wählen wir die empfohlene Alternative, welche über zwei Dörfer nach Villar de Mazarife führt. Wieder über die endlose Meseta, wo die Gräser am Wegrand wie Silberfäden in der Morgensonne leuchten. Es scheint, dass viele Wanderer unserer Routenwahl nicht folgen, umso wählerischer können wir bei der Zimmersuche sein. Für sechs Euros stehen heute bloss zwei Kajütenbetten im Zimmer.
15.9.
Villar de Mazarife – Astorga (12’242 EW); 31.1 km; 7 h 10’; 2400 Kcal
 
Eine der abwechslungsreichsten und auch längsten Teilstrecken mit vielen Eindrücken, die bald niedergeschrieben werden wollen, sonst sind sie, husch, weg.
 
Der Länge der Etappe wegen stechen wir um sechs Uhr früh in die vollkommen wolkenlose Nacht. Der Vollmond verdrängt die Sterne in abgelegene Sektoren des Firmaments. Da die ersten sechs Kilometer auf einer geteerten Nebenstrasse begangen werden, genügt das Mondlicht als Beleuchtung. Die laue Nacht mit dem Erdtrabanten in Vollblüte, der uns mutterseelenallein begleitet, weckt Septembergefühle, die Arthur Rimbaud vortrefflich in Verse gefasst hat, die ich vor vierzig Jahren an der Alliance Française in Paris auswendig gelernt habe, und die ich angesichts des stimmigen Dekors fast vollständig abrufen kann, obwohl ich bereits vergessen habe, an welchem Ort wir gestern nächtigten:
 
Je m’en allais, les poings dans mes poches crevées.
Mon paletot aussi devenait idéal.
J’allais sous le Ciel, Muse, et j’étais ton féal:
Oh là là, que d’amours splendides j’ai rêvées!
 
Mon unique culotte avait un large trou.
Petit Poucet rêveur, j’égrenais dans ma course
Des rimes. Mon auberge était à la Grande-Ourse.
Mes étoiles au ciel avaient un doux frou-frou.
 
Et je les écoutais, assis au bord des routes,
Ces bons soirs de septembre où je sentais des gouttes
De rosée à mon front, comme un vin de vigueur;
 
Où, rimant au millieu des ombres fantastiques,
Comme des lyres, je tirais les élastiques
De mes souliers blessés, un pied contre mon coeur.
 
(Ma bohème, Arthur Rimbaud, 1870)
 
Als sich der Mond nach getaner Arbeit verabschiedet, weißt er uns noch den Weg wie weiland der Stern von Bethlehem, während die Morgensonne von hinten unsere zarten Schatten nährt. Noch könnten wir ihn nicht überspringen, müssten dazu die Mittagszeit abwarten.
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Der Vollmond zeigt uns den Weg
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Bei Puente de Óbrigo begehen wir die 20-bogige längste Steinbrücke auf unserem Camino und freuen uns auf Café con Leche und Croissants im Ort.
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20-bogige Brücke bei Puente de Óbrigo
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Dann wählen wir den längeren, kupierten Weg durch eine liebliche Landschaft fernab vom einsetzenden Überlandverkehr. Dieser unser Weg enthält alles, was man vom Camino erwarten kann, onduliertes Gelände, lockere Eichenwälder, Landwirtschaftsbetriebe, Dörfer im Dornröschenschlaf, seit längerem wieder die vitaminreichen Brombeeren und, nicht zuletzt, die Einsamkeit, die Abgeschiedenheit. Die herbstliche Sonne wärmt, aber erschlägt uns nicht mehr. Und dennoch sind wir froh, als endlich die Silhouette der Stadt Astorga auftaucht. Dort treffen wir fast gleichzeitig ein mit den verloren geglaubten Italienern Severin, Roberta, Cristina und Laura. Sie hatten den Nerven aufreibenden Weg entlang der N120 gewählt und empfanden diesen als ‚pesante’, schwer, mühsam.
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 Astorga – Catedral de Santa Maria.
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16.9.
Astorga – Rabanal del Camino (50 EW); 21.5 km; 4 h 15’; 981 Kcal
Ganz sachte und mählich steigt der Camino auf 1162 m an. Die erste Herberge am Ortseingang heisst ‚Tesin’, deshalb bleiben wir gerade hier. Eigentlich wäre Foncebadón auf dem Berg unser Tagesziel, aber da dort nur gerade 5 Einwohner permanent wohnen und unser Reiseführer 18 Betten und ein paar Matratzen erwähnt, und das auf 1439 m ü. M., sind wir vorsichtig. Zudem hat Michiko mehrere Problemstellen an den Füssen. Erstmals seit Tagen versucht sie es wieder mit den Wanderschuhen. Heute Morgen sind ganze Heerscharen Wanderer an uns vorbei gezogen. Wer weiss, wo sie heute Nacht zu sein planen? Die Italiener jedenfalls lassen sich durch nichts erschüttern, sie versuchen auf Foncebadón Unterschlupf zu finden. Ihre nächste Alternative würde dann Manjarín heissen, ein Ort mit 1 Einwohner, 20 Betten und Plumpsklo, ohne Duschen.
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Vuelta – Spanienrundfahrt passiert in Rabanal del Camino
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Heute passiert die Vuelta (Spanien-Radrundfahrt) unsern Ort. Das übliche Bild: eine Stunde vor den Fahrern rasen Dutzende Motos der Guardia Civil vorbei, dazwischen mehr und noch mehr Autos, Mannschaftswagen und Journalisten, Helikopter kreisen über der Bergstrecke. Erstaunlicherweise fehlen die Reklamewagen ganz. Dann, zwei Spitzenfahrer auf der Abfahrt und nach einigen Minuten die Hundertschaft des Verfolgerfeldes. Nochmals rund hundert Fahrzeuge aller Art, Punkt, Schluss mit dem Spuk.
 
Der Name ‚Tesin’ hat nichts mit unserem Kanton Ticino zu tun, obwohl die Hospitalera immer wieder darauf angesprochen werde. Im Übrigen trudeln zwischen zwei und vier Uhr weiterhin Pilger ein, einzeln oder in Zweiergruppen, und das unter der unbarmherzigen Septembersonne. Manche von ihnen nehmen sogar noch den Aufstieg auf den höchsten Punkt des Camino in Angriff. Auch Pilger mit dem Rad sind in stattlicher Zahl unterwegs. Und selbst zwei Reiter sind an uns vorbei getrabt.
 
17.9.
Rabanal del Camino – Molinaseca (771 EW); 27.2 km; 6 h 15’; 1531 Kcal
Der topografische Höhepunkt der Reise und mit eine der schönsten Teilstrecken. Um sieben Uhr früh nehmen wir den Aufstieg in Angriff. Der Mond assistiert uns, trotzdem verlaufen wir uns kurz. In Foncebadón sehen wir mehrere Möglichkeiten der Übernachtung, unser sonst verlässliche Reiseführer hat bloss eine erwähnt. Wir streben weiter, dem emotionalen Höhepunkt zu, dem Cruz de Ferro, dem Eisenkreuz, auf dem Dach des Camino. Dieses schlanke, auf einem schlichten Stahlrohr befestigte Kreuz nimmt seit Jahrhunderten symbolisch die Lasten der Pilger auf sich. Die Idee wäre, dass jeder einen Stein aus seiner heimatlichen Umgebung bei sich trägt und ihn hier hinterlegt. Eigentlich sollte bei dieser Gelegenheit ein Gebet gesprochen werden, worin man darum bittet, dass dieser Stein am Jüngsten Tag auf der Rechten Seite der Waage eingesetzt wird. Die Wirklichkeit zeigt, dass sogar da zu flunkern versucht wird: Entweder kommen zahlreiche Gesteinsbrocken aus der unmittelbaren Umgebung des Kreuzes, oder sie sind mit dem Auto angereist. Denn die Passstrasse führt nur wenige Meter daran vorbei. Wie dem auch sei, unsere beiden Schiefersteine stammen vom oberen Grindelwaldgletscher.
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Cruz de Ferro – Eisenkreuz auf dem Dach des Camino (1531 m ü. M.)
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Auf der andern Bergflanke führt der Camino hinunter bis auf 603 m in Molinaseca. Dank des schönen Wetters sind die steilen Stellen leicht zu passieren. Es ist schon erstaunlich, wie heroisch Michiko den ganzen Weg meistert, sie, die bei jedem einzelnen Tritt mehr oder weniger grosse Schmerzen aushalten muss. Sie beklagt Blasen an den Zehen, den Fersen, am Fussrand. Dazu gesellt sich ihr Hallux-Problem am einen Fuss. Da hilft auch ein ganzes Arsenal an modernen Pflastern nur bedingt. Vor allem beim Geländewechsel von Auf und Ab.
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Michikos Arsenal gegen Blasen – maudit soit qui mal y pense
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Die kleinen Bergdörfer El Acebo und Riego de Ambros sind jedes für sich reizvoll. Die Talstrecke ähnelt gewissen Wanderwegen im Tessin; sie führt durch bewaldete Abhänge der eben bezwungenen Montes de León. Optisch fallen breite Feuerschneisen auf. Diese sind leider nötig: Ein Kastanienbaum zeigt die Spuren des Waldbrandes vom 2004. Aus ihm spriessen zögerlich ein paar grüne Zweige, während andere als stumme Zeugen ihr verkohltes Skelett aus dem allmählich nachwachsenden Unterholz strecken.
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Berittene Pilger führen ihre Pferde zum Fluss in Molinaseca
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In Molinaseca frage ich einen Mann auf der Strasse nach der Herberge. Er zeigt mir zunächst eine private, dann den Weg zur Unterkunft, die er selbst als Hospitalero betreut. Er gehe schnell etwas essen. Im Pilgerpass von Michiko schreibt er später seinen Namen mit japanischen Schriftzeichen. Wirklich, es ist derselbe Mann, der uns in Bercianos del Real Camino betreut hat. Wie das komme? Er erzählt:
 
„Die Hospitaleros sind eine Vereinigung von Freiwilligen, die an verschiedenen Orten eingesetzt werden können. Dieser Job ist sehr arbeitsintensiv, da die Unterkünfte täglich gereinigt werden müssen.“
 
Er macht diese Arbeit seit fünfzehn Jahren und reist mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Es tut ihm leid, dass er uns fünf Euros abnehmen muss, auf Verlangen der Gemeinde. Lieber arbeitet er an Orten, wo mit freiwilligen Spenden der bürokratische Kram entfällt. Er bedauert, dass laufend mehr Touristen und weniger Pilger übernachten.
 
„Wie das?“, frage ich nach
 
„Touristen im Kopf!“, erklärt er,  „Touristen fordern, Pilger bedanken sich“,  schiebt er nach.
 
18.9.
Molinaseca – Villafranca del Bierzo (3’647 EW); 33.7 km; 6 h 30’; 1461 Kcal
Erste vier Stunden auf Strassen durch mehr oder weniger urbane Gebiete, später durch eine, wie mir scheint, erst kürzlich erstellte Schneise durch ein Weinanbaugebiet. Manche der Rebberge sind nicht sehr gepflegt und wuchern neben allerhand Unkraut. Wir kürzen die Strecke etwas ab, indem wir eine Zeitlang der Landstrasse entlang gehen. Auf den weiten offenen Abschnitten kommt es zu losen Karawanen von Pilgern mit dem offensichtlichen Ziel Villafranca del Bierzo. Hätte es geregnet, wir wären auf dem neu erstellten Parcours an manchen Stellen im Schlamm versunken.
 
Ponferrada an unserer Strecke scheint für viele Pilger der Startpunkt ihrer Reise zu sein. Eine New Yorkerin und eine Bostonerin, die ersten schwarzer Hautfarbe, fragen mich, wo man Wanderstöcke kaufen könne. Zwei Italienerinnen begehen den Camino ab hier als echte Pilgerreise. Sie setzen dafür vierzehn Tage Ferien ein. Wir selbst rechnen für den Rest unseres Weges bloss noch mit sieben Tagen.
 
