19./21.7.2023. Zürich Flughafen. Mit Sohnemann Benjamin sitze ich bereits eine Stunde vor dem Boarding am Gate E53. Meine Frau Michiko wählte vor genau einer Woche denselben Flug und musste mehr als drei Stunden im Flugzeug auf das OK vom Tower ausharren. Trotz Ferienzeit erwartet der Beamte am Schalter diesmal keine wesentliche Verzögerung beim Abflug. Wäre mir dienlich, denn ich habe in Hongkong bloss 75 Minuten Zeit für den Anschlussflug nach Tokio. Die kritische Durchsage erreicht uns schon angeschnallt im Flugzeug, auf den Abflug wartend: Mindestens eine Stunde Warten, wegen «heavy air traffic over Europe». Mir bleiben elf Flugstunden bis Hongkong, um mir auszumalen, wie es dort weitergehen könnte. Es bleibt schliesslich bei der einen Stunde. Dann gibt der Pilot Gas, wie Benjamin anmerkt. In der Tat zeigt die Durchschnittsgeschwindigkeit zwischendurch knapp über 1000 km/h, wie wir dem Info-Bildschirm am Sitzplatz entnehmen.
Zum Glück ist in Hongkong das Abflug-Gate nach Tokio ganz in der Nähe des Ausstiegs bei der Einreise. Die Zusatzrunde entsteht durch die Checkpoints für Boarding Pass und Handgepäckskontrolle. Ganze 1880 erste Schritte im neuen Tag häufen sich so an. Benjamins Transfer zum Weiterflug nach Nagoya, zu seiner dort seit ein paar Wochen domizilierten Familie, sieht genügend Zeit-Reserve vor; trotzdem passieren wir die Schranken gemeinsam. Auch mir reicht es schliesslich zum vorgesehenen Flug nach Tokyo-Narita. Cathay Pacific, die Fluggesellschaft aus der ehemaligen Kronkolonie, möchte sofortiges Feedback zu ihrem Service erhalten. Der späte Abflug in Zürich und die engen Platzverhältnisse im Flugzeug sind dem Personal nicht vorzuhalten. Wir sind zufrieden.
Die Immigrationsdokumente für Japan konnten wir zuhause mit QR-Code vorbereiten. Das macht sich bezahlt, auch weil am frühen Morgen relativ wenige ausländische Passagiere anstehen. Mit einem Gratis-Shuttle wechsle ich zum Terminal 1, wo die Billig-Airline Peach Aviation beheimatet ist. Es ist ausserordentlich beeindruckend, wie hilfsbereit das Personal (meist weiblich) am Flughafen ist. Kaum dass ein Langnasen-Passagier mit suchender Gestik entdeckt wird, hellt sich die Miene der Dame am Info-Schalter auf, wird er als VIP behandelt. Und ihre Kompetenz ist verlässlich. Ich solle mir den Boarding Pass um 16:20 Uhr an der Maschine selbst ausdrucken. Das heisst, keine Minute früher. Wie sich zeigt, schielt männiglich auf die Uhr in der Halle und stürzt sich dann auf das Terminal, um die Platzkarte für den Flug zu ergattern. Anders wäre wohl ein Zweistunden-Flug nach Sapporo kaum für CHF 85.45 zu haben. Die Abflugs-Verspätung von einer Stunde nehme ich gerne in Kauf. Ich werde dadurch im Flug Zeuge eines spektakulären Sonnenuntergangs. Im Wechselspiel mit den Wolken projiziert die Sonne Märchengestalten an den Abendhimmel, was mir als Bewunderer eine Halsstarre einträgt.
Ich freue mich auf die Umarmung meiner seit einer Woche in Sapporo weilenden Frau und auf die erste warme Mahlzeit im Gastland. Es zeigt sich indes, dass nach Sonnenuntergang auch die Restaurants weitgehend dichtmachen. Infolge der langen und kalten Winter hat sich das gesellschaftliche Leben in Sapporo weitgehend unter den Boden verlegt, vor allem entlang der U-Bahnlinien, wo sich hunderte Verkaufsläden und Restaurants die Kundschaft streitig machen. Von unter der Erde unser Hotel für die nächsten Tage zu finden, fällt Michiko schwer, aber Einheimische helfen gerne beim Aufsuchen einer Rolltreppe an die Oberfläche. Beim gewählten Hotel wird auf Schnickschnack verzichtet, wer die Bettlaken selber herrichtet, wird mit einer Flasche Mineralwasser belohnt. Pyjamas, Einmal-Zahnbürsten oder zusätzliche Kissen kann man beim Empfang selber aus dem Wandgestell aufs Zimmer mitnehmen.
