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7.9.
Burgos – Hontanas (65 EW); 30.7 km; 7 h; 2220 Kcal
Grenzenlos blauer Himmel. Ausgangs von Burgos formiert sich eine Prozession von Pilgern. Wenn das nur gut geht. Wir befürchten, dass die meisten wie wir nach Hontanas strömen, ein Dorf mit 65 Einwohnern. Die Deutschen stellen eine wichtige Minderheit unter den Wanderern dar. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen, bedeutet einen Initialaufwand, den sie selber kaum leisten. Einer, der den Camino zum zweiten Mal macht, diesmal ohne seine Frau, klärt mich über den Massen-Exodus auf. Das neu eröffnete Pilgerhaus in Burgos entlässt seine Besucher frühestens um sieben Uhr, so dass es jeweils zu einem Massenstart kommt. Alle scheinen um die beschränkten Beherbergungsmöglichkeiten zu wissen, deshalb ziehen manche los wie die Feuerwehr. Bei der Zwischenverpflegung unterwegs werden sie wieder überholt. Daraus ergibt sich eine gewisse Taktik. Die Italiener senden ihr Küken Laura (17) voraus, wie es scheint mit den Pilgerpässen der ganzen Gruppe. Aber sie besitzt nicht die nötige Ausdauer und fällt bald ins ‚Feld’ zurück.
Michiko hat erstaunliche konditionelle Fortschritte gemacht. Ich glaube kaum, dass die junge ‚AHVrau’ eine gleichaltrige zu fürchten braucht. Und sie ist selbst überrascht und stolz auf ihre Leistung. Jetzt, wo die schier unendlichen Flachetappen anstehen, fürchtet sie die 30 km pro Tag nicht mehr. In dieser Beziehung wird heute auf der ersten Streckenhälfte topografisch noch etwas Abwechslung geboten, obwohl die Stoppelfelder dominieren.
Und was denkt man die ganzen langen Stunden während des Marschierens? Man sinniert vor sich hin. Man grüsst vertraute Gesichter, plaudert mit einigen, wenn einem zu Mute ist. Es ist halt ein Vorteil, wenn man mehrere Sprachen beherrscht.
Obwohl ich über dreissig Berufsjahre kein Spanisch brauchte, bereitet mir diese Sprache keine Mühe. Ich verdanke dies meiner Literaturprofessorin Alicia Correa von der UNAM in Mexiko-Stadt. Sie liess ihre Studenten täglich schriftliche Analysen lateinamerikanischer Kurzgeschichten schreiben. Es war aber ihr Wesen, ihr Charisma, welches drei ihrer Studenten zu Höchstleistungen trieb, einen US-Amerikaner, einen Dänen und mich. Keiner von uns gab sich mit einer Note unter excelente, vortrefflich, zufrieden. Wer einmal ‚nur’ eine muy bien, sehr gut, kassierte, versorgte sein Papier behände unter dem Pultdeckel. Als der Student mit der weitaus schlechtesten Vorbildung kauerte ich vier bis sechs Stunden am Abend über meinem Pequeño Larousse, um überall das zutreffende Adjektiv, die ausgefeilte Wendung zu finden. Erst am Ende des Semesters wagte ich, was die andern beiden Streber zu gerne getan hätten: Ich lud Alicia in den Ausgang ein. Und sie beschied mir, dass sie erstmals seit acht Jahren eine männliche Einladung angenommen habe. Sie sei kurz verheiratet gewesen, ihr Mann habe sie auf der Hochzeitsreise geschwängert, aber sie habe in dieser Zeit auch herausfinden müssen, dass er schon verheiratet war, was im Mexiko der Siebzigerjahre offenbar möglich war. Alicia mit Doktorhut in spanischer Literatur liess sich auf der Stelle scheiden und zog ihren Sohn als allein erziehende Mutter auf. Noch im Flugzeug zurück nach Europa und ohne Wörterbuch zur Stelle schrieb ich Alicia einen Brief Adiós América, worin sie verklausuliert vorkam. Sie war so angetan von meinen Zeilen, dass sie mich um Erlaubnis ersuchte, den Brief in der neu gegründeten Publikation für ausländische Studenten der Nationaluniversität zu veröffentlichen. Dagegen hatte meine Eitelkeit allerdings nichts einzuwenden, wenn sie mir nur ein Exemplar zukommen liesse. Und tatsächlich, in der Nummer 1 auf der Frontseite stand mein Adiós América. Und auf Seite drei dann eine recht philosophische Gegenüberstellung der Charaktere Hitlers und Don Quijotes, verfasst von meinem amerikanischen ‚Nebenbuhler’.