Die spanische Küche am Jakobsweg besteht immer aus drei Gängen. Bei jedem Gang gibt es mehr oder weniger Variationen. Beim ersten fehlen fast nie gemischter Salat, russischer Salat oder eine Pasta, beim zweiten, Beefsteak, Schwein, Huhn oder Fisch, gewöhnlich zu Pommes. Als Nachtisch Eis, Karamellpudding oder Früchte. Im Preis zwischen 8 und 10 Euros inbegriffen sind immer Wasser oder Wein. Für zwei Personen wird in aller Regel eine ganze Flasche Tischwein, weiss oder rot, hingestellt. Heute werden wir mit einer Flasche Rotwein mit Jahrgang 2002 überrascht und das Sirloin Steak besteht aus deftigen drei Stücken Barbecue. Über Wochen war Rindfleisch gar nicht erhältlich gewesen.
19.9.
Villafranca del Bierzo – O Cebreiro (50 EW); 27.4 km; 6 h 40’; 2667 Kcal
 
Es ist keineswegs immer schon am Vorabend klar, wie weit die Reise am nächsten Tag geht. Heute haben wir den letzten Berg, den 1330 m hohen O Cebreiro in zirka 30 km Entfernung im Visier. Das heisst 800 Höhenmeter. Sinnvoll wäre demnach, möglichst nah am Fuss des Berges zu übernachten und den Aufstieg am übernächsten Tag in Angriff zu nehmen. Das schlägt auch unser handliche Reiseführer vor. Nun geht allerdings die Nachricht um, dass in La Faba die Herberge bereits geschlossen sei. Wir beschliessen mit vielen andern, die Bergstrecke gleich anzuhängen und die Herberge auf dem Kulm zu benutzen. Das Risiko, dass diese completo, ausgebucht, sein könnte, gehen wir ein.
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Auf dem O Cebreiro mit Kathrin
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Wir stehen auf dem O Cebreiro, Michiko hat wieder einmal ihre Kämpfernatur bewiesen. Die Dame in der Herberge, welche uns einweist, zeigt sich aber eigenartig unflexibel. Der Reihe nach: Ich hatte mit Michiko am Fuss des Berges abgemacht, dass sie im Schongang aufsteigen soll und ich dafür die Handbremse für einmal lösen und losziehen würde. Ich hoffte, mit unsern Pilgerpässen zwei Plätze in der Unterkunft reservieren zu können. Daneben. Sie akzeptierten Michikos Pass nicht ohne sie.
 
Als dann Michiko rund eine halbe Stunde später auftaucht, findet sie noch einen Platz im gleichen doppelstöckigen Bett, welches mit einem zweiten aneinander geschoben dasteht. Die junge Dame lässt es aber nicht zu, dass wir nebeneinander liegen, „wenn ihr das wollt, könnt ihr ja ins Hotel…“, jemand muss oben, der andere unten schlafen. So liege ich jetzt oben neben einer Französin, während Michiko unten mit deren Ehemann döst. Mit dem nötigen Humor könnte man von einem One-night-stand für drei Euros sprechen. Ich frage die Hospitalera höflicherweise nicht, ob sie einen Boyfriend habe und es gerne sähe, wenn dieser mit einer andern schlafen müsste.
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Sicht vom O Cebreiro auf immergrünes Galicien
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Grossartig ist die Sicht von diesem letzten grossen topografischen  Hindernis auf dem Camino in die Weiten des grünen Galicien. In dieser Region, aber noch nicht zu orten, liegt Santiago de Compostela, bis dahin sind es noch 160 km. 
20.9.
O Cebreiro – Triacastela (873 EW); 21.4 km; 5 h 40’; 1358 Kcal
 
Nach Erreichen des O Cebreiro ist die Luft etwas draussen. Das gestaltet den kurzen dafür nahrhaften Aufstieg zum Alto do Poio auf unserer heutigen Etappe etwas mühsam. Dann allerdings senkt sich der Weg bis auf 671 m in Triacastela. Die grandiose Sicht auf galicische Lande macht uns vergessen, dass es praktisch keine Dörfer gibt, wo man sich verpflegen kann. Dafür wird uns jetzt die Restdistanz nach Santiago alle 500 Meter mit Kilometersteinen angegeben.
 
Um dem möglichen versammelten, unsichtbaren Ungeziefer, das sich in den letzten vier Wochen in unsern Schlafsäcken angesammelt haben mag, einen Ruhetag zu gönnen, verbringen wir die Nacht in einem neuen Hotel am Dorfeingang von Triacastela. Für morgen entscheiden wir uns für die kürzere von zwei ausgeschilderten Routen.
21.9.
Triacastela – Barbadelo (13 EW); 22.7 km; 5 h 40’; 1378 Kcal
 
Heiteres Auf und Ab, mit einem prächtigen Sonnenaufgang. Dann ist allerdings bereits Feierabend mit der Sonne, welche sich den ganzen Tag bedeckt gibt. Wunderbares Wanderwetter. In der staatlichen Herberge checken wir bei Cruz ein. Sie ist zwar nicht im selben Jahr, immerhin am gleichen Tag geboren worden wie ich. Manchmal ist es gut, Gemeinsamkeiten zu finden. Die täglich neuen Pilgerströme treffen nicht immer auf Hospitaleros mit Sinn zum Schäkern.
 
Der Camino de Santiago ist eine ergiebige wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Täglich ergiessen sich vom weltweiten Einzugsgebiet Hunderte neu auf diesen Weg. Sie durchstreifen Städte und Dörfer und bilden vor allem bei letzteren eine nicht zu unterschätzende Einkommensquelle. Das geniale System der preiswerten Unterkünfte darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die Pilger im Schnitt dreimal pro Tag essen und mehrmals Zwischenhalte einschalten. Was in Supermercados (Dorfläden mit Selbstbedienung) und Apotheken liegen bleibt, lässt sich nur erahnen. Und wenn man die diversen Dienstleistungen wie Taxis und Gepäcktransporte dazurechnet, so kann man ermessen, wieviele Spanier dank dem scheinbar unaufhaltsamen Fluss an Pilgern ein Auskommen erzielen. Wer der Einmaligkeit seiner Ankunft in Santiago mit einer Unterkunft im dortigen Parador Nacional (früher Pilgerherberge, heute staatliches Luxushotel) den Stempel aufdrücken will, kann leicht 200 bis 500 Euros pro Nacht im Doppelzimmer loswerden.
 
Die Pilger sind denn auch überall gern gesehen und geachtet. Man braucht sich auf dem Weg nirgends zu fürchten, der Staat hat auch alles Interesse, dass es so bleibt.
nbsp;
22.9.
Barbadelo – Hospital da Cruz (15 EW); 29.7 km; 7 h 30’; 2141 Kcal
 
Was frühmorgens mit leichtem Regen anfängt, verwandelt sich Stunde für Stunde in einen typischen Herbsttag. Mit dem Morgengrauen schleicht der Nebel auf den Camino, der uns alleine zu gehören scheint. Bei unserem Frühstückskaffee nach zwei Marschstunden bestätigt uns die Dame an der Theke, dass heute ausser uns noch niemand bei ihr eingekehrt sei. Dabei nähern wir uns dem magischen Stein, der 100 Kilometer bis Santiago ankündigt. Nur wer diesen letzten Hunderter zu Fuss zurücklegt, hat Anrecht auf die begehrte Auszeichnung, die Compostela. Auch bei uns wird einzig darauf geachtet werden, ob der Pilgerpass diese Anforderung erfüllt. Radfahrer und Reiter müssen sich über 200 km Pilgerweg ausweisen können.
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Nur noch 100 km bis Santiago de Compostela…
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Aufgrund dieser Konstellation hätten wir eine kleine Völkerwanderung erwartet. Entweder hielt das unsichere Wetter mögliche Neueinsteiger in den Federn zurück, oder sie ziehen alternative Fortbewegungsmethoden vor. Pilger, die sich im Sinne des Buchstabens mit Rucksack und Pelerine durch die Herbststimmung nicht entmutigen lassen, zählen wir auf den dreissig Kilometern vielleicht zwanzig. Der Camino ist hier breiter angelegt als an manchen früheren Orten. Trotzdem werden den ‚Pilgertouristen’ an einigen Stellen die Grenzen aufgezeigt, sofern sie ungeeignetes Schuhwerk tragen.
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Stausee bei Portomarín
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Vor Portomarín überqueren wir einen Stausee, oder ein Skelett von einem Stausee, denn er gähnt so leer, wie der Lungernsee im Winter. So ergibt sich die Situation, dass aus dem See mehr als einer wurde. Ausserdem kommen Mauerreste des einstigen Portomarín zum Vorschein, welches durch die Staumauer geflutet worden ist. Das Gefühl, endlich den ersten See in Spanien entdeckt zu haben, bleibt aus. Das heutige Portomarín wurde weiter oben neu angesiedelt und weist daher kaum Häuser auf, die älter als ein halbes Jahrhundert sind. Trotzdem ist die abschüssige Hauptstrasse mit ihren Arkaden recht gefällig und dienlich, besonders bei Sommerhitze und Regen. Insgesamt müssen heute ansehnliche Höhenunterschiede bewältigt werden. Da ist man glücklich, dass es keinen Hitzetag absetzt.
 
23.9.
Hospital da Cruz – Mélide (7’818 EW); 28.5 km; 6 h 30’; 1250 Kcal
 
Wunderbarer Wandertag, an vielen Stellen im Schatten von Eichenwäldern. Der Begriff Pilgerweg scheint hier unpassend, weil wir Dörfer und Landschaften queren, wo nur selten Kirchen oder Wegkreuze Spalier stehen. Eine Napflandschaft etwa, mit häufigen Steigungen und Senkungen, insgesamt ein abwechslungsreicher Parcours. Ausser den alle 500 Meter gesetzten Kilometersteinen weist nichts auf das näher rückende Ziel unseres Camino hin.
 
Jemand hat behauptet, dass der Camino auch ein Leidensweg sein müsse. Nachdem meine Füsse und Beine bisher keine Schwächen haben erkennen lassen, hätte ich also noch nicht die volle Dimension erfahren. Einspruch: Nach meinem Intermezzo mit dem Stockzahn hatte ich eine Weile lang befürchtet, den Camino abbrechen zu müssen. Die Wunde drohte sich zu einer Infektion zu entwickeln, mit einem Übergreifen der Schmerzen auf das rechte Ohr. Weil in Burgos gerade Wochenende war, verzichtete ich auf einen Arztbesuch und nahm das Risiko einer wochenlangen Wanderung durch die spärlich bewohnten Ebenen bis León auf mich. Ein Notfallarzt wäre kaum leicht zu finden gewesen. Mit einer rigorosen Zahnhygiene inkl. Gurgeln kriegte ich den Infekt und die Schmerzen allmählich in den Griff.  
 
Und seit ein paar Tagen verspüre ich ein Stechen in der rechten Brust, welches jeweils erst abklingt, wenn ich den Rucksack ablege. Das bedeutet täglich stundenlange Schmerzen, ohne einen Anhaltspunkt, weshalb. Wären die Symptome links, ich suchte den Grund im Herzen, was mich allerdings beunruhigen würde. Nun, die zwei restlichen Tage müssten auszuhalten sein, dann hätte ich hoffentlich auch meinen Anteil am Leidensweg eingelöst.
 
Ich schnarche. Sagt Michiko. Es sei nicht schlimm, aber hörbar. Was sich aber in Mélide abgespielt habe, sei unerträglich. Da hätten gleich fünf um die Wette posaunt, einer davon habe die andern aber derart übertroffen, dass eine Frau sich mehrfach laut beschwert habe, ohne Erfolg. Darauf habe sie angefangen zu singen, wieder ohne die nasalen Instrumentalisten zu beeindrucken. Schliesslich habe sie laut zu heulen angefangen, was die mitternächtliche Kakophonie komplettiert habe. Ich habe in diesem Konzert keine Rolle gespielt, beruhigt mich meine Frau.
 
 
24.9.
Mélide – Santa Irene (27 EW); 33.5 km; 6 h 45’; 1804 Kcal
Ich glaube, wir queren sämtliche Täler Spaniens, ja ich sehe keinen Grund, weshalb das ständige Auf und Ab dieser Etappe jemals enden sollte. Ob es da noch Pilger gibt, die Lust auf innere Einkehr verspüren? Sonst herbstlicher Sonnentag. Der Camino wird wiederum bewacht durch ausladende Äste von Eichen und anderen Laubbäumen. Zwischendurch der ölige Geruch von schlanken Eukalyptusbäumen, wohltuend als Abwechslung zum Stallgeruch von frisch gesetzten Pferdeäpfeln. Denn jeden Tag sieht man irgendwo ein Grüppchen berittener Pferde auf unserem Camino. An der Hinterlassenschaft gemessen, sind Pilger hoch zu Ross nicht mehr nur Exoten.
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Camino unter Laubdach
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Unsere heutige Unterkunft verspricht eine unruhige Nacht. Unaufhörlich brausen und brummen die Fahrzeuge über die Schnellstrasse, welche just an unserem Fenster vorbeiführt. Die Alternative war ausgebucht.
 