In der Zwischenzeit ist meine Familie aus der Schweiz eingetroffen. Simon ist mit seiner Familie aus Seoul angereist; Benjamin hat sich bei Yumie und den Sprösslingen Aline und Leon gemeldet und reist nach dem letzten Schultag von Aline heute an. Michikos Schwestern Sachiko und Machiko sind schon vor einigen Tagen aus USA gekommen und haben ihr dabei geholfen, Pendenzen zu erledigen, die sich seit dem frühen Tod ihrer Schwester Chieko vor einem Jahr angesammelt haben. Und nachdem ihr Bruder Hiroshi aus der Umgebung von Tokio ebenfalls angekommen ist, trifft sich die ganze Gruppe zum gemeinschaftlichen Mittagessen im traditionellen Sapporo Biergarten. Bei einem Dschingis Khan schichtet man vorzugsweise Schaffleisch nebst allerhand Gemüse auf einen mit Gas erhitzten gusseisernen Rost, der im Tisch eingebaut ist und, über die Dutzenden Tische betrachtet, wie ein Schildkröten-Defilee aussieht. Gerstensaft wäre das eigentliche Standesgetränk, wird in unserer Zwölfergruppe aber nur von meinem Schwager Hiroshi und mir begehrt.
Die drei Kinder Joel, Aline und Leon treibt es bald aus der rauchgeschwängerten Halle hinaus, wo sie von den Erwachsenen beaufsichtigt werden. Die jungen Familien ziehen sich dann in ihr jeweiliges Hotel zurück, nachdem man sich für morgen verabredet hat. Michiko und Machiko beschäftigen sich mit Kleiderwaschen, dann frönen sie dem Gemeinschaftsbad (Ofuro). So verbleibt Sachiko mit mir für einen Abendspaziergang durch den Odori-Park, der Sapporo in der Stadtmitte teilt und von mehrspurigen Strassen gesäumt wird. Diese Lunge der Millionenstadt ist heute von zigtausend Besuchern eines Bierfestes in Beschlag genommen worden. Die meisten haben einen Sitzplatz und die Bierseligkeit schon gefunden, andere stehen sich die Beine in den Bauch, um an die beliebte ‘Software’ zu gelangen. Auch Fleisch wird an Theken in Mengen begehrt. Der kilometerlange Park ist durch Querstrassen unterteilt, sodass die Abschnitte dazwischen den grossen Biermarken zufallen. Ganz am Ende des Parkes haben auch noch deutsche Biere Gastrecht auf einer ‘Wiesn’ gefunden. Es ist eindrücklich zu erleben, wie friedlich die Stimmung ist; keine Besoffenen, es liegt nirgends Abfall herum, obwohl man kein Depot für die Gläser und Humpen verlangt. Das Zürifest lässt grüssen.
22.7.2023. Heute trifft sich die Gruppe zum eigentlichen Zweck unserer Reise nach Japan, zur 1. Jahreszeit des Hinschieds von Chieko, Michikos jüngster Schwester. Wir schreiten zum Gemeinschaftsgrab der Akasaka-Familie auf dem riesigen Stadtfriedhof von Sapporo. Die Geschwister der an Krebs Verstorbenen haben das Grabmal aufwendig gereinigt und selbst kaum sichtbare Mängel fachgerecht beheben lassen. Die Sonne segnet den Gottesacker, ein onduliertes Gelände, das von nirgends ganz überblickt werden kann, das übersät ist von Tausenden von steinernen Grabmälern. Die Friedhofruhe wird einzig vom schrillen Zirpen der Grillen belebt. Die nicht orchestrierte Zeremonie widerspiegelt die unterschiedliche Betroffenheit der Mitglieder der Zwölfergruppe über den Verlust der zu früh Heimgegangenen. Kurze Wortmeldungen, auch nur Verbeugungen, die von den Kindern artig imitiert werden, ein Ave-Maria aus dem Handy, einige Verse in Sanskrit, runden die durchaus weltliche Zeremonie ab. Hier ist mein Beitrag, den ich nicht aus dem Stegreif abrufen kann:
If Chichan could speak to us now, she would say she is very happy that we all came together at her Memorial Day. Chichan cannot speak to us, but she is here among us. She was such a humble person, she always thought first about other people never about herself. And I am so glad, that we can show her our appreciation by coming together today as a group on this site. Michiko gets all the credits for initiating and organizing this unique event, almost day by day one year after Chichan passed away.
It is a wonderful tradition that many Japanese venerate their ancestors. Chichan decorated her house altar almost every day, offering presents to her father and mother. Maybe nobody will follow that tradition for Chichan, but important is that we remember her and believe that she is around. And I am sure she will watch upon us, so that we all have a marvelous holiday in Japan and then will return home safely.
Michiko and I on our pilgrimages, we experienced more than one critical situation. In the end they turned out positive. We are absolutely sure, mother Sumuyo-san, who is also buried here, intervened in the right way. The outcome in some cases was so astonishing that we couldn’t help seeing Sumuyo-san behind.
You may believe me to be on an esoteric trip, but the fact that our house elevator in Hergiswil stopped abruptly on the way upwards in the middle of nowhere with me trapped inside on the very moment Chichan died, was no coincidence. It never happened before or afterwards. Chichan announced her passing away to me, even though I learnt about the precise moment of her death only four or five days later.