Die hohe Motivation von vor 33 Jahren zahlt sich nun erstmals aus. Wenn allerdings italienisch gefragt ist, so greife ich auf mein Jahr in Chiasso zurück, noch vor meinem Mexiko-Aufenthalt. Dass sich die beiden ähnlichen Sprachen gelegentlich ins Gehege kommen, scheint nicht zu stören, die Transalpinen sind froh, nicht selber ‚ausländisch’ reden zu müssen. So ergeht es dem italienischen Ehepaar Ottavio und Teresa, dem wir heute wieder einmal begegnet sind. Wir haben es seit unserem ‚Schlaf unter den Sternen’ in Torres del Rio vermisst. Im Gegensatz zu uns wandern sie im Gleichschritt und nehmen längere Auszeiten, um sich aus dem Rucksack zu verpflegen. Sie bleiben noch bis León, denn den Camino von dort bis Santiago haben sie bereits im Vorjahr gemacht.
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Rasten mit den Italienern
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In Hontanas können wir für 25 Euros ein Doppelzimmer belegen, ein neues Zimmer mit Dachschräge und Skihütten-Romantik. In einem Ort mit 65 Einwohnern ebenso ungewohnt, wie der Audi Q7, der an einer der wenigen Strassenecken parkiert steht. Vermutlich ein Wochenend-Aufenthalter, nehmen zwei Teenager aus Burgos an, welche bestätigen, dass dieser Ort kein Schulhaus besitzt.
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Hontanas – Skihütten-Romantik im Doppelzimmer
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8.9.
Hontanas – Boadilla del Camino (175 EW); 29.7 km; 6 h 23’; 1544 Kcal
Meine Polar-Uhr, da Montag, zeigt an, dass ich vergangene Woche 511% meiner Vorgabe erfüllt habe, die Steigerung erklärt sich durch einen zusätzlichen ‚Arbeitstag’.
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Camino-Alltag mit der Sonne im Rücken
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Wieder ein Teilstück durch Stoppelfelder, welche die umliegenden Hügel wie Dünen aussehen lassen. Keineswegs so langweilig, wie im Reiseführer beschrieben. Ausserdem wieder Sonnenschein mit sanftem Wind, ideal fürs Wandern. Heinz aus Deutschland macht den Camino zum vierten Mal und weiss immer noch nicht warum. So mache ich mir ebenfalls keine Anstrengung in dieser Richtung. Heinz kann auch nicht sagen, weshalb viele seiner Landsleute morgens an einem vorüber gehen, so, als ob es uns nicht gäbe. Einen Bayer spreche ich darauf an. Er meint, er hätte doch bereits einmal gegrüsst und er brauche sich nicht zu wiederholen. Dabei war er im Schutz der Dunkelheit nach vorn geprescht, ohne eine Schnurre aufzutun. Ihm und einigen andern bleiben ja noch ein paar hundert Kilometer zum Überlegen. Sonst keine Bahn brechenden neuen Erkenntnisse. Wir sind auch nicht böse, dass wir eine halbe Stunde früher als erwartet am Tagesziel eintreffen. Ich springe sogleich ins Schwimmbecken, das im Garten der Herberge, da ungeheizt, sonst niemanden anlockt.
