Statt eines Vor- und Nachwortes
Ein Blog ist für mich ein Bollwerk wider das Vergessen. Ich habe gemerkt, dass sich die Eindrücke auf einem Tagesmarsch im Kurzzeitgedächtnis ansiedeln. Von dort schälen sie sich, wie eine Zwiebel, und das bereits unterwegs. Man beobachtet, man wandert, man erlebt die Umwelt anders, wenn man die Sinne dazu verpflichtet, sich für eine Zusammenfassung am Abend bereit zu halten. Acht Stunden wandern und die Impressionen am Ende des Tages in ebenso vielen Sätzen niederzuschreiben, scheint mir oft eine Verlegenheitslösung. Aber schliesslich übernehme ich diese Kurzanalysen fast eins zu eins in den Blog. So bleibt nach dem Entblättern der Zwiebel das Innere, der Kern des Gemüses, das in der Küche (Werkstatt des Autors) verarbeitet wird, da es roh schlecht geniessbar ist. Es ist anzunehmen, dass Unbekannte diesen Blog lesen. Sie sollen wissen, dass das Erlebte einmalig ist. Es wird kein zweites Mal genau so sein. Für den Sonderfall, dass jemand darin Informationen sucht als Vorbereitung für eine eigene Reise: Dies ist kein Reiseführer (aber man findet Links auf Wikipedia). Er schweigt sich darüber aus, was sonst noch war. Wer vorhat, den Cammino di Assisi aus religiösen Gründen zu begehen, wird sich im Felde möglicherweise im falschen Film wähnen, denn Michiko (67) und ich (65) machten den Weg hauptsächlich „weil es ihn gibt“. Gerne hätten wir auch spirituelle Gedanken an uns heran gelassen, aber der Regen, die Abgeschiedenheit, die stete Jagd nach den Richtung weisenden Pfeilen und Schildern trugen nicht dazu bei, dem Sinnlichen eine grosse Bühne zu gewähren.
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Wir erreichen Dovadola, den Ausgangsort unseres Assisi-Pilgerwegs per Bahn über Milano – Bologna – Forli. Es ist Ostermontag. Der Bus nach Dovadola folgt dem ausgedünnten Feiertagsfahrplan, was uns einige Zeit zur Besichtigung von Forlì erlaubt. Nicht leicht, unsern Hunger zu stillen, denn die Restaurants öffnen abends erst gegen sieben oder halb acht Uhr. Das historische Zentrum gleicht dem vieler italienischer Städte, welche durch Alter und Abgase Patina angesetzt haben. Auch hier finden wir den Unterschied zwischen einer Basilika, einer Kathedrale, einem Dom oder einer gewöhnlichen Kirche nicht heraus. Wir sind aber eher aus auf eine sportliche Herausforderung.
Dovadola ist ein Dorf mit weniger als 2000 Einwohnern. Dort finden wir Unterschlupf im Rifugio Benedetta di Dovadola, angeschlossen an die Kirche Sant’Andrea aus dem 9. Jahrhundert, die durch die Cluniazenser errichtet wurde. Mit Franz Moik aus Graz beabsichtigt ein weiterer Pilger, den ca. 300 km langen Pilgerweg nach Assisi unter die Füsse zu nehmen. Der Österreicher nennt gar Rom als Ziel seiner Wanderschaft.
Don Alfeo von der Abtei tut sein Bestes, uns mit Pilgerpässen (Credenziale) zu versehen und Basisinformationen für jede der vorgesehenen dreizehn Tagespensen auszuhändigen. Auf Italienisch. Zum Glück haben wir die entsprechende deutsche Version aus dem Internet bereits im Gepäck.
http://www.camminodiassisi.it/DE/tappe-e-percorsi.html
Erste Etappe: Dovadola – Marzanella
1. Etappe
Marzanella wird als Tagesziel angegeben, aber wir finden unsere Unterkunft in Sivia Marias Ranch Capannina, in einer Waldlichtung, fernab jeder weiteren Behausung.
Aufbruch nach acht Uhr, Ankunft dort gegen 16.00 Uhr. Der Pfad führt nichts wie los in die Hügel der Umgebung Dovadolas zum Zwischenziel Eremo di Sant’Antonio auf Montepaolo. Die Einsiedelei liegt etwas abseits unserer Route, rund dreihundert Höhenmeter über unserem Ausgangspunkt. Wir sind die einzigen Besucher dieses Ortes der Stille und Einkehr. Im weiteren Tagesverlauf bewegen wir drei Wanderer uns in der grünen Hügelzone, fernab von Dörfern und Weilern. Sonnenschein begleitet uns auf dem ausgezeichneten Höhenweg, teilweise auf dem Hügelgrat, der eine feine Aussicht auf beide Talseiten gewährt.