Or this: Ever since last winter I had huge problems wearing shoes that did not hurt my feet. I thought I would have to go to Japan with my mountain shoes, the only pair that I felt comfortable in. I searched around in many shoe stores, including one in Germany. All of sudden I told Michiko, “Let’s go to the Mall of Switzerland” a place we had not been for years. A first shoe shop there measured my feet and observed my walking, but in the end, they did not find a suitable pair for me. We left the store only to walk into the adjacent one. At the entrance were displayed about 20 examples of the fancy ‘ON’-shoes with 30% discount. I picked one at random, asked for the partner shoe, and walked around in the shop. I did not take off that pair of sneakers until home. I did not have to Whatsupp to Chichan in heaven, maybe she felt sorry to have shocked me in the elevator and was eager to ‘remote control’ me into that shop…
Be it as it may, perhaps you give it a try next time you have a nasty problem. Ask Chichan, she has time. Amen.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen verabschiedet sich mit Hiroshi der jüngste Spross der Akasaka-Familie. Die Kinder vergnügen sich im Odori-Park, wo das Bierfest schon am frühen Nachmittag wieder die Tagesordnung bestimmt.
23.7.2023. Ein Tag zum Entschleunigen, Jetlag und kulinarische Anpassungen zu verinnerlichen. Meine drei Grosskinder geben den Rhythmus vor. Da liegt der Maruyama-Zoo genau richtig. Leon will alles sehen. Er krallt sich einen Übersichtsplan und folgt den Gehegen wie auf einem OL-Gelände. Im Zoo gibt es einen recht gut bestückten Kinderspielplatz, wodurch den Erwachsenen nur noch die Aufsichtspflicht obliegt, die sich angenehm von Bänken im Schatten von Koniferen wahrnehmen lässt. Die kleinen Kinder verhalten sich untereinander unglaublich sozial. Kein Gedränge, sie stellen sich in die Reihe, lassen einem Kleineren den Vortritt, wenn er schon länger ansteht.
24.7.2023. Unsere Söhne haben sich gestern verabschiedet und fahren fortan mit ihren Familien ihr eigenes Programm. Das Akasaka-Trio bleibt mir für die nächsten vierzehn Tage treu, oder eher umgekehrt. Bis wir morgen gemeinsam per Bahn gen Süden abreisen, bleibt heute ein Tag zur freien Verfügung. Vielleicht geniessen wir einen letzten angenehmen Tag, was die Temperatur angeht, Hitze und Schwüle sind angesagt auf Honshu. Wir lassen uns mit der Seilbahn auf den 301 m hohen Mt. Moiwa tragen, von wo die Zweimillionenstadt Sapporo einem Steingarten gleicht, ultraflach, mit wenigen herausragenden Gebäuden aber eindrucksvoller Ausdehnung bis in den Dunstschleier am Horizont. Die bewaldeten Hügel breiten sich im Rücken des Betrachters aus. Touristisch gibt der Moiwa nicht allzu viel her, man verkauft eben, was man hat. Unser Interesse an weiteren Ausflügen an diesem Montag hält sich in Grenzen. Den Hunger stillen wir mit einem Miso-Ramen im Stadtzentrum, wo solche Nudelgerichte einem Strassenzug den Spitznamen gaben. Dann steige ich noch kurz auf den Fernsehturm, um mich in luftiger Höhe von Sapporo zu verabschieden. Zurück im Hotel gehört der Ofuro zum täglichen Grundbedürfnis.
25.7.2023. Bahnhof Sapporo. Das übliche Kommen und Gehen vor acht Uhr morgens. Die Mehrzahl der Reisenden trägt eine Gesichtsmaske. Es scheint für viele Menschen ein Menschenrecht zu sein, vermummt herumzueilen, trotz der Schwüle. Beinahe alle huschen in Sneakers vorbei. Getränkeautomaten in jeder freien Ecke, Kioske zwischen den Aufstiegen und Rolltreppen, die zu den Geleisen führen. Rollende Texte von Info-Tafeln, alle zweisprachig, wie auch die Lautsprecherdurchsagen, immer mit dem Dank eingeleitet, JR (Japan Railway, die japanische Eisenbahn) gewählt zu haben. Hier startet unsere Reise südwärts. Sie ist durchgetaktet, jede Etappe mit reservierten Sitzen für die kommenden vierzehn Tage! Auf die schwülen 28 Grad Celsius im Bahnhof folgt die Fahrt im klimatisierten Zugabteil. Daran werden wir uns gewöhnen müssen oder eher dürfen, heute bis Hakodate, auf dreieinhalb Stunden Fahrzeit. Landschaftlich gibt die Strecke nicht viel Sehenswertes von sich, Laubwälder, grüne Felder, unterbrochen von Weilern in Billigbauweise, ohne Charakter; der Himmel bewölkt. Das Innenleben der fahrenden Sänfte hat gegenüber vor Jahrzehnten die Änderung erfahren, dass keine Fliegenden Verkaufspersonen mehr mit Esswaren und Tranksamen in den Zügen zirkulieren. Ausserdem sind jetzt die Durchsagen auch auf Englisch und Chinesisch. Noch ist es JR nicht gelungen, das Netz der Hochgeschwindigkeitszüge bis nach Sapporo zu erweitern. Auch so flitzen wir ganz flott durch die Gegend. Nach der Ortschaft Tomakomai folgen wir der Pazifikküste. Landeinwärts türmen sich jetzt bewaldete Hügel und Bergzüge auf. In Hakodate hat Michiko ein preisgünstiges Hotel gebucht. Dafür müssen wir fünfzehn Franken für die Aufbewahrung unseres Gepäcks bezahlen, als wir vor drei Uhr einchecken wollen. Die Stadt Hakodate ist zwanzig Bahnminuten vom Verbindungspunkt Shin Hakodate Hokuto entfernt, von wo der Seikan-Tunnel nach der Hauptinsel Honshu führt. Hakodate ist geschichtlich bedeutsam, weil sich dort die westliche Welt mit ihren Konsulaten, Kirchen und Wohnhäusern ansiedelte, als sich Japan der Welt zu öffnen begann. Auch die Seilbahn nach dem Hakodate-Yama hat ihre Talstation im historischen Viertel, weshalb wir aufsteigen und die Stadt als wie von zwei Meeresbusen in die Mangel Genommene betrachten. Nachtaufnahmen von oben sind der eigentliche Reiz des Hausberges, wobei Nebelschwaden die Idylle in Minutenschnelle trüben können. Als Wiederholungstäter verlassen wir die Aussichtsplattform vor dem Einnachten und stillen unsern Hunger in einer von zahlreichen Beizen im Hafenviertel. Im Hotel ist übrigens das Frühstück gratis. Und das Büffet wird reichlich gestürmt. Schade sind die Tomatenspaghetti, Hamburger und alle übrigen Speisen kalt. Dafür gratis und da kann sich niemand um einen Preisnachlass bemühen, der ohne Frühstück abreist.
