Camino de Santiago Ein weiterer Blogs Blog

7. Oktober 2008

Saint-Jean-Pied-de-Port – Burgos

Filed under: Allgemein — Joe @ 13:12
Jakobsweg nach Santiago de Compostela: Zu Fuss mit Rucksack 800 km in 31 Tagen
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25.8.08
Die Anreise
Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Trotz dieses Gemeinplatzes stellt sich die Frage, welches der erste Schritt ist. Das Durchstöbern eines Katalogs, das Buchen der Reise oder erst das Verlassen des Hauses.
 
Während unser TGV eher bedächtig durch die Neuenburger Weinberge Pontarlier zu gleitet, glauben wir, unsern ersten Schritt noch vor uns zu haben. Ein Doppelzentner schwerer Schritt, angesichts unserer prall gefüllten Rucksäcke, deren Riemen noch einige Stunden lang vom Gepäckabteil über unsern Sitzen baumeln.  
 
Umsteigen in Paris von der Gare de Lyon zur Gare de Montparnasse in knapp einer Stunde: Etwas für die Fitness. Es mangelt nicht an Möglichkeiten, sich zu verirren, eine Direktverbindung zwischen den beiden Bahnhöfen gibt es nicht. Nach kurzem Anstehen für die Fahrkarten winden wir uns durch die richtigen Katakomben, der Metrozug steht schon dort, ein Satz, ich bin drin und Michiko zur Hälfte. Ihr Rucksack klemmt zwischen der Tür-Guillotine. Sie rupft und zupft mit Leibeskräften und stürzt schliesslich mitsamt Rucksack kopfüber in die stehenden Fahrgäste, kommt wieder hoch, der Zug beschleunigt, die taumelnde Touristin wird nach links und rechts durchgereicht. Doch bereits beim ersten Halt in Châtelet heisst es umsteigen, aber jetzt besitzen wir etwas Erfahrung im Ellbogen einsetzen. Wir sind noch keine gezähmte Pilger.
 
Für die nächsten drei Stunden erholen wir uns wieder im TGV nach Bordeaux. Dort stehen abschliessend eindreiviertel Stunden Regionalzug bis Bayonne auf dem Tagesprogramm. Die Anreise nach Saint-Jean-Pied-de-Port, dem Ausgangspunkt unseres Pilgermarathons, müssen wir aus fahrplantechnischen Gründen auf morgen verschieben.
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Ein ganzes Netz von Jakobswegen führt in den Camino (rot)
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26.8.
Saint-Jean-Pied-de-Port – Roncesvalles (28 EW*); 24.8 km; 6h 36’ Marschzeit; 3551 Kcal
 
*)alle Einwohnerzahlen (EW) und Kilometerangaben sind dem ROTHER WANDERFÜHRER, Spanischer Jakobsweg, Ausgabe Frühjahr 2007, entnommen. Die Kilokalorien werden von meiner PolarUhr anhand der Herzfrequenz errechnet.
Nach einer guten Bahnstunde treffen wir in Saint-Jean-Pied-de-Port ein, einem 1500-Seelenort auf 163 m über Meer, mit UNESCO-Weihe als Weltkulturerbe. Der erste Zug des Tages entlässt zur Hälfte Rucksacktouristen, welche sogleich der Altstadt zuströmen. Emma aus London strahlt uns an mit der Frage, ob sie sich uns anschliessen dürfe. Wir beabsichtigen die leichtere von zwei Übergängen über die Pyrenäen zu wählen und empfehlen ihr, sich woanders anzuschliessen.
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Saint-Jean-Pied-de-Port (F) Ausgangspunkt zum Jakobsweg nach Santiago de Compostela
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An der Empfangsstation der Pilger werden wir zuvorkommend behandelt und mit Informationsmaterial versorgt. Man will uns die anstrengende Route Napoléon zum Bezwingen der Pyrenäen schmackhaft machen. Da wir erst gegen zehn Uhr aufbrechen können, möchte ich meiner Frau den Lepoeder-Pass mit dem Kulminationspunkt auf 1430 m nicht zumuten, sondern auf unserer ersten Etappe auf der Schlechtwetter-Route zum Puerto de Ibañeta auf 1057 m aufsteigen. Im Nachhinein erweist sich meine Überlegung vielleicht als falsch, denn unser markierte Weg steigt keineswegs regelmässig entlang der Autostrasse zum Pass auf, sondern gefällt sich in ständigem Auf und Ab, was uns unter Umständen mehr Höhenmeter abfordert als die Schönwetter-Route. Und wir sind den ganzen Tag alleine unterwegs.
 
Der moralische Tiefschlag kommt mit dem Verlust meines kaum eine Woche alten Fotoapparates. Ob ihm, am Halse baumelnd, ein paar Schweisstropfen den Gong gegeben haben? Wie finde ich aus dieser Kalamität heraus?
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Camino im Aufstieg zum Pyrenäenpass nach Puerto de Ibañeta
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Die sechseinhalb Stunden Fussmarsch netto sind seit langem das Mühsamste, woran ich mich erinnere, obwohl ich kaum körperliche Müdigkeit verspüre. Michiko leidet jede Stunde mehr, auch weil uns zum Schluss die Getränke ausgehen.
 
Obwohl wir erst gegen sechs Uhr nachmittags in Roncesvalles eintreffen, finden wir für je sechs Euro eine Übernachtungsmöglichkeit in einer riesigen Halle, ähnlich einem Kirchenschiff, wo über hundert doppelstöckige Betten stehen.
 