Die Azienda agricola Capannina, wie sich Sivias Paradies nennt, ist eine eingezäunte Oase im hügeligen Wald. Im Freilaufgehege hoppeln Kaninchen hinter den Hühnern her und drei Hunde bewachen das Anwesen. Silvias Gesicht strahlt, als ich ihr von paradiesischen Zuständen schwärme. Die Brasilianerin mit Grosseltern italienischer Abstammung spricht deutsch, italienisch, englisch und portugiesisch. Mit Ehemann Giancarlo zusammen hat sie das Grundstück vor 15 Jahren erworben und innerhalb der etwa vierhundert Jahre alten Grundmauern ein gemütliches Daheim geschaffen. Das Gästezimmer kann 3-4 Personen aufnehmen. Silvia pflanzt alles nach biologischen Gesichtspunkten an und legt Wert darauf, dass ihre Kinder Danilo (10) und Anita (5) zweisprachig aufwachsen.
E-Mail: [email protected] / Tel. (0546)943114 / Mobil: 3332313800
Zweite Etappe: Marzanella – Cà Ridolla (Premilcuore)
Die zwölf Kilometer bis Portico, dem ersten Dorf auf unserem Cammino, wandern wir grossteils auf Asphaltstrassen. Eine kleine Abkürzung auf schwerem Boden erhöht das Gewicht unserer Schuhe gleich um das Anderthalbfache. Im Dorf selbst begrüssen wir die in der Wegbeschreibung als Freundin des Cammino di Assisi erwähnte Marisa vom Restaurant Vecchio Convento. Beim Anblick unseres Schuhwerks zieht sie es vor, uns den Cappuccino im Freien zu servieren. Dass sie nichts dafür verlangt, nehmen wir mit Staunen zur Kenntnis.
Uns stehen vierhundert Höhenmeter bevor. Das erste Teilstück ist mit historischen Steinplatten bepflastert, ähnlich den Säumerwegen in den Alpen. Dann folgt ein breit angelegtes Wegstück, das mit Reisignadeln tapeziert ist. Für unsere Füsse die angenehmste Unterlage. Anschliessend führt eine asphaltierte Strasse auf die Passhöhe. Franz setzt auf eine Abkürzung, und wir verlieren uns aus den Augen bis in unsere reservierte Bleibe in der Nacht.
Auf der Wasserscheide angelangt, verlassen wir die Strasse für einen bewaldeten Pfad auf die Hügelkrete. Das Aprilwetter begleitet uns mit allen seinen Facetten. Man wünscht eine Hütte herbei, ein Obdach, einen Unterstand, um den Tornister kurz abzulegen, ein Sandwich hinunterzuwürgen, ein Foto zu knipsen. Stattdessen nichts von alledem, nur Waten in entgegenkommenden oder begleitenden Rinnsalen oder Pfützen, die jedes Kinderherz höher schlagen lassen würden. Zum vollen Programm fehlt der Donner, der, kaum angedacht, ebenfalls einsetzt. Bevor der mählich abschüssige Pfad in eine asphaltierte Strasse einmündet, schlittern wir noch ein wenig auf einer Lehmschicht und imprägnieren damit unsere Schuhe.
Ein erstes Steinhaus mit Vorgarten taucht aus dem Nebel auf. Beim zweiten erblicken wir einen knapp schützenden Vorbau, worunter wir im Stehen unser Mittagsbrot verzehren. Bald öffnet sich eine Tür und ein alter Mann äugt uns fragend und prüfend an. Wir brauchen einige Minuten, bis wir uns von der Kältestarre erholen und einwilligen, einzutreten. Wir revidieren unsere Absicht, die fehlenden zwei Kilometer bis zur Unterkunft zu Fuss in Angriff zu nehmen. Stattdessen lassen wir uns von Marcello einen Espresso servieren und warten, bis er uns ins Dorf Premilcuore fährt, wo er seine Frau abholen will. Es bleibt Zeit, das Innenleben des vierhundertjährigen Steinhauses zu bewundern. Jahrzehnte hat er in tausenden von Stunden ein Bijou geschaffen. Das obere Stockwerk hat eine Bar in einer Ecke sowie kunstvoll verarbeitete Massivholztische in der gemütlichen Stube; das Cheminée verbreitet wohlige Wärme und die Stützmauer daneben schmückt eine Hirschtrophäe aus frevelhafter Herkunft. Das räumt Marcello augenzwinkernd ein. Seine Weltanschauung stützt sich auf Studien aller grossen Weltreligionen und des Darwinismus: Pflanzen und Tiere passen sich fortlaufend der Umgebung an, aber die Religionen sind eine Erfindung der Menschen, mit dem Ziel, andere Menschen zu unterdrücken.