26.7.2023. Unser Hochzeitstag. Der Tagesablauf ist in Japan anders als in Europa. Je nach Jahreszeit geht die Sonne wenig nach vier Uhr früh auf. Entsprechend ist abends eher Schluss. Wenn man da eine Bahnfahrt erst um neun Uhr beginnt, hat man bereits einen halben Tag Zeit eingebüsst. Heutiges Ziel ist Nikko in der Nähe von Tokio. Zunächst gilt es, die Meerenge zwischen den zwei grössten Inseln Hokkaido und Honshu zu unterqueren, was der Seikan-Tunnel ebenso souverän ermöglicht, wie der ähnlich lange Gotthard-Basistunnel.
Da ich mich in einer Blase befinde, wo mir die Akasaka-Schwestern fast alle Hindernisse abnehmen, hüte ich mich vor Kritiken. Japan als Reiseland war für mich an und für sich abgeschlossen, der Anlass zu dieser vielleicht letzten Reise hierhin aber zu stringent, um mit Flugscham abgeblockt zu werden. Entsprechend folge ich quasi als Blinder Passagier dem mit gehörigem Aufwand erstellten Plan. Dieser sieht heute so aus:
09:35 h Shin-Hakodate-Hokuto ab
12:29 h Sendai an
12:46 h Sendai ab
13:58 h Utsunomiya an
14:12 h Utsunomiya ab
14:58 h Nikko an
Unser Shinkansen ist schwach besetzt, zumal im Green Car (1. Klasse). Keine Fahrkartenkontrolle durch einen Kondukteur, der ja auf seinem mobilen Gerät sieht, welche Plätze reserviert sind. Auch entfallen die Fliegenden Verkaufspersonen, welche vor Jahrzehnten das Abteil im Fünfminutentakt betraten, sich verbeugten und ihre Ware anboten. Da alle Menüs aufwendig verpackt waren, blieb nach jeder Fahrt ein riesiger Abfallberg am Reinigungspersonal hängen. JR hat offenbar die richtigen Lehren gezogen und nebenbei Einsparungspotential entdeckt. Unser Shinkansen mit Endstation Tokio rast durch eine hügelige Landschaft, wo grün dominiert und häufige Tunnel für Abwechslung sorgen. Morioka ist die erste Grossstadt (300’000 E.) auf der heutigen Tagesreise, welche in Sendai (>1 Mio. E.) ihren ersten Unterbruch erfährt. Ab Morioka ist das Land durchwegs urbar gemacht, mehrheitlich flach, spärlich von Weilern mit ein- bis zweistöckigen Häusern bebaut. Ich entdecke nirgends Sonnenkollektoren auf den Dächern. In Sendai wechseln wir in einen Shinkansen, der uns in Utsunomiya den idealen Fahrplan bietet für die Anschlussfahrt im Bummler nach Nikko. Bevor wir so weit sind, halten wir ein paar Minuten in Fukushima, weit abseits des havarierten AKWs an der Küste. Die Landschaft ist jetzt viel abwechslungsreicher, vermutlich schwieriger für die ansässige Bevölkerung, vom Reisanbau zu leben.
Wir werden am Bahnhof Nikko vom Hotel Senhime (Prinzessin 1000) abgeholt, wo uns ein Zimmer angeboten wird, das mit japanischen Tatami-Matten bestückt ist und ausserdem zwei Single-Betten im gleichen Raum anbietet. Am Empfang erwartet uns eine Tasse Maccha (Grüntee in Puderform) und Süssgebäck. Zum Abendessen hat sich Michiko das Monats-Special des Hauses ausgewählt. Zwölf Gänge mögen’s gewesen sein, gereicht im Séparée; eine Hommage an unsern 43. Hochzeitstag.