Irgendwo hinter den sieben Bergen soll bald der Ort auftauchen, wo seit Tausend Jahren davon gesprochen wird, dass dort das Grab des Apostels Jakob gefunden wurde. Si non è vero è ben trovato, sagen die Italiener. Die Eigendynamik dieses Glaubens erinnert an unsern Wilhelm Tell. Auch wer in Sachen Jakobsgrab bewiese, dass nichts an dieser Legende stimmt, er könnte vermutlich keinen Abbruch an der Popularität dieses Wallfahrtsortes bewirken. Das ist auch gut so. Glauben ist Glaubenssache.
25.9.
Santa Irene – Santiago de Compostela (90’188 EW); 24 km; 4 h 40’; 1268 Kcal
Am 31. Tag unserer Pilgerreise um 11:20 Uhr stehen wir vor der Kathedrale von Santiago de Compostela! Im Pilgerbüro daneben lassen wir uns die verdiente Compostela ausstellen und um 12:00 Uhr mittags findet in der prall gefüllten Kathedrale die tägliche Pilgermesse statt. Die eingetroffenen Pilger werden genannt. Eine lange Litanei, daher verzichtet man auf Namen, und meldet nur die Anzahl pro Land und die Ausgangspunkte ihrer Reise. Einzig ein kürzlich auf dem Camino verstorbener Pilger wird namentlich erwähnt und die Messe zu seinen Ehren zelebriert.
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In Santiago de Compostela – mit Pilgerpässen
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Zu unserem Erstaunen sind mehrere bekannte Gesichter unter den Gottesdienstbesuchern. Wir hatten geglaubt, als erste unserer mehrwöchigen Weggefährten eingetroffen zu sein. Selbst der 71-jährige Japaner Ooyama hat es geschafft, wir haben ihn seit Wochen vermisst. Kathrin kommt angerannt, Horst meldet sich, Anton winkt von einer hinteren Kirchenbank.
 
Es überwiegen Freude über die eigene Leistung und Respekt den andern gegenüber. Sie haben die gleichen topografischen (und andern) Höhen und Tiefen gemeistert. Sie reden die gleiche Sprache, wenn sie erzählen.
 
Denn wenn man Einzelheiten Unbeteiligten gegenüber äussert, so kann sich schnell ein Zerrbild ins Positive oder Negative einstellen. Die Hauptsache ist und bleibt der Camino als Erfahrung, als Lebensschule, als Willensleistung, in Einzelfällen als metaphysisches Erlebnis. Daran gemessen sind Schnarchorgien als Hintergrundgeräusche einzuordnen. Ungeziefer in Massenschlägen verkommen zu Ereignissen, die sich der Kleinheit dieser Insekten annähern. Ich werde den Camino kein zweites Mal machen. Dazu ist er zu anstrengend. Als einmaliges Erlebnis in meiner Biografie möchte ich ihn aber nicht missen.
26.9.
Einmal in Santiago de Compostela, bleibt vielen Wanderern etwas Zeit zur Musse, sei es, dass das eingeplant war, oder dass sie den Camino früher als gedacht beendet haben. Bei uns sind das vier Tage. Im Unterschied zu den Herbergen unterwegs darf man hier mehr als eine Nacht am gleichen Ort bleiben. Wir nutzen den ersten Tag, um nach Finisterre (wörtlich: Ende der Erde) zu fahren. Wir verlassen unsere Bleibe genau zum richtigen Zeitpunkt, als ein privater Taxifahrer mit drei Deutschen verhandelt. Zum selben Preis wie die Autobusse, aber in einer statt drei Stunden fährt er uns an den westlichen Zipfel Spaniens, der in den Atlantik hinaushängt. Die anschliessenden zweieinhalb Kilometer bis zum Leuchtturm unternehmen wir zu Fuss (und ohne Rucksack). Die ganze Strecke lässt sich ab Santiago in drei Tagesetappen erwandern. Das tun einige, wie wir unterwegs feststellen. Das 2970 Seelen-Dorf Finisterre fristet sein Dasein um seinen Fischerhafen, neben dem feinsandige Strände Platz haben. Ein Grund am Atlantik zu übernachten sind die angeblich atemberaubenden Sonnenuntergänge, aber wir entscheiden, im Linienbus nach Santiago zurückzukehren. Dabei führt die Route über zwei Stunden lang der Küste entlang mit mehreren traumhaften Buchten und verwaisten Sandstränden.
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bei Finisterre am Atlantik
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In Santiago hoffen wir, weitere bekannte Gesichter zu treffen und werden nicht enttäuscht. Vor allem die Italiener, welche Michiko unterwegs in ihr Herz geschlossen haben, lassen ihr südländisches Temperament aufflammen. Veronika haben wir lange vermisst, sie hat nicht bloss den ganzen Camino beendet, sie will im Alleingang nach Finisterre weiter wandern. Kathrin ist da, die mit Dave, ihrem schlaksigen kanadischen Weggefährten mit wallendem, weissem Haar so etwas wie ein ungleiches Paar bildete, das sich zeitweise verlor, aber zum Schluss wieder fand. Auch Anton treibt sich noch in den Gassen herum. Gianna, die Italienerin, haben wir in Finisterre angetroffen, sie hat die erste Etappe dorthin zu Fuss zurückgelegt, dann aber befunden, dass die Freundlichkeit der Menschen nachgelassen habe und die Strecke schlechter ausgeschildert sei. Sie stieg auf den Bus um.
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Aufgeräumte Stimmung bei den Italienern im Manolo
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Der Tag ist ein Vollerfolg, der Abschied von unsern Freunden würdig, von Respekt und Völker verbindender Freundschaft geprägt. Echt Camino.
27.9.
Samstag. Shopping-Tag für Michiko, welche Mitbringsel für ganz viele Daheimgebliebene sucht.
 
Zum Mittagessen finden wir uns rechtzeitig beim Parador ein, denn die ersten zehn Pilger geniessen traditionsgemäss eine kostenlose Mahlzeit im Luxus-Etablissement. Da jeder weiss, dass nur die ersten zehn zugelassen werden, bildet sich auch keine Ansammlung. Michiko erhält den Passierschein für neun Personen, welche hinter dem Haupteingang in einen Seitengang und eine kleine Kammer geleitet werden. Dort können sie ihre Rucksäcke und Taschen deponieren. Dann geht es durch Katakomben, die sonst Angestellten vorbehalten sind, in die Küche zum Fassen der bereitgestellten Speisen. Man darf nicht behaupten man werde knauserig behandelt, ein solches Menü würde ich mir in so einem Hotel nie leisten, aber die Prozedur wirkt unwürdig. Im Gästebuch freuen sich denn auch jene jungen Leute, die sonst kaum ein solches Hotel von innen sehen.
 
Dieser erste freie Tag in Santiago zeigt uns, dass bald der Koller infolge Nichtstun eintreten könnte. Jede Treppe zu ersteigen erfordert Überwindung. Dagegen freut uns, dass wir weitere bekannte Gesichter entdecken. Ein deutsches Paar, das den Camino mit uns in Angriff genommen hat, aber so schnell vorangekommen ist, dass es die drei Tagesabschnitte nach Finisterre auch bereits hinter sich hat. 
 
28.9.
 
Sonntag. Sollen wir nach A Coruña, oder lieber eine Etappe Richtung Finisterre, um uns zu beschäftigen? Stattdessen unternehmen wir einen Spaziergang zurück zum Monte do Gozo, der eine Marschstunde vor Santiago liegt. Und wieder begegnen wir Bekannten. Lili, die Brasilianerin, welche sich vor Wochen ihr hübsches Gesichtchen verletzt hat bei dem Versuch, ein Bild von Michiko und mir durch Rückwärtstreten ins rechte Licht zu rücken, bei welcher Aktion sie unglücklich stürzte. Dann die Australierin Helen, schon damals unterwegs mit Lili. Ein paar weitere, eher vom Sehen Bekannte oder deren Namen uns entfallen sind. Und dann Emma! Seit Wochen fragten wir uns, wo sie wohl geblieben ist. Sie, die mir nach der Pyrenäenetappe ihre Kamera geliehen hat und die später mein Portemonnaie aufhob, als es mir unbemerkt aus der Seitentasche gerutscht war. Klar, dass der Gesprächsstoff nicht ausgeht. Jeder hat gewisse Herbergen anders erlebt, oder man hat Neuigkeiten über gemeinsame Bekannte. Helen und Lili sind sehr angetan von zwei jungen Schweizer Frauen, die den Camino mit ihren Blindenhunden bewältigen.
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Santiago de Compostela – mit Emma
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29.9.
 
Der letzte Tag in Santiago bringt abermals einen Höhepunkt. Wir besuchen nochmals die Pilgermesse mit dem anschliessenden Schwingen des zentnerschweren, an der Decke vertäuten Weihrauchfasses (Botafumeiro), welches zur Belustigung der Besucher rauchend quer durch das Schiff schaukelt und über den Häuptern der Gläubigen Weihrauch verströmt. Früher sollen damit fehlende Duschen kompensiert worden sein…
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Catedral de Santiago de Compostela – Ite missa est – das Weihrauchfass wird in Schwung gesetzt 
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Dann aber schliessen wir uns einer Führung an, die auf das Dach der Kathedrale steigt. Wie die Tauben turnen wir auf dem mit massiven Steinplatten bedeckten Schrägdach herum und bestaunen die Vielfalt an architektonischen Details auf Kopfhöhe, werfen einen Blick auf den belebten Hauptplatz unten und in die ziegelrot getönte Altstadt. Für Michiko ist die Möglichkeit, ein Heiligtum dieser Grössenordnung besteigen zu dürfen, undenkbar in Japan und daher ihr allergrösstes Erlebnis auf der ganzen Reise.
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Michiko auf dem Dach der Catedral de Santiago de Compostela
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Im Nachtzug geht es dann Richtung Madrid, nicht ehe wir nochmals vor dem Café Manolo Schlange sitzend auf Einlass gewartet, und dann im Speisesaal ein saftiges, an eine Panflöte erinnerndes Spare Ribs verzehrt haben.
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Catedral de Santiago de Compostela
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Catedral de Santiago de Compostela, Nachtsicht
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Catedral de Santiago de Compostela
Copyright © 2008 by Josef Bucheli

Burgos – Leon

Filed under: Allgemein — Joe @ 13:13
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7.9.
Burgos – Hontanas (65 EW); 30.7 km; 7 h; 2220 Kcal
 
Grenzenlos blauer Himmel. Ausgangs von Burgos formiert sich eine Prozession von Pilgern. Wenn das nur gut geht. Wir befürchten, dass die meisten wie wir nach Hontanas strömen, ein Dorf mit 65 Einwohnern. Die Deutschen stellen eine wichtige Minderheit unter den Wanderern dar. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen, bedeutet einen Initialaufwand, den sie selber kaum leisten. Einer, der den Camino zum zweiten Mal macht, diesmal ohne seine Frau, klärt mich über den Massen-Exodus auf. Das neu eröffnete Pilgerhaus in Burgos entlässt seine Besucher frühestens um sieben Uhr, so dass es jeweils zu einem Massenstart kommt. Alle scheinen um die beschränkten Beherbergungsmöglichkeiten zu wissen, deshalb ziehen manche los wie die Feuerwehr. Bei der Zwischenverpflegung unterwegs werden sie wieder überholt. Daraus ergibt sich eine gewisse Taktik. Die Italiener senden ihr Küken Laura (17) voraus, wie es scheint mit den Pilgerpässen der ganzen Gruppe. Aber sie besitzt nicht die nötige Ausdauer und fällt bald ins ‚Feld’ zurück.
 
Michiko hat erstaunliche konditionelle Fortschritte gemacht. Ich glaube kaum, dass die junge ‚AHVrau’ eine gleichaltrige zu fürchten braucht. Und sie ist selbst überrascht und stolz auf ihre Leistung. Jetzt, wo die schier unendlichen Flachetappen anstehen, fürchtet sie die 30 km pro Tag nicht mehr. In dieser Beziehung wird heute auf der ersten Streckenhälfte topografisch noch etwas Abwechslung geboten, obwohl die Stoppelfelder dominieren.
 
Und was denkt man die ganzen langen Stunden während des Marschierens? Man sinniert vor sich hin. Man grüsst vertraute Gesichter, plaudert mit einigen, wenn einem zu Mute ist. Es ist halt ein Vorteil, wenn man mehrere Sprachen beherrscht.
 