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Boadilla del Camino – Herberge mit Swimming Pool
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Was geschieht bei Ankunft an einem Etappenziel? In aller Regel liegen die Pilgerherbergen direkt am Camino, oder der Weg dahin ist durch entsprechende Hinweistafeln und gelbe Pfeile am Boden deutlich gekennzeichnet. An gewissen Orten wird um die Pilger gebuhlt. Als erstes zeigt man seinen Pilgerpass (credencial) und erhält den Stempel des Hauses und das Datum der Ankunft eingetragen. Der Preis für das Übernachten liegt zwischen 3-6 Euros. Man sucht sich ein Bett aus oder besetzt eins, das noch frei ist. In den ersten Nachmittagsstunden denkt Michiko jeweils als erstes an das Waschen der verschwitzten Klamotten. So wird alles trocken bis die Sonne untergeht. Ich mache in dieser Zeit meine schweissnassen Notizen des Tages. Gegen drei Uhr essen wir ein Dreigangmenü, im Haus oder Dorf. Dann ruhen wir uns aus, bis um 17:00 Uhr die Siesta zu Ende geht. Danach besorgen wir das Nötige für den Folgetag, den wir vorgängig planen. Nach einem leichten Nachtessen machen wir unsere Rucksäcke soweit möglich reisefertig, denn ab 22 Uhr ist offiziell Ruhe verordnet.
9.9.
Boadilla del Camino – Carrión de los Condes (2’386 EW); 25.5 km; 5h 30’; 1834 Kcal
Tag der Erleuchtung! Wie üblich beginnt frühmorgens im Dunkel des Schlafsaales ein emsiges Kommen und Gehen. Taschenlampen blitzen auf. Aber es ist das Wetterleuchten draussen, welches das stumme Thema der Frühaufsteher bildet. Beim Verlassen der Herberge prasselt der Regen derart heftig nieder, dass alle den Rückwärtsgang einlegen. Manche retten sich in den Frühstückssaal, um Zeit zu kaufen.
Der Regen stoppt tatsächlich, die Strassen trocknen schnell ab und wir beginnen unsern Marsch in die baumlose, pechschwarze Weite. Wetterleuchten begleitet uns, ohne dass man das Donnergrollen einem bestimmten Blitz zuordnen kann. Aber es scheint bald klar, dass wir uns in Richtung Gewitterherd bewegen. Blitz, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig…kaum ein Kilometer vor uns entlädt sich ein Gewitter. Und schon kübelt es wieder. Kein Haus in Sicht. Die Nacht wird immer häufiger für Sekundenbruchteile zum Tag, die Donnerschläge folgen den bizarren Blitzzacken auf dem Fuss. Dort, ein kleines Steinhäuschen am Wegrand! Gedanken an einen Faradayschen Käfig. Aber dazu müsste die Tür offen sein. Die riesigen Pappeln flössen auch kein grosses Vertrauen ein, wenn sie im Blitzgewitter wie schwarze Drohfinger gen Himmel zeigen. Wir erreichen den 207 Kilometer langen Canal de Castilla. Hoffnung keimt auf, dass er Zeus’ Keulen anzieht und uns verschont. Meinen nassen Pilgerstab halte ich bereits seit einer Weile in der Horizontalen, um kein Argument für die Blitze zu sein. Instinktiv haben wir vier oder fünf Frühaufsteher in Abständen voneinander zu marschieren begonnen. Man nennt das Risikostreuung.
Wie um einen Anflug von Angst zu unterdrücken, beginne ich damit, das wunderbare Gedicht von Hermann Hesse vom Wandern im Nebel zu verballhornen, indem ich den Nebel mit dem Regen tausche:
Seltsam, im Regen zu wandern!
Bachnass ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum schützt den andern,
Jeder trieft allein.