Wir sind froh, in seinem Pickup-Gefährt ins Agroippoturistica Ridolla chauffiert zu werden. Die Begegnung mit Marcello wiegt das verpasste Soll an Wanderkilometern auf.
Dritte Etappe: Cà Ridolla – Corniolo
3. Etappe
Von der Unterkunft, wo früher Pferdeliebhaber ihre Tiere hegten und pflegten, schleicht sich der Weg dem Rabbi-Bach entlang, vorbei an einer steinernen Bogenbrücke und biegt dann unvermittelt in die bewaldete Flanke des Berges und steigt. Für achthundert Höhenmeter. Es regnet andauernd. Mit den Regenfällen des Vortages ist der steile Pfad seifig, schmierig geworden. Oben angekommen, mündet er in eine breite Waldstrasse. Wir hätten uns gegönnt, es etwas gemütlicher angehen zu lassen, zumal die Sonne einen kurzen Auftritt hat. Nun heisst es hier allerdings Spiessruten laufen, denn die Strasse ist kilometerlang mit abgebrochenen Ästen, umgestürzten und mitsamt Wurzelwerk auf den Weg abgerutschten Bäumen übersät, so dass wir in Pfadfinderart unser Wegrecht einfordern müssen. Obwohl die Laubbäume noch keine Blätter getrieben haben, widerstanden sie offensichtlich dem Sturm der Nacht nicht. Auch Äste von Koniferen mit langen dichten Nadeln liegen kreuz und quer im Wege; vielleicht haben sie dem Schneedruck nachgegeben. Wie Grabesruhe nach geschlagener Schlacht fühlt sich unser Parcours an. Was, wenn es jetzt erneut los ginge? Wir fänden nirgends Unterschlupf. Im Übrigen handelt es sich wiederum um einen Cammino in ganz hervorragendem Zustand. Vielleicht auch deshalb, weil er auch vom CAI (Club Alpino Italiano) benutzt wird.
In Corniolo eingetroffen, finden wir eine unbemannte Pilgerunterkunft, wofür wir den Zutrittscode telefonisch anfordern müssen. Sie hat zwei Kajütenbetten im oberen Stock, während im Parterre zwei Toiletten mit Duschen, Kochgelegenheiten und ein Cheminée vorhanden sind. Den Pilgerstempel in unsere Pilgerpässe besorgen wir uns selber. Eine fix montierte Kasse erwartet, dass wir je 7 Euros einwerfen und das Refugio am nächsten Tag in bester Ordnung neuen Pilgern hinterlassen.
Das Dorf Corniolo hat ein Hotel und zwei Restaurants, die aber wie der Dorfladen donnerstagnachmittags geschlossen sind. Ein Geisterdorf gähnt uns entgegen. Das Warten lohnt sich, denn nach sechs Uhr wird uns ein Pilgermenü aufgetischt; wir bleiben die einzigen Gäste im Restaurant.
In der Herberge beschäftigen wir den Holzofen, damit die verregneten und verschwitzten Klamotten nach der Handwäsche in den normalen Aggregatszustand zurückgeführt werden können.
Vierte Etappe: Corniolo – Camaldoli
4. Etappe
Einen Höhepunkt hat das heutige Tagespensum: Es führt uns auf den der Sonne nahesten Punkt. Chabis! Von Sonne auch heute keine Spur. Trotzdem steigen wir auf über 1500 Meter auf, höher führt der Assisi-Weg nirgends. Aber, statt bis Rimini, sehen wir kaum zum nächsten Baum, der Nebel ist das grosse Thema über tausend Meter. Der Reihe nach.