27.7.2023. Nikko. Wer wenig Zeit zur Verfügung hat und unweit von Tokio einen kompakten Abrieb von historischen Bauten erhalten möchte, darf Nikko nicht verpassen. Eine Aussage wie: «Sag nicht WOW! bevor du nicht Nikko gesehen hast» passt zu diesem Ort, wo die wichtigsten Sehenswürdigkeiten im 17. Jahrhundert in Auftrag gegeben wurden und entsprechend jünger und farbiger wirken als kunsthistorisch wertvollere Sakralbauten in Kioto und anderswo. Ein Überblick gelingt in wenigen Stunden, ausserdem kann man der Bruthitze des Sommers im waldigen Komplex um einige Grade ausweichen. Michikos Schwestern sind Novizinnen in Nikko. Unser Luxushotel liegt am Fusse des ansteigenden Geländes dieses äusserst sehenswerten UNESCO-Weltkulturerbes. Der heutige Besuch enttäuscht mich auch zum dritten Mal nicht. Man kann sich nicht vollsaugen vom Überschwang an Bildern auf engem Raum. Riesige Zedern spenden Schatten und dämmen die bereits am Morgen lähmende Hitze ein. Bald mischen sich auch Schulklassen ins Bild. Ein paar hundert Steintreppen sind kaum zu vermeiden. Wer sich spezifischen Gebäuden eingehend widmen möchte, findet diese im engen Umkreis. Der grossen Mehrheit genügt wohl die fast kitschige Schönheit des Gesamtbildes im bewaldeten Hügel.
Um elf Uhr führt uns der Hotelbus an den Bahnhof zurück. Das Übernachten mit Dinner und Frühstück in abgezählten zwanzig Schälchen, Keramiktöpfchen, Tellerchen, war das Besondere dieses einmaligen Aufenthalts.
Unterdessen ruhen wir uns aus im Royal Park Hotel im Uferviertel von Yokohama, einer Viermillionenstadt an der pazifischen Küste. Meine ‘Girls’ meisterten die Umstiege im verkehrstechnischen Maloch Tokio mit Bravour. Wir nächtigen zweimal im 57. Stockwerk dieses Baus mit Vorzeige-Charakter. Abends bewundern wir die Skyline Yokohamas auf einer halbstündigen Bootfahrt durch die Bucht dieser lichterfrohen Grossstadt.
28.7.2023. Yokohama. Heute begeben wir uns ins Fegefeuer auf unserer Promenade in Küstennähe. Es ist 33 Grad heiss, aber der Wind ist unser Gefährte. Wir hoffen, bis Chinatown durchzuhalten. Das gelingt, auch dank Lokalen, die in günstiger Distanz voneinander Kühlung anbieten. Das Gedränge im farbenfrohen China-Viertel lenkt etwas ab von der Hitze; trotzdem weichen wir ihr aus in ein klimatisiertes Lokal im Obergeschoss, wo wir das Mittagessen einnehmen. Es bietet wie die allermeisten Hotels und auch die JR freies WiFi an, wodurch wir Sachiko und Machiko über unsern Standort informieren können. Dennoch treffen wir sie eher zufällig am andern Ende der China-Strasse. Noch ein paarmal retten wir uns vor der Hitze in einen Laden, ehe wir mit einem Taxi ins Hotel zurückfahren. Die drei Stunden bis sechs Uhr abends verbringen wir im Hotelzimmer, bis wir von Mr. Kenichi zum Nachtessen abgeholt werden. Er arbeitet im Business Trakt des Landmark Tower, wo unser Royal Park Hotel ab Stockwerk 50 eingenistet ist. Wir kennen Kenichi seit er in Luzern die Hotelfachschule absolvierte. Danach diente er jahrelang als Chef de Restaurant auf dem Kreuzfahrtschiff Asuka, das wir zufällig in Hakodate angedockt erblickten. Heute ist er im Unternehmen in der Verwaltung tätig, schielt aber nach wie vor auf die oft monatelangen Seereisen zurück.
Die Einladung zu einem typisch japanischen Nachtessen fängt damit an, dass Kenichi den Eingang in das auserwählte Lokal nicht auf Anhieb findet. Seine Frau Yu hat sich bei der Wahl des Etablissements durchgesetzt, sonst hätten wir im obersten Stock unseres Landmark Towers getafelt. Es wird ein Zehngänger, auf Basis von Meeresfrüchten. Der Tintenfisch als Auftakt schaut seine Gegenüber (uns) mit Todesangst und um Schonung bettelnd an, während er seine schleimigen Tentakel vorsichtig bewegt. Unsere Bedienung schenkt dem Tier keine Beachtung und fährt mit einer massiven Schere auf, um die Gliedmassen vom übrigen Körper abzutrennen und den Körper des Fisches auf den Grill zu legen. Dann folgen Mal für Mal andere Meeresfrüchte bald frittiert, bald roh auf stets neuem Keramikgeschirr, mit den entsprechenden Zutaten. Kenichi und seine Frau Yu, die sich auf dem Kreuzfahrtschiff kennenlernten, wo sie als Promoterin von Landtouren amtete, frönen wie ich dem Bier, Tochter Erika (13), Sachiko und Michiko ziehen nicht alkoholische Getränke vor. Sicher kein billiger Abend für unsere Gastgeber und gewöhnungsbedürftig allemal.