Voll von Freuden war mir die Welt,
als noch mein Rucksack dicht war,
Nun, da der Regen fällt
Stellt er Mehrgewicht dar.
Wahrlich, keiner ist weise,
Der dem Regen nichts abgewinnt
Selbst dann, wenn er leise
Vom Nacken zum Po nieder rinnt!
Heilsam, im Regen zu wandern!
Regenwasser muss sein,
Sonst welkt neben andern
Das Heideröslein!
(Für Ästheten, hier das Original Im Nebel, von Hermann Hesse):
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den anderen,
Jeder ist allein.
Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war,
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise.
Von allen ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist einsam sein.
Kein Mensch kennt den anderen,
Jeder ist allein.
Wären wir doch in der Herberge geblieben, dieser paradiesischen Oase inmitten vieler dem Verfall anheim gestellter Hütten der Siedlung, die nicht einmal einen Dorfladen besitzt! Wo ich gestern voller Stolz ins ungeheizte Schwimmbecken sprang, sicher, die Blicke der bereits eingetroffenen Pilger auf meine vielleicht doch ein wenig abgespeckten Lendenrundungen gerichtet zu wissen. Sollte dies das letzte Refugium gewesen sein?
Alternativ trällere ich: „… in Gewitternacht und Grauen…“ finde aber den Schweizerpsalm für meine Marschkadenz ungeeignet.
Langsam zeigt sich, dass die Gewitterzone sich seitwärts verschiebt. Wir treffen im nächsten Dorf ein, trinken eine Kola im Stehen, da die Unterhose wie eine zweite Haut auf dem Po klebt.
Wie durch ein Wunder hellt der Himmel auf und wir finden nach dem Auftakt des Morgens, dass der folgende, wie mit einem Lineal gezogene, zehn Kilometer lange Pilgerweg durchaus erholsam sein kann. Jene, die zwei Stunden später aufgestanden sind, kamen um ein paar emotionale Minuten herum. Nicht jeder erlebt halt die Erleuchtung gleichzeitig und auf die gleiche Art.
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Störche beleben viele Kirchtürme, hier in Carrión de los Condes
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10.9.
Carrión de los Condes – Terradillos de los Templarios (90 EW); 27.9 km; 6 h 12’; 2222 Kcal
Eine Ultraflach-Etappe unter einem hellblauen Himmel. Auch der Planet flach bis zur Erdkrümmung, wo ein grünes Band den Übergang von der strohgelben Erde zum Universum markiert. Wie an einer lückenhaften Perlenkette gewahrt man die Pilger auf dem Original-Pilgerweg. Stundenlang keine Bars oder Schattenplätze. Ansatzweise sind Bäume gepflanzt worden, welche in absehbarer Zeit Schatten spenden sollen. Wer hier leidet, leidet gehörig. Man erkennt sie am Gang oder am Wegrand hockend. Wir sehen kaum noch bekannte Gesichter, es scheint, dass viele ab Burgos neu in den Camino eingestiegen sind. Mehr als Trost spenden können wir nicht. Es hülfe wenig, ihnen zu bekunden, dass ich nach wie vor keinerlei Beschwerden an den Füssen habe. Michiko wechselt wie gewohnt bei Halbzeit von Wanderschuhen in Sandalen.
Camino de Santiago – Manchmal herrscht Gegenverkehr
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11.9.
Terradillos de los Templarios – Bercianos del Real Camino (208 EW); 23.4 km; 5 h 20’; 1226 Kcal
Leichtes Teilstück. Kurz genug, um uns vor dem drohenden Regen in eine Herberge zu retten. Einige Mitbewohner in unserer gestrigen Herberge sollen sich Lebensmittelvergiftungen zugezogen haben. Eine Brasilianerin wird unterwegs zum nächsten Ziel von der Ambulanz abgeholt. Andere klagen über Erbrechen. Wir selbst haben dort zwei Mahlzeiten ohne Probleme zu uns genommen.