Die morgendliche Marschroute führt bald in den Nationalpark der Region, erst über eine befestigte Strasse für forstwirtschaftliche Fahrzeuge. Bald verabschiedet sich ein steiler Pfad von der Fahrbahn um schnell Höhe zu gewinnen. Die Regenfälle der Vortage haben Spuren in Form von Laub- und Schuttmoränen hinterlassen, was über die Wanderschuhe den Füssen ein Finnenbahn-Gefühl vermittelt. (Man muss es halt positiv sehen.) In einer Bar im Park bei einem Cappuccino überhören wir, wie die RAI-TV-Wettermacherin orakelt, dass die Rückkehr der Primavera (Frühling) in den kommenden zehn Tagen nicht zu erwarten sei. Prompt setzt auch der Regen wieder ein. Da der Pfad in einem hervorragenden Zustand ist, kann uns das Nass von oben wenig antun. Schneeflocken auf dem Höhenweg mischen sich mit dem immer stärkeren Regen, doch die Schneeverwehungen und zusammenhängenden Schneefelder sind älteren Datums. Dichter Nebel vermummt die Bäume im lichten Wald, doch allmählich verlieren wir an Höhe. Das Dorf Camaldoli liegt etwas über 800 Meter. Wir treffen dort gegen sechs Uhr ein und nisten uns ohne Voranmeldung im Hotel Dei Baroni ein.
War die Etappe der geografische Höhepunkt, so vermasselte dichter Nebel jede Fernsicht im Nationalpark. Ein Pilgerweg? Vielleicht insofern, als das Naturerlebnis abseits der Zivilisation an Bedeutung gewann. Sakralbauten unterwegs waren jedoch Mangelware. Wichtig scheint mir, dass trotz der misslichen Wetterverhältnisse bei keinem von uns ein Wanderkoller aufkam. Wir sind ohnehin freiwillig auf dem Weg.
Fünfte Etappe: Camaldoli – Biforco
5. Etappe
Zunächst orientieren wir uns in die falsche Himmelsrichtung, da wir dem Emblem des Assisi-Wegs folgen, welches bloss zu einem Hospiz führt. Zwei Dutzend aufgescheuchte Rehe und zwei Stunden Zeitverschwendung später zwingen wir uns „zurück auf Feld 1“. Unter fast pausenlosem Regen verzichten wir auf den aufgeweichten Pfad, der uns zweimal 400 Höhenmeter versprochen hätte, und folgen den ganzen Tag der Asphaltstrasse, welche gefühlsmässig nicht nur länger ist, sondern welche uns kumuliert nicht minder grosse Höhenunterschiede beschert. Unterwegs beschleunigt Franz den Schritt, er strebt dem Wallfahrtsort La Verna zu, was wir erst für den folgenden Tag vorhaben. Der Kadermann einer Grazer Grossfirma glänzt durch eine gute Reisevorbereitung, was uns oft zupass kommt.
Sechste Etappe: Biforco – Chiusi della Verna
6. und 7. Etappen
„Die heutige Etappe ist die wichtigste des ganzen Weges: die Ersteigung des Hl. Berges von La Verna! „der rohe Fels zwischen Tiber und Arno…“ ist der Ort, an dem der „stigmatisierte“ Franziskus die gleichen Qualen nachempfinden wollte, die Christus auf dem Kalvarienberg erlitten hatte.“
Diese Zeilen übernehme ich wortwörtlich der sonst gelegentlich eher belustigenden als nützlichen Weganleitung im Internet.
http://www.camminodiassisi.it/DE/biforco-verna-caprese.html
Kilometermässig steht kein allzu ambitiöses Tagespensum an, rund 12 km. Von einem Sonntagsspaziergang zu reden, wäre tiefgestapelt. Die 600 Höhenmeter umfassen steilste Pfade, Sumpfpassagen inbegriffen! Doch insgesamt verdient der Cammino auch hier gute Noten. Sobald er die Flanke des Bergs erreicht hat, schlängelt er sich vorbei an Laub- und Nadelgehölz. Auf der Anhöhe grüsst er bemooste Felsblöcke, die das Nass aufsaugen und einen mystischen Dunstschleier zwischen dem lichten Gehölz nähren.
Noch gefesselt von dieser Naturkulisse, stehen wir unvermittelt vor dem Felsen von La Verna, der senkrecht, trutzig zum Himmel aufblickt und dem Kloster darauf eine grossartige Plattform gewährt. Über die Ausmasse des ganzen Komplexes können wir uns ein Bild machen, nachdem wir uns nach dem Aufstieg in den Gängen und historisch reich befrachteten Räumen umgesehen haben. Obwohl Jugendliche sich in Scharen auf den Zinnen herumtollen und Touristen in bislang nicht gesehener Anzahl sich in den frei zugänglichen Gemächern und Souvenirläden drängen, sind wir in der Basilika die einzigen Besucher!
Als wir durch die Katakomben des Tempelkomplexes kauern, stellt sich uns ein rüstiger Siebziger mit strengen Gesichtszügen in den Weg und fragt ob wir deutsch sprechen. Er sei Pole und habe einmal als Pilger den Weg von seiner Heimat über Mariazell und Graz nach Rom unter die Füsse genommen. Wir hätten ihn gerne an Franz von Graz weitergereicht. Später vernehmen wir, dass unser Begleiter der ersten Stunde zwei Nächte auf La Verna verbracht hat und sich dort aufgehalten haben muss.