Obwohl ich über dreissig Berufsjahre kein Spanisch brauchte, bereitet mir diese Sprache keine Mühe. Ich verdanke dies meiner Literaturprofessorin Alicia Correa von der UNAM in Mexiko-Stadt. Sie liess ihre Studenten täglich schriftliche Analysen lateinamerikanischer Kurzgeschichten schreiben. Es war aber ihr Wesen, ihr Charisma, welches drei ihrer Studenten zu Höchstleistungen trieb, einen US-Amerikaner, einen Dänen und mich. Keiner von uns gab sich mit einer Note unter excelente, vortrefflich, zufrieden. Wer einmal ‚nur’ eine muy bien, sehr gut, kassierte, versorgte sein Papier behände unter dem Pultdeckel. Als der Student mit der weitaus schlechtesten Vorbildung kauerte ich vier bis sechs Stunden am Abend über meinem Pequeño Larousse, um überall das zutreffende Adjektiv, die ausgefeilte Wendung zu finden. Erst am Ende des Semesters wagte ich, was die andern beiden Streber  zu gerne getan hätten: Ich lud Alicia in den Ausgang ein. Und sie beschied mir, dass sie erstmals seit acht Jahren eine männliche Einladung angenommen habe. Sie sei kurz verheiratet gewesen, ihr Mann habe sie auf der Hochzeitsreise geschwängert, aber sie habe in dieser Zeit auch herausfinden müssen, dass er schon verheiratet war, was im Mexiko der Siebzigerjahre offenbar möglich war. Alicia mit Doktorhut in spanischer Literatur liess sich auf der Stelle scheiden und zog ihren Sohn als allein erziehende Mutter auf. Noch im Flugzeug zurück nach Europa und ohne Wörterbuch zur Stelle schrieb ich Alicia einen Brief Adiós América, worin sie verklausuliert vorkam. Sie war so angetan von meinen Zeilen, dass sie mich um Erlaubnis ersuchte, den Brief in der neu gegründeten Publikation für ausländische Studenten der Nationaluniversität zu veröffentlichen. Dagegen hatte meine Eitelkeit allerdings nichts einzuwenden, wenn sie mir nur ein Exemplar zukommen liesse. Und tatsächlich, in der Nummer 1 auf der Frontseite stand mein Adiós América. Und auf Seite drei dann eine recht philosophische Gegenüberstellung der Charaktere Hitlers und Don Quijotes, verfasst von meinem amerikanischen ‚Nebenbuhler’.
 
Die hohe Motivation von vor 33 Jahren zahlt sich nun erstmals aus. Wenn allerdings italienisch gefragt ist, so greife ich auf mein Jahr in Chiasso zurück, noch vor meinem Mexiko-Aufenthalt. Dass sich die beiden ähnlichen Sprachen gelegentlich ins Gehege kommen, scheint nicht zu stören, die Transalpinen sind froh, nicht selber ‚ausländisch’ reden zu müssen. So ergeht es dem italienischen Ehepaar Ottavio und Teresa, dem wir heute wieder einmal begegnet sind. Wir haben es seit unserem ‚Schlaf unter den Sternen’ in Torres del Rio vermisst. Im Gegensatz zu uns wandern sie im Gleichschritt und nehmen längere Auszeiten, um sich aus dem Rucksack zu verpflegen. Sie bleiben noch bis León, denn den Camino von dort bis Santiago haben sie bereits im Vorjahr gemacht.
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Rasten mit den Italienern
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In Hontanas können wir für 25 Euros ein Doppelzimmer belegen, ein neues Zimmer mit Dachschräge und Skihütten-Romantik. In einem Ort mit 65 Einwohnern ebenso ungewohnt, wie der Audi Q7, der an einer der wenigen Strassenecken parkiert steht. Vermutlich ein Wochenend-Aufenthalter, nehmen zwei Teenager aus Burgos an, welche bestätigen, dass dieser Ort kein Schulhaus besitzt.
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Hontanas – Skihütten-Romantik im Doppelzimmer
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8.9.
Hontanas – Boadilla del Camino (175 EW); 29.7 km; 6 h 23’; 1544 Kcal
Meine Polar-Uhr, da Montag, zeigt an, dass ich vergangene Woche 511% meiner Vorgabe erfüllt habe, die Steigerung erklärt sich durch einen zusätzlichen ‚Arbeitstag’.
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Camino-Alltag mit der Sonne im Rücken
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Wieder ein Teilstück durch Stoppelfelder, welche die umliegenden Hügel wie Dünen aussehen lassen. Keineswegs so langweilig, wie im Reiseführer beschrieben. Ausserdem wieder Sonnenschein mit sanftem Wind, ideal fürs Wandern. Heinz aus Deutschland macht den Camino zum vierten Mal und weiss immer noch nicht warum. So mache ich mir ebenfalls keine Anstrengung in dieser Richtung. Heinz kann auch nicht sagen, weshalb viele seiner Landsleute morgens an einem vorüber gehen, so, als ob es uns nicht gäbe. Einen Bayer spreche ich darauf an. Er meint, er hätte doch bereits einmal gegrüsst und er brauche sich nicht zu wiederholen. Dabei war er im Schutz der Dunkelheit nach vorn geprescht, ohne eine Schnurre aufzutun. Ihm und einigen andern bleiben ja noch ein paar hundert Kilometer zum Überlegen. Sonst keine Bahn brechenden neuen Erkenntnisse. Wir sind auch nicht böse, dass wir eine halbe Stunde früher als erwartet am Tagesziel eintreffen. Ich springe sogleich ins Schwimmbecken, das im Garten der Herberge, da ungeheizt, sonst niemanden anlockt.
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Boadilla del Camino – Herberge mit Swimming Pool
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Was geschieht bei Ankunft an einem Etappenziel? In aller Regel liegen die Pilgerherbergen direkt am Camino, oder der Weg dahin ist durch entsprechende Hinweistafeln und gelbe Pfeile am Boden deutlich gekennzeichnet. An gewissen Orten wird um die Pilger gebuhlt. Als erstes zeigt man seinen Pilgerpass (credencial) und erhält den Stempel des Hauses und das Datum der Ankunft eingetragen. Der Preis für das Übernachten liegt zwischen 3-6 Euros. Man sucht sich ein Bett aus oder besetzt eins, das noch frei ist. In den ersten Nachmittagsstunden denkt Michiko jeweils als erstes an das Waschen der verschwitzten Klamotten. So wird alles trocken bis die Sonne untergeht. Ich mache in dieser Zeit meine schweissnassen Notizen des Tages. Gegen drei Uhr essen wir ein Dreigangmenü, im Haus oder Dorf. Dann ruhen wir uns aus, bis um 17:00 Uhr die Siesta zu Ende geht. Danach besorgen wir das Nötige für den Folgetag, den wir vorgängig planen. Nach einem leichten Nachtessen machen wir unsere Rucksäcke soweit möglich reisefertig, denn ab 22 Uhr ist offiziell Ruhe verordnet.
9.9.
Boadilla del Camino – Carrión de los Condes (2’386 EW); 25.5 km; 5h 30’; 1834 Kcal
Tag der Erleuchtung! Wie üblich beginnt frühmorgens im Dunkel des Schlafsaales ein emsiges Kommen und Gehen. Taschenlampen blitzen auf. Aber es ist das Wetterleuchten draussen, welches das stumme Thema der Frühaufsteher bildet. Beim Verlassen der Herberge prasselt der Regen derart heftig nieder, dass alle den Rückwärtsgang einlegen. Manche retten sich in den Frühstückssaal, um Zeit zu kaufen.
 
Der Regen stoppt tatsächlich, die Strassen trocknen schnell ab und wir beginnen unsern Marsch in die baumlose, pechschwarze Weite. Wetterleuchten begleitet uns, ohne dass man das Donnergrollen einem bestimmten Blitz zuordnen kann. Aber es scheint bald klar, dass wir uns in Richtung Gewitterherd bewegen. Blitz, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig…kaum ein Kilometer vor uns entlädt sich ein Gewitter. Und schon kübelt es wieder. Kein Haus in Sicht. Die Nacht wird immer häufiger für Sekundenbruchteile zum Tag, die Donnerschläge folgen den bizarren Blitzzacken auf dem Fuss. Dort, ein kleines Steinhäuschen am Wegrand! Gedanken an einen Faradayschen Käfig. Aber dazu müsste die Tür offen sein. Die riesigen Pappeln flössen auch kein grosses Vertrauen ein, wenn sie im Blitzgewitter wie schwarze Drohfinger gen Himmel zeigen. Wir erreichen den 207 Kilometer langen Canal de Castilla. Hoffnung keimt auf, dass er Zeus’ Keulen anzieht und uns verschont. Meinen nassen Pilgerstab halte ich bereits seit einer Weile in der Horizontalen, um kein Argument für die Blitze zu sein. Instinktiv haben wir vier oder fünf Frühaufsteher in Abständen voneinander zu marschieren begonnen. Man nennt das Risikostreuung.
 
Wie um einen Anflug von Angst zu unterdrücken, beginne ich damit, das wunderbare Gedicht von Hermann Hesse vom Wandern im Nebel zu verballhornen, indem ich den Nebel mit dem Regen tausche:
 
Seltsam, im Regen zu wandern!
Bachnass ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum schützt den andern,
Jeder trieft allein.
 
Voll von Freuden war mir die Welt,
als noch mein Rucksack dicht war,
Nun, da der Regen fällt
Stellt er Mehrgewicht dar.
 
Wahrlich, keiner ist weise,
Der dem Regen nichts abgewinnt
Selbst dann, wenn er leise
Vom Nacken zum Po nieder rinnt!
 
Heilsam, im Regen zu wandern!
Regenwasser muss sein,
Sonst welkt neben andern
Das Heideröslein!
 
 
(Für Ästheten, hier das Original Im Nebel, von Hermann Hesse):
 

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Einsam ist jeder Busch und Stein,

Kein Baum sieht den anderen,

Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,

Als noch mein Leben licht war,

Nun, da der Nebel fällt,

Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,

Der nicht das Dunkel kennt,

Das unentrinnbar und leise.

Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Leben ist einsam sein.

Kein Mensch kennt den anderen,

Jeder ist allein.

 

 

Wären wir doch in der Herberge geblieben, dieser paradiesischen Oase inmitten vieler dem Verfall anheim gestellter Hütten der Siedlung, die nicht einmal einen Dorfladen besitzt! Wo ich gestern voller Stolz ins ungeheizte Schwimmbecken sprang, sicher, die Blicke der bereits eingetroffenen Pilger auf meine vielleicht doch ein wenig abgespeckten Lendenrundungen gerichtet zu wissen. Sollte dies das letzte Refugium gewesen sein?
 
Alternativ trällere ich: „… in Gewitternacht und Grauen…“ finde  aber den Schweizerpsalm für meine Marschkadenz ungeeignet.
 
Langsam zeigt sich, dass die Gewitterzone sich seitwärts verschiebt. Wir treffen im nächsten Dorf ein, trinken eine Kola im Stehen, da die Unterhose wie eine zweite Haut auf dem Po klebt.
 
Wie durch ein Wunder hellt der Himmel auf und wir finden nach dem Auftakt des Morgens, dass der folgende, wie mit einem Lineal gezogene, zehn Kilometer lange Pilgerweg durchaus erholsam sein kann. Jene, die zwei Stunden später aufgestanden sind, kamen um ein paar emotionale Minuten herum. Nicht jeder erlebt halt die Erleuchtung gleichzeitig und auf die gleiche Art.
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Störche beleben viele Kirchtürme, hier in Carrión de los Condes
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10.9.
Carrión de los Condes – Terradillos de los Templarios (90 EW); 27.9 km; 6 h 12’; 2222 Kcal
 
Eine Ultraflach-Etappe unter einem hellblauen Himmel. Auch der Planet flach bis zur Erdkrümmung, wo ein grünes Band den Übergang von der strohgelben Erde zum Universum markiert. Wie an einer lückenhaften Perlenkette gewahrt man die Pilger auf dem Original-Pilgerweg. Stundenlang keine Bars oder Schattenplätze. Ansatzweise sind Bäume gepflanzt worden, welche in absehbarer Zeit Schatten spenden sollen. Wer hier leidet, leidet gehörig. Man erkennt sie am Gang oder am Wegrand hockend. Wir sehen kaum noch bekannte Gesichter, es scheint, dass viele ab Burgos neu in den Camino eingestiegen sind. Mehr als Trost spenden können wir nicht. Es hülfe wenig, ihnen zu bekunden, dass ich nach wie vor keinerlei Beschwerden an den Füssen habe. Michiko wechselt wie gewohnt bei Halbzeit von Wanderschuhen in Sandalen.
 
Camino de Santiago – Manchmal herrscht Gegenverkehr
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11.9.
Terradillos de los Templarios – Bercianos del Real Camino (208 EW); 23.4 km; 5 h 20’; 1226 Kcal
 
Leichtes Teilstück. Kurz genug, um uns vor dem drohenden Regen in eine Herberge zu retten. Einige Mitbewohner in unserer gestrigen Herberge sollen sich Lebensmittelvergiftungen zugezogen haben. Eine Brasilianerin wird unterwegs zum nächsten Ziel von der Ambulanz abgeholt. Andere klagen über Erbrechen. Wir selbst haben dort zwei Mahlzeiten ohne Probleme zu uns genommen.
 