Obwohl wir uns, wie erwähnt, auf einem topografisch anspruchslosen Parcours befinden, melden Rolf und Horst, zwei Deutsche, dass sie heute unheimlich Mühe haben. Sie bekunden unverhofft grosse Schmerzen im Schienbein.
Heute nehmen wir Abschied von Teresa und Ottavio, einem ruhigen italienischen Ehepaar in unserem Alter. Seit Torres del Rio haben sich unsere Wege oft gekreuzt; es brauchte einige Zeit, bis wir vom kurzen Gruss ein paar weitere Worte wechselten und endlich die Namen tauschten. Sie fahren ab León mit der Eisenbahn zurück nach Saint-Jean-Pied-de-Port, wo sie ihren Camper stationiert haben. Sie bedauern, auszusteigen, obwohl sie den restlichen Camino bis Santiago im Vorjahr absolviert haben. Der Abschied ist ganz rührend. Teresa ist Lehrerin, Ottavio arbeitet in der Privatwirtschaft und steht ein Jahr vor der Pensionierung.
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Ottavio & Teresa arrivederci
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Bercianos del Real Camino hat 208 Einwohner. Das Dorfbild gleicht dem vieler Siedlungen am Camino. Die meisten Strassen und Gassen sind bis in die Hinterhöfe geteert und zwanzigfach geflickt worden. Ein Auto steht etwa alle hundert Meter. Hauswände aus Backstein lösen solche aus Adobe ab. Die Fassaden sind bündig zusammen gebaut, ohne Zwischenraum, jedoch nicht immer geometrisch gerade ausgerichtet. Die Dächer sind geneigt, ziegelrot oder verbleicht. Fernsehrechen darauf, auch wenn als störend empfunden, verraten, dass die Häuser bewohnt sind. Irgendwo wird an einem Haus Mörtel aufgetragen. Ausgediente Stützbalken, auf ein paar Backsteine gelegt, dienen vor einigen Häusern als ‚Bänkli vor dem Hüsli’. Balkone besitzen die zweistöckigen Wohnungen nicht, alle Fenster sind jedoch mit schmiedeeisernen Verzierungen geschützt. Ein paar Alte gehen an Stöcken. Die Inhaberin des Dorfladens beteuert jedoch, dass es im Dorf auch fünf schulpflichtige Kinder gebe, dazu fünf Kleinkinder. Bei ihr sind die Dorfneuigkeiten gebündelt. Sie berät ihre Kundschaft gelegentlich auch in Lebensfragen.
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Sonnenuntergang bei Bercianos del Real Camino
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In der einzigen Herberge des Ortes werden wir auf den Abendgottesdienst aufmerksam gemacht. Ein halbes Dutzend Pilger folgen der Einladung. Am Ende werden wir Pilger vor den Altar gebeten und erhalten den Pilgersegen. Der Dorfgeistliche spricht auch ein Tischgebet beim gemeinsamen Abendessen danach. Morgens werden wir nach dem Frühstück entlassen, welches wie der ganze Aufenthalt von freiwilligen Spenden der Pilger lebt.
12.9.
Bercianos del Real Camino – Mansilla de las Mulas (1’754 EW); 26.5 km; 6 h 15’; 1658 Kcal
Unglaubliche 26 Kilometer, nichts als Ebene. Das Gefühl, dass der Horizont in einer Marschstunde erreicht werden könnte. Ideale Wanderbedingungen, der Wegrand alle zehn Meter mit einem Ahornbaum bepflanzt. Wo diese Laubbäume noch jung sind, werden sie von einer unterirdischen Bewässerungsanlage genährt. Wo sie ausgewachsen sind, spenden sie lückenlos Schatten.