29.7.2023. Die Hitze bleibt uns erhalten, der Regen erspart. Damit können wir gut umgehen, denn heute sind wir die meiste Zeit in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Von Yokohama reisen wir nach Odawara. Dort deponieren wir unsere Reisekoffer im reservierten Business Hotel. Das Tagesziel: Der Ashi-See im Hakone-Gebiet. Hakone ist für viele Japaner – und augenfällig auch Ausländer – Synonym für Sommerfrische. Es sind private Anbieter, die für den Transport der Ausflügler zum See verantwortlich zeichnen. Von Odawara (200’000 E.) fährt der Zug bis Hakone-Yumoto. Dort übernimmt der Hakone-Tozan-Zug bis Gora, von wo eine Standseilbahn nach Sounzan führt. In Sounzan bringt Schweizer Technologie die Besucher mit einer Gondelbahn über mehrere Sektionen und ein Vulkanfeld mit fauchenden Fumarolen auf die Krete des Hakone-Bergs und weiter auf der andern Bergflanke hinab nach Togendai am Lake Ashi. Unterwegs taucht am Horizont wie eine Sphinx die Silhouette des Fuji auf. Michiko gönnen wir diesen persönlichen Höhepunkt, hat sie doch diesen magischen Vulkanriesen von 3776 m Höhe noch nicht mit eigenen Augen gesehen. Der Ashi-See wird von zwei Booten bewirtschaftet, die durch Farbe und Aussehen beliebte Fotosujets sind. Man kann auf ihnen ans andere Ende des Sees fahren und von dort über eine andere Strecke nach Odawara zurück gelangen. Dazu fehlten im Vorfeld die Detailkenntnisse. Den Rückweg über die gleiche Strecke kann auch Michiko geniessen.
30.7.2023. Sonntag. Ein neuer Tag unter strahlend blauem Himmel und 29 Grad um sieben Uhr früh. Viele Umstiege sind auch heute vorgesehen nach Kawaguchiko. Weil reisen nicht immer nur Honiglecken ist, hier etwas Details. Von Odawara bis Otsuki (Grosser Mond) können wir vom Komfort des Shinkansen profitieren. Die weit längere Wegstrecke verbringen wir in einem Bummler, mit einem genügenden Platzangebot für einen Sonntagmorgen. In Hachioji dürfen wir wieder reservierte Plätze unter JR-Regie einnehmen. Der Zug fährt bis an unser Tagesziel Kawaguchiko, aber nur bis Otsuki unter JR-Verwaltung. Deshalb werden wir unterwegs aufgefordert, uns in einen der drei vordersten Wagen zu begeben, wo wir vielen andern Reisenden auf den Füssen herumtrampeln. Mehr als eine Stunde ohne Aussensicht, quasi als Türsteher vor dem WC, während hinten Plätze frei wären. In Kawaguchiko dann das allgemeine Durcheinander vieler Ausländer, die für den privaten Streckenteil nachzahlen müssen und gleichzeitig mit den Angeboten des Platzes konfrontiert werden. So gibt es fünf Seen vor der magischen Kulisse des Fuji. Die werden von Bussen bedient; dazu gibt es drei Linien, eine blaue, eine grüne und eine rote. Man kann innerhalb von zwei Gültigkeitstagen alle Linien benützen und die Fahrt beliebig oft unterbrechen. Wir beginnen mit der längsten Busfahrt und finden kaum Sehenswürdigkeiten. Am Wendepunkt des Rundkurses halten wir Mittagsrast und vervollständigen den Rundgang anschliessend. Dort lassen wir uns vom Hotelbus abholen und erblicken den Fuji aus dem Hotelzimmer ‘oben ohne’.
31.7.2023. Kawaguchiko. Ein melonenfarbiger Himmel wölbt sich um 04:40 Uhr über den nackten Fuji. Um sechs Uhr früh umwandern wir den Kawaguchi-See, der durch eine grosse Brücke zweigeteilt ist; der kleinere Teil erinnert an den St. Moritzsee mit seinen drei Kilometern Umfang. Die übrigen lieblich in die Landschaft gepflanzten Bijous am Fusse des Fuji umrunden wir in Linienbussen. Bereits um die Mittagsstunde ist unser Soll erfüllt. Wir besorgen uns Lunch-Pakete von einem Conbini (Convenience Laden des täglichen Bedarfs) und verbringen den Nachmittag im Hotel beim «Well’n’Essen». Der Fuji macht sich rar, weshalb wir einen Ausflug mit der Seilbahn auf die Höhe abblasen. Zum Zeitvertreib drehe ich einen Werbespot für die Frankfurter-Wurst vom Conbini. Unter Aufbietung all meiner Japanisch-Kenntnisse begrüsse ich die potentiellen Viewer, zeige auf den Fuji, der wieder aus den Wolken hervorlugt: «Dieser Berg heisst Fuji … und diese Wurst heisst Frankfurter.» Dann schwenke ich auf eine dieser typisch japanischen Erfindungen, ein flaches Plastik-Ding, das beim Ausdrücken gleichzeitig Senf und Mayonnaise freigibt, und streiche den Inhalt auf das Wurstende. Dann beisse ich sie unter ‘hmm-Lauten’ an und wiederhole die Prozedur nochmals ausführlich und rühme ‘oishii’! (lecker). Dann zeige ich wieder auf den Fuji und schlussfolgere: «Der Fuji ist weit berühmter als diese Wurst, dafür schmeckt mir diese besser. Bon appétit!» Der Spot geht sofort viral und hat in kurzer Zeit über zweihundert Klicks auf TikTok.