Michiko erblickt zwei junge Klosterbrüder und will zusammen mit ihnen aufs Foto. Wir ahnen: Hier hat der Pilgerweg eine neue Dimension erhalten. Der Abstieg ins Dorf Chiusi della Verna ist steil, aber in weniger als einer halben Stunde sitzen wir im Hotel Da Giovanna.
Als wir den Klosterkomplex aus dem meditativen Waldweg kommend erblickten, grinste erstmals seit Tagen die Sonne gegen den Felsen, der gegenwärtig zum Teil von der Basis durch ein riesiges Gerüst zugedeckt ist. Eine Trendwende in Sachen Wetter ist kaum in Sicht, wie ein kurzer Blick aus dem Hotelzimmer vermuten lässt. Wir verlassen denn auch unser Obdach nicht, obwohl der Ort vielleicht Interessantes zu bieten hat. Allein, die knappen Informationen, die uns zu Beginn des Pilgerwegs ausgehändigt worden sind, gehen kaum auf Sehenswürdigkeiten in unseren Etappenorten ein. Und Kirchen sind in aller Regel geschlossen.
Siebte Etappe: Chiusi della Verna – Caprese Michelangelo
Unter Dauerregen marschieren wir in die falsche Richtung los. Nachahmungstäter Achtung! Immer den Weg erfragen, nicht einfach nach Gefühl loslegen. Wir erreichen La Rocca. Ein passender Name, türmen sich im kleinen Flecken doch massive Felsbrocken, einer davon so mächtig, dass er die umliegenden Häuser um das Zweifache überragt. Eine junge Autofahrerin, welche Augenblicke zuvor ihr Haus verlassen hat, legt den Rückwärtsgang ein und lässt sich und uns von ihrem Vater aufklären, wie wir auf den rechten Weg zurückfinden. Auch eine zweite Maid, die wir im nächsten Ort ansprechen, kann mit einem Dorf namens Caprese Michelangelo nichts anfangen.
Wir haben jetzt die Möglichkeit, den Pfad nach der Einsiedelei Eremo della Casella in Angriff zu nehmen, welche auf 1300 m ü. M. liegt, oder aber einen Tag lang auf der Asphaltstrasse unser Tagesziel anzupeilen. Ein prüfender Blick auf die ersten paar Meter lässt erahnen, dass der Pfad dermassen durchnässt ist, dass wir wohl mit Rutschpartien auf dem Hosenboden rechnen müssen. Wenn man Argumente gegen etwas sucht, wird man fast immer fündig. Meines hier ist schlagend: Nachdem die bewaldeten Bergspitzen im Nebel stecken, könnten wir auf dem Gipfel kaum mit Franziskus (im Jahre 1224) ausrufen: „Addio Monte di Dio, Addio Monte Alvernia!“ (Leb wohl, Berg Gottes, leb wohl, Berg Alvernia.) Von der Einsiedelei aus würde man wohl kaum über die Nasenspitze hinaus sehen.
Wir benützen also die wenig befahrene Strasse und treffen am frühen Nachmittag in unserem Rifugio in Caprese Michelangelo ein. Gefühlsmässig ging es bei unserem Tagesmarsch einzig darum, unsere Siebensachen an einem neuen Ort trocknen zu lassen.
Genügend Zeit, um das Geburtshaus von Michelangelo aufzusuchen. Es thront als Festung auf einer natürlichen Bodenerhebung über dem Dorf, das sich selbst einer Kammlage erfreut. Zusammen mit der Taufkirche des Malers und einem Hotel bildet es das historische Zentrum des 1500 Seelendorfes. Die Sicht von der Burg in die Hügellandschaft der Toskana ist atemberaubend. Ein Mosaikteppich an sanften Grüntönen bedeckt die ondulierte Landschaft unter dem grauen Wolkenzelt, das stellenweise Spotlicht des Tagesgestirns durchlässt.
Achte Etappe: Caprese Michelangelo – Sansepolcro
Pilger müssen sich die Schönheiten auf dem Weg verdienen. Der Blick aus dem erhöhten „Kapuziner-Paradies“ auf die 15’000 Bewohner-Stadt Sansepolcro und die Umgebung ist umwerfend. Eins nach dem andern.