Obwohl wir uns, wie erwähnt, auf einem topografisch anspruchslosen Parcours befinden, melden Rolf und Horst, zwei Deutsche, dass sie heute unheimlich Mühe haben. Sie bekunden unverhofft grosse Schmerzen im Schienbein.
 
Heute nehmen wir Abschied von Teresa und Ottavio, einem ruhigen italienischen Ehepaar in unserem Alter. Seit Torres del Rio haben sich unsere Wege oft gekreuzt; es brauchte einige Zeit, bis wir vom kurzen Gruss ein paar weitere Worte wechselten und endlich die Namen tauschten. Sie fahren ab León mit der Eisenbahn zurück nach Saint-Jean-Pied-de-Port, wo sie ihren Camper stationiert haben. Sie bedauern, auszusteigen, obwohl sie den restlichen Camino bis Santiago im Vorjahr absolviert haben. Der Abschied ist ganz rührend. Teresa ist Lehrerin, Ottavio arbeitet in der Privatwirtschaft und steht ein Jahr vor der Pensionierung.
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Ottavio & Teresa arrivederci
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Bercianos del Real Camino hat 208 Einwohner. Das Dorfbild gleicht dem vieler Siedlungen am Camino. Die meisten Strassen und Gassen sind bis in die Hinterhöfe geteert und zwanzigfach geflickt worden. Ein Auto steht etwa alle hundert Meter. Hauswände aus Backstein lösen solche aus Adobe ab. Die Fassaden sind bündig zusammen gebaut, ohne Zwischenraum, jedoch nicht immer geometrisch gerade ausgerichtet. Die Dächer sind geneigt, ziegelrot oder verbleicht. Fernsehrechen darauf, auch wenn als störend empfunden, verraten, dass die Häuser bewohnt sind. Irgendwo wird an einem Haus Mörtel aufgetragen. Ausgediente Stützbalken, auf ein paar Backsteine gelegt, dienen vor einigen Häusern als ‚Bänkli vor dem Hüsli’. Balkone besitzen die zweistöckigen Wohnungen nicht, alle Fenster sind jedoch mit schmiedeeisernen Verzierungen geschützt. Ein paar Alte gehen an Stöcken. Die Inhaberin des Dorfladens beteuert jedoch, dass es im Dorf auch fünf schulpflichtige Kinder gebe, dazu fünf Kleinkinder. Bei ihr sind die Dorfneuigkeiten gebündelt. Sie berät ihre Kundschaft gelegentlich auch in Lebensfragen.   
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Sonnenuntergang bei Bercianos del Real Camino
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In der einzigen Herberge des Ortes werden wir auf den Abendgottesdienst aufmerksam gemacht. Ein halbes Dutzend Pilger folgen der Einladung. Am Ende werden wir Pilger vor den Altar gebeten und erhalten den Pilgersegen. Der Dorfgeistliche spricht auch ein Tischgebet beim gemeinsamen Abendessen danach. Morgens werden wir nach dem Frühstück entlassen, welches wie der ganze Aufenthalt von freiwilligen Spenden der Pilger lebt.
12.9.
Bercianos del Real Camino – Mansilla de las Mulas (1’754 EW); 26.5 km; 6 h 15’; 1658 Kcal
 
Unglaubliche 26 Kilometer, nichts als Ebene. Das Gefühl, dass der Horizont in einer Marschstunde erreicht werden könnte. Ideale Wanderbedingungen, der Wegrand alle zehn Meter mit einem Ahornbaum bepflanzt. Wo diese Laubbäume noch jung sind, werden sie von einer unterirdischen Bewässerungsanlage genährt. Wo sie ausgewachsen sind, spenden sie lückenlos Schatten.
 
Heute weht ein herbstlicher Wind, so dass ich meine rote Windjacke auf mir trage. Das verrät mich den zwei Japanerinnen Yoko und Ryoko, welche uns von weit hinten erkennen und wie verzückt aufschliessen. Zwei Tagesetappen vor Burgos hatten sie den Bus genommen und jetzt finden wir uns wieder! Plaudernd vergehen die Stunden. In Reliegos machen wir Mittagshalt. Ein älterer Niederländer bietet sich an, uns alle vier mit meiner Kamera einzufangen. Michiko bedankt sich und will die Kamera wieder entgegen nehmen. Der Fotograf fragt kurz, ob sie denn ihr oder mir gehöre. „Spielt keine Rolle, diese Frau gehört ebenfalls mir“, frotzele ich. „Glücklicher Mann!“ findet er zu Recht.
 
Die Wände des kleinen Patios (Innenhof) unserer Herberge sind mit Geranien behangen. Laura versieht ihren Job als Hospitalera (Verantwortliche für eine Herberge) mit viel Humor und Corazón (Herzblut). Das Gästebuch legt beredtes Zeugnis ab von dankbaren und begeisterten Besuchern.

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Linda, eine Koreanerin, welche seit Tagen dieselben Strecken hinter sich bringt, wenngleich sie jeweils Stunden später eintrifft, kocht koreanisch. Beef kann sie im Dorfladen nicht auftreiben, Eier hat sie sechzehn Stück eingekauft, der kleinsten erhältlichen Einheit.
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Mansilla de las Mulas – mit Linda im Patio der Herberge
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Auf dem Hauptplatz werden die Lautsprecher getestet für die viertägige Fiesta de la Virgen de la Gracia (Jungfrau des Dankes),  der Schutzpatronin der Stadt.
 
Auch Roberta, Cristina und Laura sind hier stecken geblieben. Sie hatten vorgehabt, bis León durchzulaufen. Die bedauernswerte Laura (17) ist immer noch gezeichnet von den Nachwirkungen einer Magenverstimmung in Terradillos de los Templarios. Alle drei hätten dasselbe verzehrt, nur sie hat es erwischt.
 
Gewisse Leute fordern mir besonderen Respekt ab. Anton aus Oberösterreich hat die Strecke Linz – Santiago vor zwei Jahren zu Fuss gemacht und berichtet über seine Erfahrungen auf dem Schweizer Abschnitt (Einsiedeln, Flüeli-Ranft, Brünig, Fribourg). Er unternahm die Reise aus Dankbarkeit, einen Unfall mit Lähmungen als Folgeerscheinung erfolgreich gemeistert zu haben. Heute bleibt der bärtige Schweiger jeweils nicht lange auf gleicher Höhe mit andern Pilgern, er gibt Gas, wie er sagt, und zieht von dannen. Dieses Jahr hat er eine Zeit lang als Hospitalero in der Casa Austria in Los Arcos verbracht und wiederholt den Camino de Santiago von dort aus. 
13.9.
Mansilla de las Mulas – León (130’916 EW); 17.3 km; 3 h 45’; 828 Kcal
 
Würde man sich auf 30 Kilometer einstellen, man wünschte sich nicht inniger, am Ziel zu sein. Schon kurz nach Aufbruch kommen wir in die weitere Agglomeration von León, was das Wandern nicht abwechslungsreicher macht. Trotz Samstag, viel Verkehr. Erstmals stört mich die schlechte Luftqualität. Unterschlupf finden wir in der städtischen Jungendherberge etwas ausserhalb der Altstadt. Dafür ist sie 24 Stunden zugänglich und wir finden für ein paar zusätzliche Euros ein Doppelzimmer. Drei Schweizer Jugendliche kommen offenbar gerade erst vom Ausgang nach Hause, als wir morgens schon unsere Ranzen packen und weiter ziehen. Wir haben León bereits letztes Jahr von Salamanca aus besucht und sind auch diesmal wieder entzückt von der Catedral de León und ihren Glasmalereien, welche eine Gesamtfläche von 1900 m2 bedecken sollen.
Catedral de León – Glasmalereien

Saint-Jean-Pied-de-Port – Burgos

Filed under: Allgemein — Joe @ 13:12
Jakobsweg nach Santiago de Compostela: Zu Fuss mit Rucksack 800 km in 31 Tagen
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25.8.08
Die Anreise
Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Trotz dieses Gemeinplatzes stellt sich die Frage, welches der erste Schritt ist. Das Durchstöbern eines Katalogs, das Buchen der Reise oder erst das Verlassen des Hauses.
 
Während unser TGV eher bedächtig durch die Neuenburger Weinberge Pontarlier zu gleitet, glauben wir, unsern ersten Schritt noch vor uns zu haben. Ein Doppelzentner schwerer Schritt, angesichts unserer prall gefüllten Rucksäcke, deren Riemen noch einige Stunden lang vom Gepäckabteil über unsern Sitzen baumeln.  
 
Umsteigen in Paris von der Gare de Lyon zur Gare de Montparnasse in knapp einer Stunde: Etwas für die Fitness. Es mangelt nicht an Möglichkeiten, sich zu verirren, eine Direktverbindung zwischen den beiden Bahnhöfen gibt es nicht. Nach kurzem Anstehen für die Fahrkarten winden wir uns durch die richtigen Katakomben, der Metrozug steht schon dort, ein Satz, ich bin drin und Michiko zur Hälfte. Ihr Rucksack klemmt zwischen der Tür-Guillotine. Sie rupft und zupft mit Leibeskräften und stürzt schliesslich mitsamt Rucksack kopfüber in die stehenden Fahrgäste, kommt wieder hoch, der Zug beschleunigt, die taumelnde Touristin wird nach links und rechts durchgereicht. Doch bereits beim ersten Halt in Châtelet heisst es umsteigen, aber jetzt besitzen wir etwas Erfahrung im Ellbogen einsetzen. Wir sind noch keine gezähmte Pilger.
 
Für die nächsten drei Stunden erholen wir uns wieder im TGV nach Bordeaux. Dort stehen abschliessend eindreiviertel Stunden Regionalzug bis Bayonne auf dem Tagesprogramm. Die Anreise nach Saint-Jean-Pied-de-Port, dem Ausgangspunkt unseres Pilgermarathons, müssen wir aus fahrplantechnischen Gründen auf morgen verschieben.
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Ein ganzes Netz von Jakobswegen führt in den Camino (rot)
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26.8.
Saint-Jean-Pied-de-Port – Roncesvalles (28 EW*); 24.8 km; 6h 36’ Marschzeit; 3551 Kcal
 
*)alle Einwohnerzahlen (EW) und Kilometerangaben sind dem ROTHER WANDERFÜHRER, Spanischer Jakobsweg, Ausgabe Frühjahr 2007, entnommen. Die Kilokalorien werden von meiner PolarUhr anhand der Herzfrequenz errechnet.
Nach einer guten Bahnstunde treffen wir in Saint-Jean-Pied-de-Port ein, einem 1500-Seelenort auf 163 m über Meer, mit UNESCO-Weihe als Weltkulturerbe. Der erste Zug des Tages entlässt zur Hälfte Rucksacktouristen, welche sogleich der Altstadt zuströmen. Emma aus London strahlt uns an mit der Frage, ob sie sich uns anschliessen dürfe. Wir beabsichtigen die leichtere von zwei Übergängen über die Pyrenäen zu wählen und empfehlen ihr, sich woanders anzuschliessen.
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Saint-Jean-Pied-de-Port (F) Ausgangspunkt zum Jakobsweg nach Santiago de Compostela
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An der Empfangsstation der Pilger werden wir zuvorkommend behandelt und mit Informationsmaterial versorgt. Man will uns die anstrengende Route Napoléon zum Bezwingen der Pyrenäen schmackhaft machen. Da wir erst gegen zehn Uhr aufbrechen können, möchte ich meiner Frau den Lepoeder-Pass mit dem Kulminationspunkt auf 1430 m nicht zumuten, sondern auf unserer ersten Etappe auf der Schlechtwetter-Route zum Puerto de Ibañeta auf 1057 m aufsteigen. Im Nachhinein erweist sich meine Überlegung vielleicht als falsch, denn unser markierte Weg steigt keineswegs regelmässig entlang der Autostrasse zum Pass auf, sondern gefällt sich in ständigem Auf und Ab, was uns unter Umständen mehr Höhenmeter abfordert als die Schönwetter-Route. Und wir sind den ganzen Tag alleine unterwegs.
 
Der moralische Tiefschlag kommt mit dem Verlust meines kaum eine Woche alten Fotoapparates. Ob ihm, am Halse baumelnd, ein paar Schweisstropfen den Gong gegeben haben? Wie finde ich aus dieser Kalamität heraus?
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Camino im Aufstieg zum Pyrenäenpass nach Puerto de Ibañeta
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Die sechseinhalb Stunden Fussmarsch netto sind seit langem das Mühsamste, woran ich mich erinnere, obwohl ich kaum körperliche Müdigkeit verspüre. Michiko leidet jede Stunde mehr, auch weil uns zum Schluss die Getränke ausgehen.
 