Nachzutragen wäre, dass Sachiko fast täglich kleine Videoclips auf TikTok lädt und sich amüsiert, die Klickzahlen zu verfolgen. Nun bin ich also auch ein «Infulenzer».
1.8.2023. Sonnenaufgang in Kawaguchiko um 04.52 Uhr. In der Nacht zickzackten wortlose Blitze durch die pechschwarze Nacht. Unser Mastermind-Team Michiko und Machiko besprechen sich schon eine Weile, wie wir am besten nach Nagoya gelangen. Die Krux, es gibt keine Taxis am frühen Morgen und der Hotelbus fährt erst ab acht Uhr zum Bahnhof. Letzterer nimmt uns dann sogar um Viertelvoracht auf, was uns am Bahnhof die zusätzliche Option lässt, mit einem Linienbus mit Dutzenden von Haltestellen einen Shinkansen-Bahnhof anzusteuern. Die Temperatur vorerst angenehme 20-22 Grad, Nagoya meldet 34 Grad.
Im Shinkansen reicht uns eine Hostess ein Feuchttüchlein und sammelt nach einer Weile den Abfall wieder ein. Vom Zugfenster aus betrachtet, finde ich auf den vorbeiflitzenden Häusern kaum ein Dach auf einhundert mit Sonnenkollektoren. Gemäss ChatGPT nutzen die Shinkansenzüge die Bremsenergie, um einen kleinen Teil des Strombedarfs zu decken.
In Nagoya kommt es zum Auslandschweizer-Treffen mit meiner Familie. Benjamin reist an von Yokkaichi, wo Yumie Aline und Leon seit Mai für ein paar Monate eingeschult hat. Sie werden ab Ende Sommerferien wieder auf ihre Schweizer Schul-Gspänli treffen. Simon und seine Familie haben sich für den 1. August ebenfalls für den gemeinsamen Besuch des Toyota Commemorative Museum of Industry and Technologie eingefunden.
Toyota steht heute für Automobile. Der Begründer, Mr. Toyoda, fing aber mit Textilmaschinen an. Das Museum ist reich bestückt mit Exponaten aus den Anfängen der Textilindustrie. Auch die Geschichte der Automarke wird eingehend beschrieben und gezeigt, sodass bald die Zeit rar wird, um eine Sonderausstellung für die Kinder zu besuchen. Michiko erfüllt Trink- und Essenswünsche, bevor alle wieder ihr eigenes Programm fahren.
2.8.2023. Nagoya. Das Erste, was in Japan aufgeht, ist die Sonne. Heute um fünf Uhr. Dann muss man bis halb acht und länger warten, um für sein Frühstück eine Auswahl an Cafés zu haben. So bleiben die abends Dutzendweise um Kunden werbenden Essecken in Nagoyas Untergrundpassage beim Bahnhof geschlossen und wir entdecken gerade mal ein Café geöffnet um halb acht. Die Hochhäuser ringsherum ersticken jede Motivation, die Grossstadt zu Fuss zu entdecken, auch weil die Temperatur um acht Uhr bei 28 Grad liegt. Eine City-Tour ziehen wir uns hinein, sind dadurch sicher, nichts Wesentliches verpasst zu haben. Nach dem Mittagessen im 9. Stockwerk, Suppe, Kaffee, Softdrinks im Menü inbegriffen und im Selfservice erneuerbar, benützen wir die Rolltreppen in die unteren Etagen. Bei UNIQLO finde ich eine Wanderhose, die mich überzeugt. Die Umkleidekabine wird nach jedem Kunden gereinigt und der Kaufvorgang schliesslich vollautomatisch vom Kunden vollzogen. Noch immer weiss ich nicht, wie der Cash-Terminal den Preis meiner Hose herausgefunden hat. Man kämpft sich durch eine Reihe von Touch-Screens (ist man bereits Kunde, möchte man eine Einkaufstasche haben, etc.) und schliesslich zieht die Maschine die 5000er Note hinein und retourniert mit dem Kaufbeleg das genaue Rückgeld. Kein Anstehen, Automaten stehen genügend herum. Dieses Vorgehen wird auch in gewissen Hotels ähnlich gepflegt, sicher eine Nachwirkung auf Corona-Zeiten, wo Bargeld als Überträger stigmatisiert war.
In Kioto, unserer nächsten Stadt, entgehen wir dem Hitzeschwall und fahren im Taxi in unser SUPERHOTEL (so sein Name). Das Zimmer ist klein, aber alles Nötige vorhanden. Wie mancherorts üblich, kramt man sich am Empfang einen Bademantel, industriell verpackte Zahnbürsten zum Einmalgebrauch, jede Menge Cremes und Lotionen für die Damen. Ab 18 Uhr ist Happy Hour mit gratis Softgetränken, aber auch Pflaumenlikör und Sake, so lange es hat. Am Morgen wird ein Frühstücksbüffet angeboten und all das für unglaubliche dreissig Franken pro Gast und Nacht.