Von Caprese aus wechseln wir die Talseite und erreichen auf Schotterwegen die Anhöhen, welche wir von Caprese aus bewundert haben. Unsere Regenausrüstung verstauen wir, nachdem der schwangere Morgenhimmel ebenfalls Tenüwechsel vornimmt. Er projiziert jetzt immer weniger dunkle Flecken auf den Gegenhang, wo neben Caprese weitere Dörfer und Weiler in Eintracht mit von Hecken umfriedeten Weiden und Saatkulturen ihr Dasein fristen.
Mit dem Erreichen eines Stausees baut sich uns ein neues Landschaftsbild auf. Infolge Niedrigwasser schwingt sich eine Bogenbrücke mit vielen Pfeilern hoch über den Wasserspiegel. Nachdem wir sie überquert haben, gewahren wir Franz hinter uns. Auf einem Rastplatz tauschen wir unsere Erlebnisse der Vortage aus und vereinbaren, gemeinsam im Kapuzinerkloster oberhalb von Sansepolcro zu übernachten. Die zehn Kilometer lange ultraflache „Poebene“ bis zu unserer Bleibe erscheint endlos. Wir gönnen unseren schmerzenden Fusssohlen mehrere Pausen, entdecken aber an der Strecke weder Weiler, noch Bars, nicht mal eine Sitzgelegenheit.
Das Rifugio cappuccini überschaut die Stadt Sansepolcro und die unvergleichliche Landschaft dahinter. Die Terrakotta farbigen Dächer der Altstadt, wo keine prunkvollen Sakralbauten dominieren, die nähere Umgebung der Stadt, geprägt durch lichte Heine bis zu den juraähnlichen Gebirgszügen am Horizont: Die Toskana als Bilderbuch. Endlich hüllt die konkurrenzlose Abendsonne dieses Stillleben in eine wärmende Kulisse, eine Zeitinsel.
Neunte Etappe: Sansepolcro – Città di Castello
9. Etappe
Der Weg startet gleich mit 500 Höhenmetern auf den ersten zehn Kilometern. Der für den Tag angesagte Regen hält sich zurück, doch wir profitieren für den Aufstieg vom bedeckten Himmel. Bis zum Kloster Montecasale benutzen wir die steile Asphaltstrasse. In der Einsiedelei leben noch drei Mönche, satte fünfzig Prozent mehr als in Sansepolcro! Wir verlassen uns diesbezüglich auf die Aussage eines der beiden Überlebenden und verifizieren dieses zeitcharakteristische Phänomen nicht an Ort und Stelle, auch weil ein deutscher Schäferhund den Eingang bewacht.
Vom Kloster führt ein ausgezeichnet unterhaltener Wanderweg weiter bis zu einer Höhe von 800 m, einen Wert, welchen wir nach einem Zwischenabstieg nochmals erreichen. Just in dieser Geländesenke heisst es für Michiko die Schuhe ausziehen und barfuss durch die angeschwollene Furt waten.
Der Abstieg auf die Ebene zu den zehn letzten flachen Kilometern des Tages mündet in einer Fehlleitung, welche uns eine Stunde Umherirren im abschüssigen Wald beschert. Das Missgeschick wird mir insofern in Erinnerung bleiben, als irgendwo im Geäst meine Mütze vieler mehrwöchiger Wanderungen hängenblieb. Endlich am Talboden angelangt, bietet uns eine Frau Stärkung an, während ihr Mann mit dem Gartenschlauch unsere Getränkevorräte aufbessert. Regen setzt ein. Trotzdem versuchen wir Città di Castello zu Fuss zu erreichen. In einem Vorort sind wir der Willkür der Weg-Markierungen überdrüssig, wir setzen uns in eine Bar und warten auf den Autobus, der uns bequem in die 40’000 Seelenstadt befördert.
Zehnte Etappe: Città di Castello – Pietralunga
Von einer Königsetappe haben wir schon vor einer Woche gesprochen. Heute möchte ich diesen Titel nochmals vergeben. Wir überschreiten erstmals an einem Tag die 30-Kilometer-Marke. Und das bei ständigem Auf und Ab. Nach einem Drittel des Weges überrascht uns ein endlos scheinender Aufstieg, der uns acht Kilometer auf einem Bergkamm beschert. Auch dieser Abschnitt ist gewellt. Die letzten zehn Kilometer treiben uns Regen und Donnergrollen an. Bis Pietralunga steigt die Strasse nochmals vier Kilometer an. Ein leicht hinkender Hund hat uns seit Verlassen von Città di Castello für zwanzig Kilometer begleitet, verliert uns dann aber aus den Augen. Dutzende Vierbeiner verschiedener Rassen in Zwingern oder Umzäunungen beneideten ihn um seine Freiheit, oder schnaubten ihm Hasstiraden entgegen. Hundegebell stellte neben Vogelgezwitscher ziemlich den einzigen Lärmfaktor dar auf dieser Achtstundentour. Wir trafen keine Menschen, abgesehen von der Ausgangs- und Zielstadt.