Obwohl wir erst gegen sechs Uhr nachmittags in Roncesvalles eintreffen, finden wir für je sechs Euro eine Übernachtungsmöglichkeit in einer riesigen Halle, ähnlich einem Kirchenschiff, wo über hundert doppelstöckige Betten stehen.
 
Im Schlafsaal schräg nebenan winkt Emma, die zwei Stunden nach uns eingetroffen ist. Kaum hört sie von meinem Pech mit der Kamera, offeriert sie mir ihre, die sie aus unerfindlichen Gründen eingepackt habe, obwohl sie ausschliesslich mit ihrem Handy fotografiere. Ihr Model ist zwar nicht das neueste, etwas schwerer als meins, und es fehlt eine Batterie. 
 
Santiago de Compostela, 790
steht auf dem Strassenschild am Ausgang von Roncesvalles, dem Klosterdorf,  das weitgehend vom Pilgerwesen rund um den Jakobsweg lebt, 962 m ü. M.
 
27.8.
Roncesvalles – Zubiri (240 EW); 21.2 km; 1963 Kcal
Im Vergleich zum Vortag, ein Honiglecken. Wunderbarer Wanderweg, wenig Steigungen, Tagesziel 434 m tiefer gelegen als Ausgangspunkt. Verschiedene kleine Siedlungen und Dörfer laden zum Unterbrechen der Reise. Wir wandern zusammen mit Emma. Hunderte andere Pilger bevölkern denselben Abschnitt. Manche sieht man mehrere Male, am Wegrand oder in einer Bar. Ein spanisches Paar hat den Ausgangspunkt seiner Pilgerreise ebenfalls nach Saint-Jean-Pied-de-Port, also hinter die Pyrenäen, verlegt. Manche spanisch sprechende Pilger haben vermutlich Roncesvalles als Ausgangspunkt genommen.
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 Camino ab Roncesvalles: Morgenstimmung im Schutz von Laubbäumen
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Obwohl der Grossteil der heutigen Strecke im Wald verläuft, verleitet uns die Sonne am frühen Nachmittag in Zubiri zu bleiben und die Überführungsetappe nach Pamplona morgen etwas länger zu gestalten. Frühmorgens wandert es sich viel angenehmer.
28.8.
Zubiri – Pamplona (183’964 EW); 21.1 km; 5 h 20’; 1664 Kcal
Neuer Tag, neues Ungemach. Beim Umhängen des Rucksacks spüre ich einen Metallsporn in meiner rechten Hüfte. Eine Schnalle des Gurts um die Hüfte hat das Zeitliche gesegnet. Hilflos, verwünsche ich die Qualitätskontrolle der Migros, denn ich trage diesen Tornister erst ein paar Tage. Ich denke an meinen Dialog mit der Verkäuferin und werweisse, wie ich die kommenden Wochen mit dem Schaden umgehen soll. Ein paar Wegstunden später schwant mir die Möglichkeit, in diesen abgelegenen Dörfern vielleicht einen Sattler zu finden. Erst beim Kaffeehalt überlege ich, die Sache selber an die Hand zu nehmen. Braucht es den Camino, um nur schon die Idee des Do-it-yourself zu generieren? Michiko hat das Problem denn auch in fünf Minuten im Griff und schon stützt der Gurt den Tornister wieder.
 
Der Weg nach Pamplona verläuft grossteils im Schatten von Wäldern. Trotz einiger spürbarer Steigungen fällt er insgesamt bis in die Hauptstadt von Navarra. Da der Himmel am Vormittag vorwiegend bewölkt ist, bleibt uns die spanische Hitze erspart. Die Stunden verrinnen, bald erreichen wir die Magdalena-Brücke am Eingang von Pamplona. Unweit davon liegt die Casa Paderborn, eine von Deutschen geführte Herberge. Der Empfang ist herzlich und wir kriegen ein Zimmer mit zwei Doppelbetten. Ein niederländisches Ehepaar teilt den Raum mit uns. Wir geniessen gemeinsam das dreigängige Pilgermenü im nahen Club de Natación, incl. 2 Flaschen Tischwein und Wasser für total 44 Euros. Das betagte Ehepaar erzählt, wie es bei einer Etappe weniger als fünf Kilometer zurückgelegt habe und deshalb von der Leitung der Herberge unflätig gerügt worden sei. Man habe gedroht, es warten zu lassen, bis der letzte Pilger Einlass begehrt habe. Es ist bekannt, dass man selbst im Krankheitsfalle nicht zweimal am gleichen Ort bleiben darf, es wäre sonst möglich, sich preisgünstige Ferien zu erschleichen. Der Pilgerpass ist das Identifikationspapier des Pilgers, der Stempel und das Datum lassen kein Schummeln zu.
 
In Pamplona marschieren Michiko und ich als erstes die Ruta de los Encierros ab, den Streckenverlauf der alljährlichen Stierläufe um die St.Fermin-Tage (6.-14. Juli). Nicht erst, aber besonders seit Hemingway die Mutproben junger Männer literarisch verherrlicht hat, lassen sich tollkühne Touristen von verstörten Stieren der Stierkampfarena zutreiben und bleiben dabei auch mal auf der Strecke. Das Standbild des amerikanischen Schriftstellers steht passend vor der Plaza de Torros.
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Pamplona – Hemingway-Denkmal vor der Plaza de Torros
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Im Warenhaus El Corte Inglés schauen wir uns die Auswahl an Digitalkameras an. Eine junge Verkäuferin gesellt sich zu uns mit der Frage, ob wir Spanisch verstehen, damit sie vielleicht helfen könne. Nicht Spanisch, sondern die fehlende Auswahl sei das Problem, gebe ich ihr zu verstehen. Dann muss sie die Leidensgeschichte meiner geschlissenen Kamera anhören. Gleichzeitig setzt sie mir immer neue Modelle vor bis ich sage: „Señorita, ich bin Pilger, ich kann mir keinen Apparat über hundert Euros leisten!“ Sie verabschiedet sich kurz und kommt prompt mit einer sehr kompakten Nikon Coolpix zurück für 79 Euros. Nachdem ich die Speicherkarte von meiner unglücklichen Canon übernehmen kann, ist der Deal schnell abgeschlossen. Jetzt trage ich drei Kameras mit mir herum, denn Emma ist uns voraus gegangen.
 
29.8.
Pamplona – Obanos (785 EW); 20.3 km; 5 h 30’; ca. 2000 Kcal
 
Neu an der heutigen Etappe ist, dass wir eine Steigung von 250 m zu bewältigen haben, sowie die Tatsache, dass das grüne Laubdach der Vortage über dem Camino fast gänzlich fehlt. Wir sind erstmals der prallen Sonne ausgeliefert. Die Sicht vom Alto del Perdón (735 m ü. M.) in die abgeerntete Landschaft mit vorwiegend erdigen Gelb-Tönungen gegen das konkurrenzlose, milchig aufgemischte Blau des Himmels entschädigt für die Arbeit.
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Alto del Perdón – die Windkraftwerke gedeihen überall
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Ich empfinde das stundenlange Vorwärtsschreiten in der Tat als Arbeit. Nicht als etwas, das man ohne weiteres als Vergnügen bezeichnen würde, aber auch nichts, das man immer schon hinter sich wünschte. Wie weit es bis Santiago de Compostela noch ist, interessiert wohl erst, wenn die Restdistanz von der dreistelligen in eine zweistellige Kilometerzahl übergeht. Wie man auch als Zwanzigjähriger noch kaum an die Pension denkt.
 
Man kennt sich allmählich auf der Strecke, überholt und wird überholt. „¡Hola!“ oder „¡Buen Camino!“ sind die gängigen Grussworte. Unter den Pilgern ist neben Spanisch Englisch die am meisten verwendete Kommunikationssprache. Für junge Spanier soll der Erhalt der Compostela, der Urkunde nach beendigter Pilgerschaft, als gewichtige Referenz bei der Jobsuche gelten.
 
In Obanos mit seinen knapp 800 Einwohnern ist heute Feiertag. Klein und Gross trägt Weiss mit rotem Schal, sowie rotem Stoffgürtel, der auf der einen Seite beim Knie in geknöpfte Bändel ausläuft. Um fünf Uhr findet ein Radrennen für Junioren über 46 km statt, welches die Infrastruktur einer Landesrundfahrt imitiert. Top Material, mehr Autos und Motorräder als Sportler, Polizisten mit Imponiergehabe und schliesslich einen Sieger mit abgeguckten Posen bei der Einfahrt und Siegerehrung. Dass es bei Temperaturen, die sich wie vierzig Grad anfühlen auch Verlierer gibt, komplettiert die Inszenierung des Dorffestes. Ein schmächtiger Junior mit Hitzestau wird von seinen Angehörigen im Strassengraben gepflegt, während die Ambulanz mit Blaulicht abseits Präsenz markiert.
 
Nach Sonnenuntergang folgt ein Openair Konzert mit potenten Lautsprecheranlagen. Liedermacher unterhalten das lokale Publikum im Alleingang im Wechsel mit einer Band und Sängern, die mit Macho-Getue und Dezibels Aufmerksamkeit erheischen. Die Jüngsten ballern mit Spielzeug-Maschinenpistolen um sich. Für meinen Geschmack fehlt der Grillstand mit Wurst und Barbecue, denn am Feiertag ist alles geschlossen, bis auf das Restaurant neben unserer Herberge, das bloss Snacks anbietet. Als Pilger sind fast ausschliesslich Deutsche auszumachen, was den Verdacht zulässt, dass die Erwähnung Obanos’ im ROTHER WANDERFÜHRER Wirkung zeigt. Andere Nationalitäten sind nach dem Nachbarort Puente la Reina weiter gewandert.
30.8.
Obanos – Estella (13’024 EW); 26.8 km; 6 h; 2100 Kcal
 
Erneut ein Tag unter der Sonne. Um halb sieben Uhr morgens ist diese allerdings noch hinter dem Horizont und man sucht das Muschelemblem als Wegweiser mit Taschen- oder Stirnlampen. Es sei denn, man fragt die Einheimischen nach dem Camino. In Obano ist noch eine Disco in Betrieb, mit jungen Leuten, die den gestrigen Feiertag ins Wochenende hinein retten. In angeheiterter Stimmung wird „¡Buen camino!“ gewünscht, nicht ohne uns einen Becher mit unbestimmtem Inhalt hinzuhalten. An Schlaf war nicht zu denken, um halb zwölf stieg ein zwanzigminütiges Feuerwerk mit Böllern, die die Mauern erzittern liessen. Als Pilger mussten wir uns mit dem akustischen Teil des Spektakels begnügen, denn die Herbergen sind in der Regel um zehn Uhr geschlossen. Ich begab mich dennoch in den Garten und bekam die „Ah“ und „Oh“ aus erster Hand mit. Das Volksfest zog sich durch die Nachtstunden, wobei laute Musik und heiteres Stimmengewirr nicht Halt machten vor den Pforten unserer Herberge.
 
Ja und was tut man unterwegs zum nächsten Tagesziel? Man tauscht sich kurz mit andern Pilgern aus, geht alleine einher, pflückt und isst im Vorbeigehen ein paar von den kleinen, fruchtigen Brombeeren.
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Häufig am Wegrand – kleine fruchtige Brombeeren
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Die Kerne dieser Vitaminspender pflegen sich in den Zahnzwischenräumen zu verstecken, was der Zunge Beschäftigung verschafft bis zur nächsten Hecke. In den Ortschaften, die diesmal in idealen Abständen auftauchen, gönnt man sich einen Marschhalt bei einem Café con Leche, einem Milchkaffee oder Kolagetränk. Und man füllt die Wasserflasche für unterwegs. Sauber sind sie, diese Dörfer, harmonisch bettet sich etwa Cirauqui in die Hügellandschaft ein. Unentwegt fragt man sich, wovon die Bewohner leben. Da gibt es schmucke Häuser, nicht selten mit Blumen geschmückten Fenstersimsen. Davor stehen ansehnliche Mittelklassewagen, keine alten Blechkarossen.
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Cirauqui – harmonisch in Hügellandschaft eingebettet
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Im Nuevo Albergue Parroquial, wo Übernachten und Nachtessen gratis sind, beenden wir unser Tagewerk. Wir wollen einmal diese Schiene versuchen, wobei zu sagen ist, dass in diesen Lokalitäten sehr auf eine freiwillige Spende gehofft wird. In der Stadt selber verzweifeln wir anfänglich vor Durst, da wir um die Siesta-Zeit eintreffen, wo das Leben weitgehend still steht. Wer einen Getränke-Automaten vor seine Wohnung stellte, könnte reich werden. Ein Einheimischer gibt uns den entscheidenden Tipp. So eröffnet sich uns eine sehr anmutige Altstadt mit genügend Auswahl an Bars und Restaurants.
 