Heute weht ein herbstlicher Wind, so dass ich meine rote Windjacke auf mir trage. Das verrät mich den zwei Japanerinnen Yoko und Ryoko, welche uns von weit hinten erkennen und wie verzückt aufschliessen. Zwei Tagesetappen vor Burgos hatten sie den Bus genommen und jetzt finden wir uns wieder! Plaudernd vergehen die Stunden. In Reliegos machen wir Mittagshalt. Ein älterer Niederländer bietet sich an, uns alle vier mit meiner Kamera einzufangen. Michiko bedankt sich und will die Kamera wieder entgegen nehmen. Der Fotograf fragt kurz, ob sie denn ihr oder mir gehöre. „Spielt keine Rolle, diese Frau gehört ebenfalls mir“, frotzele ich. „Glücklicher Mann!“ findet er zu Recht.
Die Wände des kleinen Patios (Innenhof) unserer Herberge sind mit Geranien behangen. Laura versieht ihren Job als Hospitalera (Verantwortliche für eine Herberge) mit viel Humor und Corazón (Herzblut). Das Gästebuch legt beredtes Zeugnis ab von dankbaren und begeisterten Besuchern.
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Linda, eine Koreanerin, welche seit Tagen dieselben Strecken hinter sich bringt, wenngleich sie jeweils Stunden später eintrifft, kocht koreanisch. Beef kann sie im Dorfladen nicht auftreiben, Eier hat sie sechzehn Stück eingekauft, der kleinsten erhältlichen Einheit.
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Mansilla de las Mulas – mit Linda im Patio der Herberge
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Auf dem Hauptplatz werden die Lautsprecher getestet für die viertägige Fiesta de la Virgen de la Gracia (Jungfrau des Dankes), der Schutzpatronin der Stadt.
Auch Roberta, Cristina und Laura sind hier stecken geblieben. Sie hatten vorgehabt, bis León durchzulaufen. Die bedauernswerte Laura (17) ist immer noch gezeichnet von den Nachwirkungen einer Magenverstimmung in Terradillos de los Templarios. Alle drei hätten dasselbe verzehrt, nur sie hat es erwischt.
Gewisse Leute fordern mir besonderen Respekt ab. Anton aus Oberösterreich hat die Strecke Linz – Santiago vor zwei Jahren zu Fuss gemacht und berichtet über seine Erfahrungen auf dem Schweizer Abschnitt (Einsiedeln, Flüeli-Ranft, Brünig, Fribourg). Er unternahm die Reise aus Dankbarkeit, einen Unfall mit Lähmungen als Folgeerscheinung erfolgreich gemeistert zu haben. Heute bleibt der bärtige Schweiger jeweils nicht lange auf gleicher Höhe mit andern Pilgern, er gibt Gas, wie er sagt, und zieht von dannen. Dieses Jahr hat er eine Zeit lang als Hospitalero in der Casa Austria in Los Arcos verbracht und wiederholt den Camino de Santiago von dort aus.
13.9.
Mansilla de las Mulas – León (130’916 EW); 17.3 km; 3 h 45’; 828 Kcal
Würde man sich auf 30 Kilometer einstellen, man wünschte sich nicht inniger, am Ziel zu sein. Schon kurz nach Aufbruch kommen wir in die weitere Agglomeration von León, was das Wandern nicht abwechslungsreicher macht. Trotz Samstag, viel Verkehr. Erstmals stört mich die schlechte Luftqualität. Unterschlupf finden wir in der städtischen Jungendherberge etwas ausserhalb der Altstadt. Dafür ist sie 24 Stunden zugänglich und wir finden für ein paar zusätzliche Euros ein Doppelzimmer. Drei Schweizer Jugendliche kommen offenbar gerade erst vom Ausgang nach Hause, als wir morgens schon unsere Ranzen packen und weiter ziehen. Wir haben León bereits letztes Jahr von Salamanca aus besucht und sind auch diesmal wieder entzückt von der Catedral de León und ihren Glasmalereien, welche eine Gesamtfläche von 1900 m2 bedecken sollen.
Catedral de León – Glasmalereien