Im grossen Unterschied zum spanischen Camino de Santiago bietet der Cammino di Assisi ganze Tagespensen an ohne eine Gelegenheit, sich unterwegs eine Stärkung in einer Bar zu gönnen, vergessen denn, Einkäufe zu tätigen. Man zieht an halb verfallenen Steinhäusern vorbei, als Rudere bezeichnet. Eine Viertelstunde später glaubt man an ein Déjà-vu, wenn eine fast identische Ruine auftaucht. Sie erscheinen gelegentlich auf der Wanderkarte, haben aber keine Namen, so dass man seine momentane geografische Position nur raten kann. Folgt mal eine Kreuzung mit einer Autostrasse, Bivio markiert, gibt es keine Hinweise, wohin diese führt. Es ist ratsam, sich selber um ausführliches Kartenmaterial zu kümmern.
Elfte Etappe: Pietralunga – Gubbio
Für einmal bietet die Wegbeschreibung eine Abkürzung an, die eine Stunde Zeitgewinn eintragen soll. Die schriftliche und grafische Marschroute kann man für jede Etappe einem separaten Flyer entnehmen. Diese praktischen Hilfen zeigen auch das Höhenprofil der Etappe auf und die Distanz vom Aufbruch bis zu den einzelnen Eckpunkten. Manche davon sind allerdings im Feld nicht benannt und daher nicht wirklich hilfreich. In der Beschreibung (italienisch) kann man dann etwa lesen, dass man „zwei Stunden und fünf Minuten nach Aufbruch“ die Gabelung links benutzen soll. Woher die Macher wohl wissen, wo ein Pilger dann gerade ist? Pilgern nach Stoppuhr?
Gubbio (Innenstadt 17’000 Einwohner) entpuppt sich als bislang schönste Stadt auf unserem Cammino. Mit einer gewichtigen Einschränkung: Motorfahrzeuge, wenngleich nur quer zum Hang und im Einbahnverkehr toleriert, vergällen das Flanieren in der Innenstadt. Diese klebt nämlich mitsamt engen Gässchen und zahlreichen Jahrhunderte alten Gotteshäusern, einem dominierenden Palazzo dei Consoli und ausgedehnten historischen Vierteln am Hang einer Bergflanke des Apennins in Umbrien. Die abschüssigen Passagen sind sehr steil und den Fussgängern vorbehalten. Wir kommen ins Schwitzen beim Hinaufkraxeln zum St. Antonius-Kloster, das Pilgerunterkünfte ohne Mahlzeiten vermietet. Dafür überblicken wir vom Fenster des von Dominikanerinnen geleiteten Hauses die Dächer der Altstadt und die weitere Umgebung. Der Hügelzug auf der Gegenseite ist zum Greifen nah, aber nur Minuten später entlädt sich ein Gewitter, welches unsere Neugier auf Sightseeing verzögert. Ab hier folgt Franz einem andern Weg, so dass wir ihn auf dieser Pilgerreise nicht mehr treffen werden.
Zwölfte Etappe: Gubbio – Valfabbrica
Leicht unterzuckert und dehydriert am Ziel der längsten Etappe: Wenn ich mich in dieser Verfassung dazu äussern müsste, ob die Begehung des Cammino di Assisi ein lohnendes Ziel sei, ich würde es klar verneinen. Es gibt schnellere Arten der Selbstkasteiung. Zehn Stunden für weit über 30 Kilometer, bei immer wieder einsetzendem Regen, ein nie enden wollendes Auf und Ab, mit Passagen in die hintersten Krachen eines Seitentals, um Stege und Brücken zu umgehen, und das bei vollends aufgeweichtem Gelände: Das geht an die Grenzen des Zumutbaren.
Just in einem steilen, vom Regen ausgewaschenen, lehmigen Pfad in V-Form zwickt es mich im Rücken, nachdem ich einen unkontrollierten Rückwärtsschritt einlegen muss. Ich merke sogleich, dass es sich um keine Bagatelle handelt, denn ich kann mich nur noch gebückt auf den Beinen halten. Es fehlen 15 Kilometer zum Tagesziel. Wie weiter, wenn ich auf fremde Hilfe angewiesen bin? Wo sind wir überhaupt und wie muss man sich eine Bergung in diesem Wald vorstellen?