Im Schlafsaal schräg nebenan winkt Emma, die zwei Stunden nach uns eingetroffen ist. Kaum hört sie von meinem Pech mit der Kamera, offeriert sie mir ihre, die sie aus unerfindlichen Gründen eingepackt habe, obwohl sie ausschliesslich mit ihrem Handy fotografiere. Ihr Model ist zwar nicht das neueste, etwas schwerer als meins, und es fehlt eine Batterie. 
 
Santiago de Compostela, 790
steht auf dem Strassenschild am Ausgang von Roncesvalles, dem Klosterdorf,  das weitgehend vom Pilgerwesen rund um den Jakobsweg lebt, 962 m ü. M.
 
27.8.
Roncesvalles – Zubiri (240 EW); 21.2 km; 1963 Kcal
Im Vergleich zum Vortag, ein Honiglecken. Wunderbarer Wanderweg, wenig Steigungen, Tagesziel 434 m tiefer gelegen als Ausgangspunkt. Verschiedene kleine Siedlungen und Dörfer laden zum Unterbrechen der Reise. Wir wandern zusammen mit Emma. Hunderte andere Pilger bevölkern denselben Abschnitt. Manche sieht man mehrere Male, am Wegrand oder in einer Bar. Ein spanisches Paar hat den Ausgangspunkt seiner Pilgerreise ebenfalls nach Saint-Jean-Pied-de-Port, also hinter die Pyrenäen, verlegt. Manche spanisch sprechende Pilger haben vermutlich Roncesvalles als Ausgangspunkt genommen.
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 Camino ab Roncesvalles: Morgenstimmung im Schutz von Laubbäumen
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Obwohl der Grossteil der heutigen Strecke im Wald verläuft, verleitet uns die Sonne am frühen Nachmittag in Zubiri zu bleiben und die Überführungsetappe nach Pamplona morgen etwas länger zu gestalten. Frühmorgens wandert es sich viel angenehmer.
28.8.
Zubiri – Pamplona (183’964 EW); 21.1 km; 5 h 20’; 1664 Kcal
Neuer Tag, neues Ungemach. Beim Umhängen des Rucksacks spüre ich einen Metallsporn in meiner rechten Hüfte. Eine Schnalle des Gurts um die Hüfte hat das Zeitliche gesegnet. Hilflos, verwünsche ich die Qualitätskontrolle der Migros, denn ich trage diesen Tornister erst ein paar Tage. Ich denke an meinen Dialog mit der Verkäuferin und werweisse, wie ich die kommenden Wochen mit dem Schaden umgehen soll. Ein paar Wegstunden später schwant mir die Möglichkeit, in diesen abgelegenen Dörfern vielleicht einen Sattler zu finden. Erst beim Kaffeehalt überlege ich, die Sache selber an die Hand zu nehmen. Braucht es den Camino, um nur schon die Idee des Do-it-yourself zu generieren? Michiko hat das Problem denn auch in fünf Minuten im Griff und schon stützt der Gurt den Tornister wieder.
 
Der Weg nach Pamplona verläuft grossteils im Schatten von Wäldern. Trotz einiger spürbarer Steigungen fällt er insgesamt bis in die Hauptstadt von Navarra. Da der Himmel am Vormittag vorwiegend bewölkt ist, bleibt uns die spanische Hitze erspart. Die Stunden verrinnen, bald erreichen wir die Magdalena-Brücke am Eingang von Pamplona. Unweit davon liegt die Casa Paderborn, eine von Deutschen geführte Herberge. Der Empfang ist herzlich und wir kriegen ein Zimmer mit zwei Doppelbetten. Ein niederländisches Ehepaar teilt den Raum mit uns. Wir geniessen gemeinsam das dreigängige Pilgermenü im nahen Club de Natación, incl. 2 Flaschen Tischwein und Wasser für total 44 Euros. Das betagte Ehepaar erzählt, wie es bei einer Etappe weniger als fünf Kilometer zurückgelegt habe und deshalb von der Leitung der Herberge unflätig gerügt worden sei. Man habe gedroht, es warten zu lassen, bis der letzte Pilger Einlass begehrt habe. Es ist bekannt, dass man selbst im Krankheitsfalle nicht zweimal am gleichen Ort bleiben darf, es wäre sonst möglich, sich preisgünstige Ferien zu erschleichen. Der Pilgerpass ist das Identifikationspapier des Pilgers, der Stempel und das Datum lassen kein Schummeln zu.
 
In Pamplona marschieren Michiko und ich als erstes die Ruta de los Encierros ab, den Streckenverlauf der alljährlichen Stierläufe um die St.Fermin-Tage (6.-14. Juli). Nicht erst, aber besonders seit Hemingway die Mutproben junger Männer literarisch verherrlicht hat, lassen sich tollkühne Touristen von verstörten Stieren der Stierkampfarena zutreiben und bleiben dabei auch mal auf der Strecke. Das Standbild des amerikanischen Schriftstellers steht passend vor der Plaza de Torros.
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Pamplona – Hemingway-Denkmal vor der Plaza de Torros
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Im Warenhaus El Corte Inglés schauen wir uns die Auswahl an Digitalkameras an. Eine junge Verkäuferin gesellt sich zu uns mit der Frage, ob wir Spanisch verstehen, damit sie vielleicht helfen könne. Nicht Spanisch, sondern die fehlende Auswahl sei das Problem, gebe ich ihr zu verstehen. Dann muss sie die Leidensgeschichte meiner geschlissenen Kamera anhören. Gleichzeitig setzt sie mir immer neue Modelle vor bis ich sage: „Señorita, ich bin Pilger, ich kann mir keinen Apparat über hundert Euros leisten!“ Sie verabschiedet sich kurz und kommt prompt mit einer sehr kompakten Nikon Coolpix zurück für 79 Euros. Nachdem ich die Speicherkarte von meiner unglücklichen Canon übernehmen kann, ist der Deal schnell abgeschlossen. Jetzt trage ich drei Kameras mit mir herum, denn Emma ist uns voraus gegangen.
 