Über zwei andere Pilger in unserer Bleibe wird ruchbar, dass Emma sich nach uns erkundigt hat. Mittels Handy-Ortung finden wir sie abends am belebten Hauptplatz, so dass die Kamerarückgabe gelingt.
 
31. 8.
Estella – Torres del Rio (172 EW); 29.5 km; 8 h; 2478 Kcal
Einige Pilger haben mit physischen Problemen zu kämpfen. Emma, die uns bei einem Aufstieg überholt, klagt, dass sie nur unter grossen Knieschmerzen talwärts gehen kann. Ein junger Magdeburger hat sich mit einem Tagespensum von 40 km zuviel zugemutet und muss einen Tag aussetzen. Andreas, ein junger Sozialhelfer aus Klagenfurt hinkt bedenklich. Seine Probleme mit den Hüften lassen nur noch homöopathische Tagesportionen zu. Wir sind bisher von solchen Problemen verschont geblieben. Da zahlt es sich vielleicht jetzt aus, dass wir uns gründlich auf den Trip vorbereitet haben. Die Strecke Hergiswil – Luzern in der Heimat bewältigten wir Monate lang routinemässig zu Fuss, längere Märsche nach Engelberg und Sachseln machten uns Mut, Wanderungen auf den Bürgenstock und Pilatus festigten unser Stehvermögen am Berg. Schliesslich umrundeten wir als Härtetest den Vierwaldstättersee in vier Tagespensen.
Michiko hat die gewohnten Probleme mit ihrem Hallux. Nach jeweils drei Stunden Marschzeit wechselt sie deshalb auf Sandalen für die restliche Teilstrecke.
 
Heute beim Frühstück in der Herberge barst mein zweithinterster Backenzahn. Was mich mehr beunruhigt hätte, entspräche dies nicht der Voraussage meines Zahnarztes. Das fühlt sich mit der Zunge etwa so an, als hätte ich einen Mund voll dieser allgegenwärtigen Brombeeren am Wegrand zermalmt.
 
Diese Widerwärtigkeit vergällt uns nicht das Vergnügen, am Klosterweingut Bodegas Irache aus der Fuente de vino, dem Weinbrunnen, einen Schluck Wein zu versuchen, im Wissen, dass uns via Internet die ganze Welt zuschauen könnte:
http://www.irache.com/webcam.html
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Fuente de vino (Weinbrunnen) im Klosterweingut Bodegas Irache
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Wir hätten in Los Arcos, wo wir mit Lili und Helen Mittag essen, bleiben und dort unter Herbergen aussuchen können. Die Kirche dieses Ortes wird eben geschlossen, als ich um etwas Aufschub bitte. Es lohnt sich. Der verspielte ultrabarocke Stil des Altaraufbaus, die üppig verzierten Säulen nur schon der Nebenaltäre, das zeichnet viele Kirchen Spaniens wie diese aus. Leider bleiben die meisten Gotteshäuser geschlossen, ausser, wenn eine Andacht stattfindet. Dass der Raum so dunkel sei, bedaure ich dem Pförtner gegenüber. Ich solle doch am Abend zur Messe erscheinen, dann sei die Kirche hell beleuchtet, entgegnet der Herr der Schlüssel, doch wir folgen seinem Rat nicht.
 
Wir legen noch eine Schippe drauf und wandern zwei Stunden weiter nach Torres del Rio. Mit acht Stunden haben wir wohl das Machbare ausgereizt, zumal bei Temperaturen, die sieben Grad über dem Durchschnitt dieser Jahreszeit liegen sollen. Wir und alle hinter uns sehnen uns nach dem Ort, der  sich seit langem am Horizont abzeichnet, nur um dort feststellen zu müssen, dass es sich erst um Sansol handelt. Die anschliessende Viertelstunde schaffen wir dann auch noch. Schon bald kommen uns in Torres del Rio auf der Strasse Deutsche entgegen, die melden:
 
„Alles restlos ausgebucht, nächste Station Viana, zweieinhalb Stunden weiter.“  
 
Damit mag ich mich nicht abfinden. In der einzigen geöffneten Herberge fackle ich nicht lange, als die hilfsbereite Señorita uns und einem italienischen Ehepaar ein paar Matratzen auf der Veranda anbietet. Auch für später eintreffende Pilger findet sie eine Notlösung. Schliesslich schieben wir unsere Matratzen unter einen Tisch aus massivem Holz, auf diesen legt sich ein Deutscher, und so verbringen wir die Nacht wenigstens unter einem Dach über dem Kopf.
 
Auf langen Teilabschnitten gehen Michiko und ich jeweils unser eigenes Tempo. Ich lege ab und zu Zwischenhalte ein, um auf sie zu warten. Heute rette ich mich vor der unbarmherzigen Sonne an ein schattiges Plätzchen und schreibe ein paar Notizen auf. Nach einem Weilchen frage ich die andern Wanderer, welche ebenfalls rasten, ob jemand meine Frau vorbeiziehen gesehen habe. Obwohl ich diese Leute nicht kenne, antworten sie mit nein. Eine Frau tröstet mich, man treffe sich ja immer wieder. Ich weiss nicht, ob ich zurück oder vorwärts laufen soll. Letzteres ist die richtige Entscheidung, denn zehn Minuten später finde ich sie quickfidel mit Roberto von Bilbao unter einer schattigen Hecke. Es ist nicht so, dass ich Michiko die Tagesleistung vorgebe. Auf die Rückfrage, „kannst du nochmals zwei Stunden anhängen?“ kommt ein spontanes „Jojo“, das keinen Zweifel zulässt.
 
Obwohl ich oft das Wort Pilger verwende, würde ich mich nicht als solchen bezeichnen. Aber auf dem Camino dreht sich halt alles um den peregrino (Pilger). Ich behaupte, die wenigsten unterwegs sehen sich die Kirchen am Wegrand von innen an. Die meisten der Gotteshäuser sind ohnehin geschlossen. Die bisher dahin gehend  angesprochenen Wanderer geben an, auf der Suche nach sich selbst zu sein. Beim Empfangsbüro in Saint-Jean-Pied-de-Port wird eine Statistik geführt und u. a. nach dem Beweggrund der Leute gefragt. Angekreuzt werden können, religiöse, kulturelle, sportliche und übrige Gründe. Ich mache den Jakobsweg, weil es ihn gibt.  
1.9.
Torres del Rio – Logroño (142’143 EW); 20.5 km; 5 h; 1440 Kcal
 
Nach den gestrigen fast 30 km sind heute nur 20 km vorgesehen. Lohnt es sich da, früh aufzustehen, ist man versucht zu fragen. Aber die ideale Streckenlänge gibt es nicht. Eine Grossstadt wie Logroño auszulassen wäre unklug, besteht doch wieder einmal die Möglichkeit, persönliche Bedürfnisse zu befriedigen. So sucht Michiko nach einer Salbe, die einen Hautausschlag eindämmen soll. Und mein abgebrochener Stockzahn lässt mich nur unter Schmerzen essen und trinken. Reden geht überhaupt nicht mehr. In Gebärdensprache fragte ich heute eine Belgierin, ob neben ihr ein Platz frei sei, Michiko bestritt die restliche Konversation an einem Kaffeehalt.
 
In Logroño heisst es, zwei Stunden auf die Türöffnung der Herberge warten. Wir deponieren unsere Rucksäcke an der Spitze der sich abzeichnenden Warteschlange und ich mache mich auf die Suche nach einem Zahnarzt. Eine Apotheke gibt mir eine Adresse. Als ich klingele und eine Dame in Weiss öffnet, stelle ich mich als peregrino (Pilger) vor – man hätte sonst anhand meines Aussehens an einen Junkie denken können – und stammle vom abgebrochenen Zahn und den Schmerzen im Zungenansatz. Sie lässt mich etwa zehn Minuten warten, dann ruft sie mich ins Behandlungszimmer. Der Zahnarzt erscheint, sieht sich die scharfe Kante des Zahnrestes an, nimmt einen Apparat mit einer Feile und entschärft die Kante in schmerzhaften zwei, drei Minuten. Die Gehilfin überreicht mir sodann eine Salbe um die Heilung zu beschleunigen. Alles zum Nulltarif. Mir verschlägt es fast die mittlerweile wieder erlangte Stimme.
 
Mit dem Madrilenen Carlos, der mit Michiko zusammen die Warteschlange vor der Herberge anführt, gehen wir auf Stadtrundgang. Es folgt der bisher innigste philosophische Diskurs über den Camino. Carlos hat die letzten 200 km des Camino schon einmal gemacht. Diesmal will er den ganzen Weg durch Spanien nochmals unternehmen, quasi als Opfergang, um für seine Familie Gutes zu erwirken. In Fragen der Kindererziehung liegen wir beiden kongruent, aber Carlos kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass man sich die ‚Strapazen’ des Caminos ohne oder bloss aus sportlicher Motivation auf sich nimmt. Er muss sich schliesslich mit Michikos Erklärungsversuch zufrieden geben: sie gehe, weil ich gehe und weil es gut für die Gesundheit sei.
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Logroño, beim Filosofieren mit Carlos
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Wanderer wäre ein passender Begriff im Deutschen, den gibt es im Spanischen gleichwertig nicht. Schon in früheren Jahrhunderten gab es nicht nur Pilger, die sich nach Santiago aufmachten. In gewissen Ländern war es den Gerichten möglich, einem Verurteilten zur Strafverbüssung anstelle einer Freiheitsstrafe den Pilgergang nach Santiago de Compostela zu verordnen. Ob da immer die Gesinnung dem richterlichen Wunsch entsprach? So gesehen unternehmen wir die Reise vielleicht vorsorglich: Mal sehen, ob sich bei einem zukünftigen Verkehrsdelikt etwas anrechnen lässt…
2.9.
Logroño – Nájera (7105 EW); 30.7 km; 7 h 12’; 2617 Kcal
 
Die Bleibe in Logroño ist die bislang unangenehmste, wenn auch mit 3 Euros die billigste. Ich schlafe oft schlecht ein. Kurz nach zehn Uhr beginnen die Schnarcher ihr Nachtwerk. Es wird kaum mehr geflüstert. Ein elektronisches Piepsen stört periodisch. Von der übernächsten Reihe (es gibt hier 24 doppelstöckige Betten) beischlafähnliche Geräusche im Schutze der aufreizend lauten Lieferwagen, die sich nachts draussen durch die enge Gasse zwängen. Irgendwann übermannt mich dann der Schlaf doch, denn als mich ein stummer Aktivismus in dem Raum weckt und ich zur Uhr schaue: 04:31! Eine geschlagene Stunde früher als sonst. Dabei ist vor sechs Uhr ohne Taschenlampe nicht zu erkennen, wo die Weg weisenden Muschelsymbole sind.
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Rioja – Traube
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Heute können wir wählen zwischen einer Etappe von zehn, zwanzig oder dreissig Kilometern. Wir lassen uns von der Emsigkeit anstecken und folgen einer Gruppe von Italienern. Für Michiko eine Herausforderung, kann sie doch für einmal nicht ihr eigenes Tempo gehen. Wir queren die ganze Pracht der Weinberge Riojas. Hier also gedeihen im sandig-steinigen, humusarmen Boden die Weine mit dem erdigen Abgang. Der Sonnenaufgang findet uns schon zweieinhalb Stunden auf den Beinen. Das Schild Tio Pepe, mit dem metallenen Stier, steht am Horizont Spalier neben der blutjungen Sonne; dieses Dekor kann nur Spanien bieten.
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Am Camino: Begegnung der freundlichen Art
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Natürlich schafft Michiko die ganzen dreissig Kilometer, man darf ihr das nur nicht als Vorgabe abfordern. Da wir vor Türöffnung vor unserer Herberge eintreffen, lassen wir die Rucksäcke in der zeitlichen Reihenfolge der Ankunft liegen und genehmigen uns ein Dreigangmenü in der Altstadt. Im Preis von zehn Euros pro Person ist eine Flasche Rioja inbegriffen. Als wir im Pilgerhaus zurück sind, haben alle andern schon eingecheckt. Die tatsächliche  Öffnungszeit entsprach nicht den Angaben auf dem Schild. Dadurch kriegen wir die Betten Nummer 67 und 69 unten, ein kleines eheliches Biotop, ideal auch im Hinblick auf die Distanz zu den Duschen und Toiletten, wo es inzwischen keine Wartezeiten mehr gibt.
 