Solange es steil aufwärts geht, hilft mir die gebückte Haltung beim Vorwärtskommen. Wir geraten an eine Kreuzung mit der asphaltierten Strasse, wissen aber nicht, wohin diese führt.
Daher setzen wir den Weg auf dem Pfad fort, der, wie uns scheint, eine beträchtliche Abkürzung zur Strasse verspricht. Eine Fehleinschätzung, verkriecht sich dieser doch erneut in die hintersten Ecken eines Seitentales mit abenteuerlichen Übergängen zum Gegenhang. Irgendwo reisst mir der Geduldfaden und ich kauere nur noch die Böschung hinunter auf die Strasse. Jetzt kann ich kontrollierte, gleichbleibende Fortbewegungsschritte machen, wodurch der Rücken allmählich schmerzresistent wird.
Stunden später treffen wir in Valfabbrica ein. Ich bewundere meine Frau, die den Tag einfach so weggesteckt hat, obwohl auch sie für die letzten zehn Kilometer nichts mehr zu trinken dabei hatte. Ein Gatorade, am Eingang des Dorfes erhascht, belebt unsere Geister bald wieder, doch ich bleibe dabei: Wer keine masochistische Neigung verspürt, hüte sich davor, den Cammino di Assisi kleinzureden.
Dreizehnte Etappe: Valfabbrica – Assisi
Ziel erreicht! Mission erfüllt! Auch die letzte Kurzetappe bietet nochmals Aufstiege über morastige Waldwege. Sie ist irgendwie repräsentativ für die ganzen ca. 300 Kilometer. Ein englisches Ehepaar mit seinem italienischen Begleiter leistet uns Gesellschaft. Die drei Personen wandern zwar nur über das letzte Teilstück, sie bleiben aber, ausser Franz, die einzigen Pilger, die wir auf dem Cammino angetroffen haben.
Bald taucht die Silhouette von Assisi auf und punkt 12 Uhr mischen wir uns unter die Tausenden Besucher der Basilika an diesem Sonntag. L’Assisiana, das verdiente Zertifikat, wartet abholbereit in einem Nebenraum der unteren Basilika, wir müssen nur unter vielleicht zwei Dutzend Faksimile Pergamentbögen jene mit unseren Namen suchen.
Meine bescheidene Quintessenz des dreizehntägigen Fussmarsches: 1 havarierter Rücken, 1 Mütze und 2 Kilogramm Körpergewicht verloren.
Michikos Résumé: „Einige Etappen sind so streng, dass man kaum Musse verspürt, den Weg meditativ anzugehen.“
Ähnliche Gefühle überkommen einem beim Eintreffen im bedeutenden Wallfahrtsort Assisi selbst. Unaufhaltsam strömen Menschenmassen durch die von Souvenirläden gesäumten Gassen in der Nähe der Basilika San Francesco. Auf dem Vorplatz hält der Lions Club eine Goodwill-Veranstaltung ab, mit Präsenz von TV-Kameras. Später produzieren sich Fahnenschwinger und Tänzerinnen unter dem Trommelfeuer von uniformierten Tambouren.
Nichtsdestotrotz überwiegen die religiösen Aspekte, auch angesichts des sakralen Charakters der Gemälde, welche auf die Besucher ebenso nachhaltig wirken, wie die Grabstätte des Hl. Franziskus in der Unterkirche.
Grabstätte des Hl. Franziskus von Assisi
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Italien in der Krise? Mehr als einmal sassen wir als einzige Gäste abends in einem Restaurant. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Einheimischen sehr spät auszugehen pflegen, während wir gleich nach Türöffnung um sieben oder halb acht hungrig waren. Apropos Krise. Etwa die Hälfte der durch uns bezogenen Dienstleistungen ist am Fiskus vorbei in die Schatullen der Anbieter geflossen, weil wir dafür keine beglaubigte Kassenquittung erhielten. Klöster und Hotels sind offenbar gleichermassen immer noch der Meinung, dass es sich dabei um ein Kavaliersdelikt handelt. Einige geben uns handgeschriebene Quittungen auf alten Formularen. Wir konnten nicht feststellen, ob nur Ausländern gegenüber so verfahren wird, denn wir waren häufig die einzigen Gäste überhaupt.
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35 Minuten Videosequenzen von fast allen Etappen / 35 minutes of video sequences covering most daily stages / 35 minuti di sequenze video:
https://photos.app.goo.gl/b2jhZEmV1Nw3WkWq5
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