29.8.
Pamplona – Obanos (785 EW); 20.3 km; 5 h 30’; ca. 2000 Kcal
 
Neu an der heutigen Etappe ist, dass wir eine Steigung von 250 m zu bewältigen haben, sowie die Tatsache, dass das grüne Laubdach der Vortage über dem Camino fast gänzlich fehlt. Wir sind erstmals der prallen Sonne ausgeliefert. Die Sicht vom Alto del Perdón (735 m ü. M.) in die abgeerntete Landschaft mit vorwiegend erdigen Gelb-Tönungen gegen das konkurrenzlose, milchig aufgemischte Blau des Himmels entschädigt für die Arbeit.
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Alto del Perdón – die Windkraftwerke gedeihen überall
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Ich empfinde das stundenlange Vorwärtsschreiten in der Tat als Arbeit. Nicht als etwas, das man ohne weiteres als Vergnügen bezeichnen würde, aber auch nichts, das man immer schon hinter sich wünschte. Wie weit es bis Santiago de Compostela noch ist, interessiert wohl erst, wenn die Restdistanz von der dreistelligen in eine zweistellige Kilometerzahl übergeht. Wie man auch als Zwanzigjähriger noch kaum an die Pension denkt.
 
Man kennt sich allmählich auf der Strecke, überholt und wird überholt. „¡Hola!“ oder „¡Buen Camino!“ sind die gängigen Grussworte. Unter den Pilgern ist neben Spanisch Englisch die am meisten verwendete Kommunikationssprache. Für junge Spanier soll der Erhalt der Compostela, der Urkunde nach beendigter Pilgerschaft, als gewichtige Referenz bei der Jobsuche gelten.
 
In Obanos mit seinen knapp 800 Einwohnern ist heute Feiertag. Klein und Gross trägt Weiss mit rotem Schal, sowie rotem Stoffgürtel, der auf der einen Seite beim Knie in geknöpfte Bändel ausläuft. Um fünf Uhr findet ein Radrennen für Junioren über 46 km statt, welches die Infrastruktur einer Landesrundfahrt imitiert. Top Material, mehr Autos und Motorräder als Sportler, Polizisten mit Imponiergehabe und schliesslich einen Sieger mit abgeguckten Posen bei der Einfahrt und Siegerehrung. Dass es bei Temperaturen, die sich wie vierzig Grad anfühlen auch Verlierer gibt, komplettiert die Inszenierung des Dorffestes. Ein schmächtiger Junior mit Hitzestau wird von seinen Angehörigen im Strassengraben gepflegt, während die Ambulanz mit Blaulicht abseits Präsenz markiert.
 
Nach Sonnenuntergang folgt ein Openair Konzert mit potenten Lautsprecheranlagen. Liedermacher unterhalten das lokale Publikum im Alleingang im Wechsel mit einer Band und Sängern, die mit Macho-Getue und Dezibels Aufmerksamkeit erheischen. Die Jüngsten ballern mit Spielzeug-Maschinenpistolen um sich. Für meinen Geschmack fehlt der Grillstand mit Wurst und Barbecue, denn am Feiertag ist alles geschlossen, bis auf das Restaurant neben unserer Herberge, das bloss Snacks anbietet. Als Pilger sind fast ausschliesslich Deutsche auszumachen, was den Verdacht zulässt, dass die Erwähnung Obanos’ im ROTHER WANDERFÜHRER Wirkung zeigt. Andere Nationalitäten sind nach dem Nachbarort Puente la Reina weiter gewandert.
30.8.
Obanos – Estella (13’024 EW); 26.8 km; 6 h; 2100 Kcal
 
Erneut ein Tag unter der Sonne. Um halb sieben Uhr morgens ist diese allerdings noch hinter dem Horizont und man sucht das Muschelemblem als Wegweiser mit Taschen- oder Stirnlampen. Es sei denn, man fragt die Einheimischen nach dem Camino. In Obano ist noch eine Disco in Betrieb, mit jungen Leuten, die den gestrigen Feiertag ins Wochenende hinein retten. In angeheiterter Stimmung wird „¡Buen camino!“ gewünscht, nicht ohne uns einen Becher mit unbestimmtem Inhalt hinzuhalten. An Schlaf war nicht zu denken, um halb zwölf stieg ein zwanzigminütiges Feuerwerk mit Böllern, die die Mauern erzittern liessen. Als Pilger mussten wir uns mit dem akustischen Teil des Spektakels begnügen, denn die Herbergen sind in der Regel um zehn Uhr geschlossen. Ich begab mich dennoch in den Garten und bekam die „Ah“ und „Oh“ aus erster Hand mit. Das Volksfest zog sich durch die Nachtstunden, wobei laute Musik und heiteres Stimmengewirr nicht Halt machten vor den Pforten unserer Herberge.
 