Dies ist wieder einmal eine Bleibe, die allein von den freiwilligen Spenden der Pilger lebt. Hotels würden ohne weiteres fünfzig Euros für ein Doppelzimmer verlangen. Die meisten Wanderer bringen ihren Schlafsack mit. Wenn oft von Ungeziefer in den Matratzen der Massenlager die Rede ist, so sind es die peregrinos, Pilger, welche dieses von Ort zu Ort schleppen. Die Pilgerhäuser werden mancherorts von edlen, selbstlosen Freunden des Jakobswegs betreut. Schade, wenn nur noch Leute mit Scheckbuch diesen einmaligen Camino abwandern könnten.
 
Pilger mit Fahrrad sind zahlenmässig im Vormarsch. Sie folgen ihrer eigenen Route, sofern sich der Weg der Fussgänger nicht eignet. Bereits in Logroño parkten Dutzendweise Mountainbikes in unserer Bleibe. Für Radfahrer gelten etwas strengere Bedingungen für den Erhalt der Compostela in Santiago.
 
Jeden Montag verlangt meine Polar-Uhr, dass ich die Leistung der Vorwoche abrufe. Sie zeigt an, dass ich 500% meiner vorgesehenen wöchentlichen Kalorienzahl verbrannt habe. Gleichzeitig verlangt die Uhr einen Fitnesstest, der mit ‚Exzellent’ ausfällt. Damit kann ich gut leben.
 
3.9.
Nájera – Santo Domingo de la Calzada (5’622 EW); 20.6 km; 5 h; 1235 Kcal
 
Kurzetappe. Mir scheint, es geht nur darum, die schweren Rucksäcke von einem Ort zum andern zu verlegen. Dabei ginge dies auch anders, wie es zwei Japanerinnen vormachen. Sie lassen für 7 Euros pro Tag die schweren Sachen durch einen Lieferdienst von ihrem Hotel zum nächsten am Zielort transportieren und machen so den camino light. Sie nehmen in Kauf, dass sie dadurch in Hotels übernachten, die sie weitere 50 Euros kosten. Heute sind wir in einem Zisterzienserkloster einquartiert, als Ehepaar haben wir zwei Betten in einer kleinen Nische erhalten. Einzelpersonen schlafen wie üblich in Kajütenbetten. Auch dieses Haus lebt von freiwilligen Spenden, die die Empfangsdame vorsorglicherweise gerade beim Abstempeln der Pilgerpässe einfordert…
 
Beim Frühstück, etwa nach einer Stunde Weges bestellen wir die üblichen Cafés con Leche mit Croissants. Diese sind so luftig und gross, dass sie immer mit Gabel und Messer gereicht werden. Beim drein beissen glaube ich, es handle sich um einen Dreikönigskuchen und ich sei eben gekrönt worden, doch Michiko klärt mich dahingehend auf, dass es sich beim Corpus Delicti um ein weiteres Bruchstück meines Stockzahns handelt. Jetzt fühlt sie die Lücke wie ein U-Tal an und ich hoffe auf Ruhe bis zum Ende der Reise.
 
Santo Domingo de la Calzada verdankt seine Existenz und den Ortsnamen Domingo de Viloria (1019 – 1109), der sein Leben ganz dem Pilgerweg widmete. Ohne Jakobsweg gäbe es diesen Ort mit seinen zusammen gebauten, von engen Gässchen getrennten Steinhäusern mit Miniaturbalkonen nicht. Selbstverständlich fehlt die Kathedrale nicht. Vom Turm aus kann man die kompakt gebaute Kleinstadt wie ein mit roten Ziegeln kariertes Biotop in der trockenen Landschaft der oberen Rioja erleben. Der Pilgerweg führt schnurstracks durch den Ort.
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Im Refugium: (Schuh)ordnung muss sein
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Ab morgen betreten wir die autonome Region Castilla y León, und das für einige Zeit, ist diese doch mehr als zweimal so gross wie die Schweiz.
4.9.
Santo Domingo de la Calzada – Belorado (2’019 EW); 23.5 km; 6 h 5’; 2603 Kcal
 
Die Tagesleistung beträgt etwa zwei Kilometer mehr, da wir frühmorgens falsch loslaufen. Stoppelfelder reihen sich aneinander und gehen übergangslos von Rioja nach Castilla y León über.
 
Beim Frühstückshalt treffen wir Ryoko und Yoko. Ryoko, die jüngere der beiden Japanerinnen schliesst sich mir an, während Yoko Michiko allerhand spannendes über ihren Beruf als Beraterin in Lebensfragen zu berichten weiss. Sie hat eine esoterische Ader, kennt sich aber in vielen Wissensgebieten aus, so auch in der christlichen Gnosis. Ryoko ist eine ihrer Kundinnen. Diese ‚weiss’ deshalb, dass sie bis in etwa zehn Jahren endlich den Mann fürs Leben finden wird. Gemäss Ryoko dürfte das ruhig etwas schneller gehen. Bei ihrem Schäkertalent und den grossen Augen vorstellbar. Sie lässt mich Japanisch radebrechen, statt ihr Englisch zu bemühen. Voraus eilend können wir den ersten Regen auf der Reise knapp abwenden. Die beiden ‚light Pilger’ nehmen morgen, da es in die Berge geht, den Bus Richtung Burgos. Da wir bis dahin per pedes zwei Etappen benötigen, gibt es wohl kein Wiedersehen mit den zwei Single Frauen.
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Mit Yoko und Ryoko
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Auch mit Juan José aus Malaga tausche ich mich ein Halbstündlein aus, weil wir etwa die gleiche Schrittkadenz haben. Der 71-Jährige ist seit sieben Jahren Witwer und seit anfangs Jahr pensioniert. Er war Flugzeug-Ingenieur und in dieser Zeit in vielen Ländern tätig. Nach seiner Aktivzeit betreute er noch Flugsimulatoren. Seine erste Priorität im Ruhestand bleibt der Camino, weil er gläubiger Christ sei.
 
In Belorado ist Fiesta angesagt. Die Menschen tanzen und trinken in den Bars und auf der Strasse. Gemeinsames Markenzeichen ihrer Uniform: Die beiden Hosenbeine müssen unterschiedliche Muster aufweisen.
5.9.
Belorado – Atapuerca (196 EW); 30.3 km; 7 h 36’; 2701 Kcal
Heute ist ein windiger Tag. Schier fünfzig Mal wäre meine Mütze unwiederbringlich davon geflogen, wäre sie nicht an meiner Jacke festgezurrt. Angesagt ist Regen und wir hoffen, möglichst lange davor verschont zu bleiben. Daher tauchen wir schon kurz nach halb sechs Uhr früh in die finstere Nacht ein. Der 1162 m hohe Oca-Berg ist die pièce de résistance. Hier zahlt es sich aus, dass Michiko kürzlich den Pilatus bestiegen hat. Beim Aufstieg bekundet sie weniger Mühe, als beim anschliessenden Abstieg. Auf der Kuppe verläuft der Camino stundenlang in einer Brandschneise des Oca-Waldes, was topografisch nicht besonders abwechslungsreich ist.
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Camino durch Feuerschneise auf dem Oca-Berg
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Daher sinniere ich darüber nach, woher eigentlich der Wind kommt. Im Grunde windet es nicht, sondern die Erde dreht sich im Eiltempo um ihre eigene Achse. Die Atmosphäre schwebt über dem Festland und Meer und sieht keine besondere Veranlassung, die Rotation mitzumachen. Und schon haben wir Wind. Wenn die Luftmassen gegen einen Bergzug prallen, oder auch gegen eine der Tausenden Windkraftwerke hier in Spanien, gegen Michiko und mich am heutigen Tag, so bremsen die Winde die Erdkugel jedes Mal ein kleinwenig ab. Sie dreht sich also immer langsamer. Die Tage werden länger. Das braucht uns nicht zu beunruhigen, denn es macht vielleicht eine Sekunde aus in hundert Jahren. Und wir Menschen haben uns längst daran gewöhnt, dass wir nicht so sehr darauf achten, was in hundert Jahren sein wird. Immerhin spielen wir eine Rolle auf unserem Planeten, wenn auch lange nicht jene, die wir uns gelegentlich einbilden.
 
Gerade Atapuerca lehrt uns einiges über die Relativität des Menschen im Kosmos. Hier wurden 800’000 Jahre alte Knochenreste des Homo antecessor gefunden, dem Vorgänger des Homo sapiens. Die Ausgrabungsstätte ist UNESCO-Kulturerbe der Menschheit. Wir kommen mit etwas Glück in den Genuss einer archäologischen Führung am Fundort. Die Erläuterungen sind auf Spanisch und betreffen die Fundstelle und die Wichtigkeit der bisherigen Ausgrabungen. Die ca. 200 Archäologen haben bisher erst etwa fünf Prozent des Gebietes erforscht. Anhand von Nachbildungen wird der Unterschied zwischen dem Homo Neandertal und dem Homo antecessor erklärt. Die verschiedenen Fundorte können besichtigt werden. Ein Film rundet den Ausflug ab. Mehr auf
www.fundacionatapuerca.com
www.atapuerca.com
www.atapuerca.tv
Vielleicht nicht mehr als ein netter Zufall, dass seit Tausend Jahren Hunderttausende über den Jakobsweg pilgern in einer Region, wo vor Jahrhunderttausenden bereits Migration-Ströme von Tieren stattfanden. Ob der ‚erste Europäer’ sich von den Tieren bereits abgesetzt hatte?  Beweise, dass er intelligent gewesen ist, fehlen. Bislang keine Funde von Keramik oder Feuerstellen, bloss ein paar primitive Steinwerkzeuge.
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Atapuerca – anatomische Unterschiede zwischen Homo ancessor und Homo Neandertal
 
 
6.9.
Atapuerca – Burgos (166’190 EW); 23 km; 5 h; 1191 Kcal
 
Regentag, aber wir sind schon um 11 Uhr in Burgos in einem Hostal (einfache hotelähnliche Unterkunft) mit Balkon und Sicht auf die Kathedrale. Aus irgendwelchen Gründen sind wir um halb sechs Uhr aufgebrochen. Angel aus Madrid ist als erster aus dem Bett gekrochen und als Michiko sein Fehlen entdeckt, beginnt sie unsere Sachen zu bündeln. Bald bewähren wir uns als Pfadfinder, müssen wir doch die Strassenecken mit Stirnlampen nach den gelben Pfeilen absuchen. Angel ist hinter uns gestartet, holt uns aber bald ein und wir machen gemeinsame Sache bis Burgos. In Intervallen regnet es heftig. Wir müssen erstmals die Regentauglichkeit unserer Ausrüstung unter Beweis stellen. Nach dem Aufstieg auf 1078 m, wo der lehmig nasse Boden unsere Standfestigkeit prüft, gibt es am Fuss der andern Hügelseite kaum mehr einen markierten Camino. Wir suchen den Weg ins Zentrum in einem zweistündigen Marsch durch die Strassen der Vororte und Burgos’ selbst. Für den 35-jährigen Angel endet der Camino in Burgos, da er ab Montag wieder als Informatiker in Madrid zurück erwartet wird. Er wird den Pilgergang bei seinem nächsten Urlaub in Burgos fortsetzen wie viele seiner Landsleute ebenfalls. Sein Körpergewicht von 120 kg macht ihm insofern zu schaffen, als er ein paar enge Stunden im Autobus vor sich weiss. Sein Vater hat den Camino letztes Jahr ebenfalls geschafft und ist nach der Pensionierung in vier Monaten alleine von Granada nach Rom gewandert.
 
Die Catedral de Santa Maria von Burgos ist für uns eines der schönsten Gotteshäuser weltweit. Dieses gotische Bauwerk gehört zu Recht zum Weltkulturerbe, wobei diesem Label allmählich inflatorische ‚Jekami-Bedeutung’ zukommt. Es begeisterte uns schon im Vorjahr auf einem Ausflug von Salamanca, wo wir einen Intensivkurs in Spanisch machten. Damals sahen wir die mit Stöcken bewaffneten Pilger vorübergebeugt an uns vorbei schleichen. Jetzt gehören wir selber zu dieser Gilde und uns kümmern die Blicke der Touristen nicht, die in Autobussen herbei gekarrt werden. Uns verbleiben 506 km bis Santiago de Compostela.
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Burgos – Catedral de Santa Maria
Burgos – Catedral de Santa Maria – Escalera dorada (Goldene Treppe)
 Burgos – Catedral de Santa Maria – Seitenkapelle
. Burgos – Catedral de Santa Maria in der Abendsonne

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