Ja und was tut man unterwegs zum nächsten Tagesziel? Man tauscht sich kurz mit andern Pilgern aus, geht alleine einher, pflückt und isst im Vorbeigehen ein paar von den kleinen, fruchtigen Brombeeren.
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Häufig am Wegrand – kleine fruchtige Brombeeren
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Die Kerne dieser Vitaminspender pflegen sich in den Zahnzwischenräumen zu verstecken, was der Zunge Beschäftigung verschafft bis zur nächsten Hecke. In den Ortschaften, die diesmal in idealen Abständen auftauchen, gönnt man sich einen Marschhalt bei einem Café con Leche, einem Milchkaffee oder Kolagetränk. Und man füllt die Wasserflasche für unterwegs. Sauber sind sie, diese Dörfer, harmonisch bettet sich etwa Cirauqui in die Hügellandschaft ein. Unentwegt fragt man sich, wovon die Bewohner leben. Da gibt es schmucke Häuser, nicht selten mit Blumen geschmückten Fenstersimsen. Davor stehen ansehnliche Mittelklassewagen, keine alten Blechkarossen.
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Cirauqui – harmonisch in Hügellandschaft eingebettet
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Im Nuevo Albergue Parroquial, wo Übernachten und Nachtessen gratis sind, beenden wir unser Tagewerk. Wir wollen einmal diese Schiene versuchen, wobei zu sagen ist, dass in diesen Lokalitäten sehr auf eine freiwillige Spende gehofft wird. In der Stadt selber verzweifeln wir anfänglich vor Durst, da wir um die Siesta-Zeit eintreffen, wo das Leben weitgehend still steht. Wer einen Getränke-Automaten vor seine Wohnung stellte, könnte reich werden. Ein Einheimischer gibt uns den entscheidenden Tipp. So eröffnet sich uns eine sehr anmutige Altstadt mit genügend Auswahl an Bars und Restaurants.
 
Über zwei andere Pilger in unserer Bleibe wird ruchbar, dass Emma sich nach uns erkundigt hat. Mittels Handy-Ortung finden wir sie abends am belebten Hauptplatz, so dass die Kamerarückgabe gelingt.
 
31. 8.
Estella – Torres del Rio (172 EW); 29.5 km; 8 h; 2478 Kcal
Einige Pilger haben mit physischen Problemen zu kämpfen. Emma, die uns bei einem Aufstieg überholt, klagt, dass sie nur unter grossen Knieschmerzen talwärts gehen kann. Ein junger Magdeburger hat sich mit einem Tagespensum von 40 km zuviel zugemutet und muss einen Tag aussetzen. Andreas, ein junger Sozialhelfer aus Klagenfurt hinkt bedenklich. Seine Probleme mit den Hüften lassen nur noch homöopathische Tagesportionen zu. Wir sind bisher von solchen Problemen verschont geblieben. Da zahlt es sich vielleicht jetzt aus, dass wir uns gründlich auf den Trip vorbereitet haben. Die Strecke Hergiswil – Luzern in der Heimat bewältigten wir Monate lang routinemässig zu Fuss, längere Märsche nach Engelberg und Sachseln machten uns Mut, Wanderungen auf den Bürgenstock und Pilatus festigten unser Stehvermögen am Berg. Schliesslich umrundeten wir als Härtetest den Vierwaldstättersee in vier Tagespensen.
Michiko hat die gewohnten Probleme mit ihrem Hallux. Nach jeweils drei Stunden Marschzeit wechselt sie deshalb auf Sandalen für die restliche Teilstrecke.
 
Heute beim Frühstück in der Herberge barst mein zweithinterster Backenzahn. Was mich mehr beunruhigt hätte, entspräche dies nicht der Voraussage meines Zahnarztes. Das fühlt sich mit der Zunge etwa so an, als hätte ich einen Mund voll dieser allgegenwärtigen Brombeeren am Wegrand zermalmt.
 
Diese Widerwärtigkeit vergällt uns nicht das Vergnügen, am Klosterweingut Bodegas Irache aus der Fuente de vino, dem Weinbrunnen, einen Schluck Wein zu versuchen, im Wissen, dass uns via Internet die ganze Welt zuschauen könnte:
http://www.irache.com/webcam.html
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Fuente de vino (Weinbrunnen) im Klosterweingut Bodegas Irache
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Wir hätten in Los Arcos, wo wir mit Lili und Helen Mittag essen, bleiben und dort unter Herbergen aussuchen können. Die Kirche dieses Ortes wird eben geschlossen, als ich um etwas Aufschub bitte. Es lohnt sich. Der verspielte ultrabarocke Stil des Altaraufbaus, die üppig verzierten Säulen nur schon der Nebenaltäre, das zeichnet viele Kirchen Spaniens wie diese aus. Leider bleiben die meisten Gotteshäuser geschlossen, ausser, wenn eine Andacht stattfindet. Dass der Raum so dunkel sei, bedaure ich dem Pförtner gegenüber. Ich solle doch am Abend zur Messe erscheinen, dann sei die Kirche hell beleuchtet, entgegnet der Herr der Schlüssel, doch wir folgen seinem Rat nicht.
 
Wir legen noch eine Schippe drauf und wandern zwei Stunden weiter nach Torres del Rio. Mit acht Stunden haben wir wohl das Machbare ausgereizt, zumal bei Temperaturen, die sieben Grad über dem Durchschnitt dieser Jahreszeit liegen sollen. Wir und alle hinter uns sehnen uns nach dem Ort, der  sich seit langem am Horizont abzeichnet, nur um dort feststellen zu müssen, dass es sich erst um Sansol handelt. Die anschliessende Viertelstunde schaffen wir dann auch noch. Schon bald kommen uns in Torres del Rio auf der Strasse Deutsche entgegen, die melden:
 
„Alles restlos ausgebucht, nächste Station Viana, zweieinhalb Stunden weiter.“  
 
Damit mag ich mich nicht abfinden. In der einzigen geöffneten Herberge fackle ich nicht lange, als die hilfsbereite Señorita uns und einem italienischen Ehepaar ein paar Matratzen auf der Veranda anbietet. Auch für später eintreffende Pilger findet sie eine Notlösung. Schliesslich schieben wir unsere Matratzen unter einen Tisch aus massivem Holz, auf diesen legt sich ein Deutscher, und so verbringen wir die Nacht wenigstens unter einem Dach über dem Kopf.
 
Auf langen Teilabschnitten gehen Michiko und ich jeweils unser eigenes Tempo. Ich lege ab und zu Zwischenhalte ein, um auf sie zu warten. Heute rette ich mich vor der unbarmherzigen Sonne an ein schattiges Plätzchen und schreibe ein paar Notizen auf. Nach einem Weilchen frage ich die andern Wanderer, welche ebenfalls rasten, ob jemand meine Frau vorbeiziehen gesehen habe. Obwohl ich diese Leute nicht kenne, antworten sie mit nein. Eine Frau tröstet mich, man treffe sich ja immer wieder. Ich weiss nicht, ob ich zurück oder vorwärts laufen soll. Letzteres ist die richtige Entscheidung, denn zehn Minuten später finde ich sie quickfidel mit Roberto von Bilbao unter einer schattigen Hecke. Es ist nicht so, dass ich Michiko die Tagesleistung vorgebe. Auf die Rückfrage, „kannst du nochmals zwei Stunden anhängen?“ kommt ein spontanes „Jojo“, das keinen Zweifel zulässt.
 
Obwohl ich oft das Wort Pilger verwende, würde ich mich nicht als solchen bezeichnen. Aber auf dem Camino dreht sich halt alles um den peregrino (Pilger). Ich behaupte, die wenigsten unterwegs sehen sich die Kirchen am Wegrand von innen an. Die meisten der Gotteshäuser sind ohnehin geschlossen. Die bisher dahin gehend  angesprochenen Wanderer geben an, auf der Suche nach sich selbst zu sein. Beim Empfangsbüro in Saint-Jean-Pied-de-Port wird eine Statistik geführt und u. a. nach dem Beweggrund der Leute gefragt. Angekreuzt werden können, religiöse, kulturelle, sportliche und übrige Gründe. Ich mache den Jakobsweg, weil es ihn gibt.  
1.9.
Torres del Rio – Logroño (142’143 EW); 20.5 km; 5 h; 1440 Kcal
 
Nach den gestrigen fast 30 km sind heute nur 20 km vorgesehen. Lohnt es sich da, früh aufzustehen, ist man versucht zu fragen. Aber die ideale Streckenlänge gibt es nicht. Eine Grossstadt wie Logroño auszulassen wäre unklug, besteht doch wieder einmal die Möglichkeit, persönliche Bedürfnisse zu befriedigen. So sucht Michiko nach einer Salbe, die einen Hautausschlag eindämmen soll. Und mein abgebrochener Stockzahn lässt mich nur unter Schmerzen essen und trinken. Reden geht überhaupt nicht mehr. In Gebärdensprache fragte ich heute eine Belgierin, ob neben ihr ein Platz frei sei, Michiko bestritt die restliche Konversation an einem Kaffeehalt.
 
In Logroño heisst es, zwei Stunden auf die Türöffnung der Herberge warten. Wir deponieren unsere Rucksäcke an der Spitze der sich abzeichnenden Warteschlange und ich mache mich auf die Suche nach einem Zahnarzt. Eine Apotheke gibt mir eine Adresse. Als ich klingele und eine Dame in Weiss öffnet, stelle ich mich als peregrino (Pilger) vor – man hätte sonst anhand meines Aussehens an einen Junkie denken können – und stammle vom abgebrochenen Zahn und den Schmerzen im Zungenansatz. Sie lässt mich etwa zehn Minuten warten, dann ruft sie mich ins Behandlungszimmer. Der Zahnarzt erscheint, sieht sich die scharfe Kante des Zahnrestes an, nimmt einen Apparat mit einer Feile und entschärft die Kante in schmerzhaften zwei, drei Minuten. Die Gehilfin überreicht mir sodann eine Salbe um die Heilung zu beschleunigen. Alles zum Nulltarif. Mir verschlägt es fast die mittlerweile wieder erlangte Stimme.
 
Mit dem Madrilenen Carlos, der mit Michiko zusammen die Warteschlange vor der Herberge anführt, gehen wir auf Stadtrundgang. Es folgt der bisher innigste philosophische Diskurs über den Camino. Carlos hat die letzten 200 km des Camino schon einmal gemacht. Diesmal will er den ganzen Weg durch Spanien nochmals unternehmen, quasi als Opfergang, um für seine Familie Gutes zu erwirken. In Fragen der Kindererziehung liegen wir beiden kongruent, aber Carlos kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass man sich die ‚Strapazen’ des Caminos ohne oder bloss aus sportlicher Motivation auf sich nimmt. Er muss sich schliesslich mit Michikos Erklärungsversuch zufrieden geben: sie gehe, weil ich gehe und weil es gut für die Gesundheit sei.
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Logroño, beim Filosofieren mit Carlos
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Wanderer wäre ein passender Begriff im Deutschen, den gibt es im Spanischen gleichwertig nicht. Schon in früheren Jahrhunderten gab es nicht nur Pilger, die sich nach Santiago aufmachten. In gewissen Ländern war es den Gerichten möglich, einem Verurteilten zur Strafverbüssung anstelle einer Freiheitsstrafe den Pilgergang nach Santiago de Compostela zu verordnen. Ob da immer die Gesinnung dem richterlichen Wunsch entsprach? So gesehen unternehmen wir die Reise vielleicht vorsorglich: Mal sehen, ob sich bei einem zukünftigen Verkehrsdelikt etwas anrechnen lässt…
2.9.
Logroño – Nájera (7105 EW); 30.7 km; 7 h 12’; 2617 Kcal
 
Die Bleibe in Logroño ist die bislang unangenehmste, wenn auch mit 3 Euros die billigste. Ich schlafe oft schlecht ein. Kurz nach zehn Uhr beginnen die Schnarcher ihr Nachtwerk. Es wird kaum mehr geflüstert. Ein elektronisches Piepsen stört periodisch. Von der übernächsten Reihe (es gibt hier 24 doppelstöckige Betten) beischlafähnliche Geräusche im Schutze der aufreizend lauten Lieferwagen, die sich nachts draussen durch die enge Gasse zwängen. Irgendwann übermannt mich dann der Schlaf doch, denn als mich ein stummer Aktivismus in dem Raum weckt und ich zur Uhr schaue: 04:31! Eine geschlagene Stunde früher als sonst. Dabei ist vor sechs Uhr ohne Taschenlampe nicht zu erkennen, wo die Weg weisenden Muschelsymbole sind.
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Rioja – Traube
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Heute können wir wählen zwischen einer Etappe von zehn, zwanzig oder dreissig Kilometern. Wir lassen uns von der Emsigkeit anstecken und folgen einer Gruppe von Italienern. Für Michiko eine Herausforderung, kann sie doch für einmal nicht ihr eigenes Tempo gehen. Wir queren die ganze Pracht der Weinberge Riojas. Hier also gedeihen im sandig-steinigen, humusarmen Boden die Weine mit dem erdigen Abgang. Der Sonnenaufgang findet uns schon zweieinhalb Stunden auf den Beinen. Das Schild Tio Pepe, mit dem metallenen Stier, steht am Horizont Spalier neben der blutjungen Sonne; dieses Dekor kann nur Spanien bieten.
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Am Camino: Begegnung der freundlichen Art
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Natürlich schafft Michiko die ganzen dreissig Kilometer, man darf ihr das nur nicht als Vorgabe abfordern. Da wir vor Türöffnung vor unserer Herberge eintreffen, lassen wir die Rucksäcke in der zeitlichen Reihenfolge der Ankunft liegen und genehmigen uns ein Dreigangmenü in der Altstadt. Im Preis von zehn Euros pro Person ist eine Flasche Rioja inbegriffen. Als wir im Pilgerhaus zurück sind, haben alle andern schon eingecheckt. Die tatsächliche  Öffnungszeit entsprach nicht den Angaben auf dem Schild. Dadurch kriegen wir die Betten Nummer 67 und 69 unten, ein kleines eheliches Biotop, ideal auch im Hinblick auf die Distanz zu den Duschen und Toiletten, wo es inzwischen keine Wartezeiten mehr gibt.
 
Dies ist wieder einmal eine Bleibe, die allein von den freiwilligen Spenden der Pilger lebt. Hotels würden ohne weiteres fünfzig Euros für ein Doppelzimmer verlangen. Die meisten Wanderer bringen ihren Schlafsack mit. Wenn oft von Ungeziefer in den Matratzen der Massenlager die Rede ist, so sind es die peregrinos, Pilger, welche dieses von Ort zu Ort schleppen. Die Pilgerhäuser werden mancherorts von edlen, selbstlosen Freunden des Jakobswegs betreut. Schade, wenn nur noch Leute mit Scheckbuch diesen einmaligen Camino abwandern könnten.
 
Pilger mit Fahrrad sind zahlenmässig im Vormarsch. Sie folgen ihrer eigenen Route, sofern sich der Weg der Fussgänger nicht eignet. Bereits in Logroño parkten Dutzendweise Mountainbikes in unserer Bleibe. Für Radfahrer gelten etwas strengere Bedingungen für den Erhalt der Compostela in Santiago.
 
Jeden Montag verlangt meine Polar-Uhr, dass ich die Leistung der Vorwoche abrufe. Sie zeigt an, dass ich 500% meiner vorgesehenen wöchentlichen Kalorienzahl verbrannt habe. Gleichzeitig verlangt die Uhr einen Fitnesstest, der mit ‚Exzellent’ ausfällt. Damit kann ich gut leben.
 
3.9.
Nájera – Santo Domingo de la Calzada (5’622 EW); 20.6 km; 5 h; 1235 Kcal
 
Kurzetappe. Mir scheint, es geht nur darum, die schweren Rucksäcke von einem Ort zum andern zu verlegen. Dabei ginge dies auch anders, wie es zwei Japanerinnen vormachen. Sie lassen für 7 Euros pro Tag die schweren Sachen durch einen Lieferdienst von ihrem Hotel zum nächsten am Zielort transportieren und machen so den camino light. Sie nehmen in Kauf, dass sie dadurch in Hotels übernachten, die sie weitere 50 Euros kosten. Heute sind wir in einem Zisterzienserkloster einquartiert, als Ehepaar haben wir zwei Betten in einer kleinen Nische erhalten. Einzelpersonen schlafen wie üblich in Kajütenbetten. Auch dieses Haus lebt von freiwilligen Spenden, die die Empfangsdame vorsorglicherweise gerade beim Abstempeln der Pilgerpässe einfordert…
 
Beim Frühstück, etwa nach einer Stunde Weges bestellen wir die üblichen Cafés con Leche mit Croissants. Diese sind so luftig und gross, dass sie immer mit Gabel und Messer gereicht werden. Beim drein beissen glaube ich, es handle sich um einen Dreikönigskuchen und ich sei eben gekrönt worden, doch Michiko klärt mich dahingehend auf, dass es sich beim Corpus Delicti um ein weiteres Bruchstück meines Stockzahns handelt. Jetzt fühlt sie die Lücke wie ein U-Tal an und ich hoffe auf Ruhe bis zum Ende der Reise.
 
Santo Domingo de la Calzada verdankt seine Existenz und den Ortsnamen Domingo de Viloria (1019 – 1109), der sein Leben ganz dem Pilgerweg widmete. Ohne Jakobsweg gäbe es diesen Ort mit seinen zusammen gebauten, von engen Gässchen getrennten Steinhäusern mit Miniaturbalkonen nicht. Selbstverständlich fehlt die Kathedrale nicht. Vom Turm aus kann man die kompakt gebaute Kleinstadt wie ein mit roten Ziegeln kariertes Biotop in der trockenen Landschaft der oberen Rioja erleben. Der Pilgerweg führt schnurstracks durch den Ort.
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Im Refugium: (Schuh)ordnung muss sein
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Ab morgen betreten wir die autonome Region Castilla y León, und das für einige Zeit, ist diese doch mehr als zweimal so gross wie die Schweiz.
4.9.
Santo Domingo de la Calzada – Belorado (2’019 EW); 23.5 km; 6 h 5’; 2603 Kcal
 
Die Tagesleistung beträgt etwa zwei Kilometer mehr, da wir frühmorgens falsch loslaufen. Stoppelfelder reihen sich aneinander und gehen übergangslos von Rioja nach Castilla y León über.
 
Beim Frühstückshalt treffen wir Ryoko und Yoko. Ryoko, die jüngere der beiden Japanerinnen schliesst sich mir an, während Yoko Michiko allerhand spannendes über ihren Beruf als Beraterin in Lebensfragen zu berichten weiss. Sie hat eine esoterische Ader, kennt sich aber in vielen Wissensgebieten aus, so auch in der christlichen Gnosis. Ryoko ist eine ihrer Kundinnen. Diese ‚weiss’ deshalb, dass sie bis in etwa zehn Jahren endlich den Mann fürs Leben finden wird. Gemäss Ryoko dürfte das ruhig etwas schneller gehen. Bei ihrem Schäkertalent und den grossen Augen vorstellbar. Sie lässt mich Japanisch radebrechen, statt ihr Englisch zu bemühen. Voraus eilend können wir den ersten Regen auf der Reise knapp abwenden. Die beiden ‚light Pilger’ nehmen morgen, da es in die Berge geht, den Bus Richtung Burgos. Da wir bis dahin per pedes zwei Etappen benötigen, gibt es wohl kein Wiedersehen mit den zwei Single Frauen.
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Mit Yoko und Ryoko
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Auch mit Juan José aus Malaga tausche ich mich ein Halbstündlein aus, weil wir etwa die gleiche Schrittkadenz haben. Der 71-Jährige ist seit sieben Jahren Witwer und seit anfangs Jahr pensioniert. Er war Flugzeug-Ingenieur und in dieser Zeit in vielen Ländern tätig. Nach seiner Aktivzeit betreute er noch Flugsimulatoren. Seine erste Priorität im Ruhestand bleibt der Camino, weil er gläubiger Christ sei.
 
In Belorado ist Fiesta angesagt. Die Menschen tanzen und trinken in den Bars und auf der Strasse. Gemeinsames Markenzeichen ihrer Uniform: Die beiden Hosenbeine müssen unterschiedliche Muster aufweisen.
5.9.
Belorado – Atapuerca (196 EW); 30.3 km; 7 h 36’; 2701 Kcal
Heute ist ein windiger Tag. Schier fünfzig Mal wäre meine Mütze unwiederbringlich davon geflogen, wäre sie nicht an meiner Jacke festgezurrt. Angesagt ist Regen und wir hoffen, möglichst lange davor verschont zu bleiben. Daher tauchen wir schon kurz nach halb sechs Uhr früh in die finstere Nacht ein. Der 1162 m hohe Oca-Berg ist die pièce de résistance. Hier zahlt es sich aus, dass Michiko kürzlich den Pilatus bestiegen hat. Beim Aufstieg bekundet sie weniger Mühe, als beim anschliessenden Abstieg. Auf der Kuppe verläuft der Camino stundenlang in einer Brandschneise des Oca-Waldes, was topografisch nicht besonders abwechslungsreich ist.
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Camino durch Feuerschneise auf dem Oca-Berg
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Daher sinniere ich darüber nach, woher eigentlich der Wind kommt. Im Grunde windet es nicht, sondern die Erde dreht sich im Eiltempo um ihre eigene Achse. Die Atmosphäre schwebt über dem Festland und Meer und sieht keine besondere Veranlassung, die Rotation mitzumachen. Und schon haben wir Wind. Wenn die Luftmassen gegen einen Bergzug prallen, oder auch gegen eine der Tausenden Windkraftwerke hier in Spanien, gegen Michiko und mich am heutigen Tag, so bremsen die Winde die Erdkugel jedes Mal ein kleinwenig ab. Sie dreht sich also immer langsamer. Die Tage werden länger. Das braucht uns nicht zu beunruhigen, denn es macht vielleicht eine Sekunde aus in hundert Jahren. Und wir Menschen haben uns längst daran gewöhnt, dass wir nicht so sehr darauf achten, was in hundert Jahren sein wird. Immerhin spielen wir eine Rolle auf unserem Planeten, wenn auch lange nicht jene, die wir uns gelegentlich einbilden.
 
Gerade Atapuerca lehrt uns einiges über die Relativität des Menschen im Kosmos. Hier wurden 800’000 Jahre alte Knochenreste des Homo antecessor gefunden, dem Vorgänger des Homo sapiens. Die Ausgrabungsstätte ist UNESCO-Kulturerbe der Menschheit. Wir kommen mit etwas Glück in den Genuss einer archäologischen Führung am Fundort. Die Erläuterungen sind auf Spanisch und betreffen die Fundstelle und die Wichtigkeit der bisherigen Ausgrabungen. Die ca. 200 Archäologen haben bisher erst etwa fünf Prozent des Gebietes erforscht. Anhand von Nachbildungen wird der Unterschied zwischen dem Homo Neandertal und dem Homo antecessor erklärt. Die verschiedenen Fundorte können besichtigt werden. Ein Film rundet den Ausflug ab. Mehr auf
www.fundacionatapuerca.com
www.atapuerca.com
www.atapuerca.tv
Vielleicht nicht mehr als ein netter Zufall, dass seit Tausend Jahren Hunderttausende über den Jakobsweg pilgern in einer Region, wo vor Jahrhunderttausenden bereits Migration-Ströme von Tieren stattfanden. Ob der ‚erste Europäer’ sich von den Tieren bereits abgesetzt hatte?  Beweise, dass er intelligent gewesen ist, fehlen. Bislang keine Funde von Keramik oder Feuerstellen, bloss ein paar primitive Steinwerkzeuge.
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Atapuerca – anatomische Unterschiede zwischen Homo ancessor und Homo Neandertal
 
 
6.9.
Atapuerca – Burgos (166’190 EW); 23 km; 5 h; 1191 Kcal
 
Regentag, aber wir sind schon um 11 Uhr in Burgos in einem Hostal (einfache hotelähnliche Unterkunft) mit Balkon und Sicht auf die Kathedrale. Aus irgendwelchen Gründen sind wir um halb sechs Uhr aufgebrochen. Angel aus Madrid ist als erster aus dem Bett gekrochen und als Michiko sein Fehlen entdeckt, beginnt sie unsere Sachen zu bündeln. Bald bewähren wir uns als Pfadfinder, müssen wir doch die Strassenecken mit Stirnlampen nach den gelben Pfeilen absuchen. Angel ist hinter uns gestartet, holt uns aber bald ein und wir machen gemeinsame Sache bis Burgos. In Intervallen regnet es heftig. Wir müssen erstmals die Regentauglichkeit unserer Ausrüstung unter Beweis stellen. Nach dem Aufstieg auf 1078 m, wo der lehmig nasse Boden unsere Standfestigkeit prüft, gibt es am Fuss der andern Hügelseite kaum mehr einen markierten Camino. Wir suchen den Weg ins Zentrum in einem zweistündigen Marsch durch die Strassen der Vororte und Burgos’ selbst. Für den 35-jährigen Angel endet der Camino in Burgos, da er ab Montag wieder als Informatiker in Madrid zurück erwartet wird. Er wird den Pilgergang bei seinem nächsten Urlaub in Burgos fortsetzen wie viele seiner Landsleute ebenfalls. Sein Körpergewicht von 120 kg macht ihm insofern zu schaffen, als er ein paar enge Stunden im Autobus vor sich weiss. Sein Vater hat den Camino letztes Jahr ebenfalls geschafft und ist nach der Pensionierung in vier Monaten alleine von Granada nach Rom gewandert.
 
Die Catedral de Santa Maria von Burgos ist für uns eines der schönsten Gotteshäuser weltweit. Dieses gotische Bauwerk gehört zu Recht zum Weltkulturerbe, wobei diesem Label allmählich inflatorische ‚Jekami-Bedeutung’ zukommt. Es begeisterte uns schon im Vorjahr auf einem Ausflug von Salamanca, wo wir einen Intensivkurs in Spanisch machten. Damals sahen wir die mit Stöcken bewaffneten Pilger vorübergebeugt an uns vorbei schleichen. Jetzt gehören wir selber zu dieser Gilde und uns kümmern die Blicke der Touristen nicht, die in Autobussen herbei gekarrt werden. Uns verbleiben 506 km bis Santiago de Compostela.
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Burgos – Catedral de Santa Maria
Burgos – Catedral de Santa Maria – Escalera dorada (Goldene Treppe)
 Burgos – Catedral de Santa Maria – Seitenkapelle
. Burgos – Catedral de Santa Maria in der Abendsonne

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