Kurz vor Sonnenuntergang sind wir am Bahnhof zurück und erreichen über zahlreiche Rolltreppen den Skywalk, ein begehbarer Korridor über den riesigen Stahlstreben des gemeinsamen Bahnhofs für Shinkansen und JR-Lokalzügen. Der Walk führt an Dutzenden Essmöglichkeiten vorbei. Mit der Sicht auf Kioto konkurriert der Skywalk mit dem Kyoto-Tower daneben, der allerdings kostenpflichtig ist. Simon meldet sich mit seiner Familie Minuten nach unserem Durchgang von einem der Essecken am Skywalk, aber am Gewimmel von Menschen und den Wartestühlen vor den Lokalen lohnt sich eine Suche nicht.
3.8.2023. Kioto ist die erste Adresse für ausländische (und einheimische) Touristen, die sich für geschichtliche Bauwerke Japans interessieren. Weil wir schon wiederholt hier gewesen sind, möchte ich, auch der Hitze geschuldet, nicht wieder dieselben «Muss» ansteuern. Simon weilt kurz vor dem Rückflug in die Heimat ebenfalls zwei Tage in Kioto. Um einen gemeinsamen Tag zu verbringen, treffen wir uns im Toei Kyoto Studio Park in Uzumasa. Um bei manchen Attraktionen aktiv mitzumachen, braucht es für gewisse Jahrgänge Mut bis Übermut. Es ist aber am Ende die Hitze, die uns anzählt und Mitte Nachmittag ins Hotel zurücktreibt. Bestimmt geht es Hunderten von Touristen ganz gleich auf ihrer Tempel-Jagd heute. Gemeinhin fühle ich mich in der Gegenwart von Japanern träge, unbeweglich, unfähig die filigranen Bewegungen zu kopieren. Das war schon früher so, könnte mit zehn Kilogramm weniger Körpergewicht allenfalls etwas kaschiert werden. Wenn jemand im Zugsabteil seinen Sitz Michiko anbietet, so freut mich das für sie, auch weil man mich daneben noch für rüstig hält, stehenzubleiben. Aber das eigene Alter nagt halt jedes Jahr mehr an der physischen Standfestigkeit, der Leichtigkeit, sich zu erheben. Unser unbeholfenes Anderssein fällt auf, wird aber von den Japanern ignoriert.
Kioto ist eine kosmopolitische Grossstadt. Das zeigt sich im Ausgang. Der Mix an jungen Leuten, die sich abends in den einschlägigen Quartieren und Lokalen finden, ist eindrücklich. Vergessen sind die Tempel, Schreine, Pagoden, Paläste, Torii. Im Neonlicht weicht jeder Gedanke an die Hitzeschlacht des Tages. Man fragt sich, ob wirklich die jahrhundertealten, teils überdimensionalen Tempelanlagen das Motiv ihrer Reise nach Kioto sind. Erstaunlich, wie viele Langnasen sich abends im Ausgang tummeln. Dabei fallen die Chinesen nicht einmal als Ausländer auf. Das Wort ‘Overtourismus’ wird nahbar.
4.8.2023. Kioto – Kanazawa. Zweistundenfahrt im Limited Express. Die zehn Fussminuten vom SUPERHOTEL zum Bahnhof Kioto reichen der Morgensonne, um mein Hemd waschreif zu nässen. Und Kanazawa zeigt schon jetzt 4 Grade mehr an. Freuen wir uns deshalb auf die Zeit vor der Ankunft, der Fahrt quer durch Honshu an das Japanische Meer. Ausgedehnte Reisfelder dominieren die Ebene. Wo sich bewaldete Hügel einschleichen, stehen dem Grundnahrungsmittel auf dem Talboden bescheidenere Parzellen zur Verfügung. Höher als zweistöckige Häuser findet man kaum, es seien denn Hotels oder stillose Industriebauten. Kunstvoll verspielte Dächer der vermuteten Oberklasse fallen auf, dominieren aber ebenso wenig, wie mit Sonnenkollektoren bestückte Dächer. Anlagen mit Solarpanels in Bodennähe der Fläche eines Fussfallfeldes blitzen hie und da auf. Der Biwa, grösster See Japans, begleitet unsere Fahrt während der ersten Stunde. Das Gesamtbild ändert nicht wesentlich nach Fukui (260’000 E.), der einzigen Grossstadt auf der heutigen Fahrt.
Kanazawa zählt eine halbe Million Einwohner. Entsprechend wimmelt es von Menschen am Bahnhof. Auffallend viele Westler auch hier. Unser Hotel, das Route Inn, ist bald gefunden und die Koffer hinterlegt, da erst ab 15 Uhr eingecheckt werden kann. Ähnlich wie in Kawaguchiko gibt es Linienbusse welche Rundkurse befahren; für 800 Yen gibt es Tageskarten zur unbeschränkten Nutzung innerhalb eines Tages. Wir drehen eine Runde, kaum gewillt vom angenehm klimatisierten Wagen in die Gluthitze zu wechseln. Dann visieren wir doch das Marktquartier an, es ist Mittagszeit. Beim 2. Versuch mit dem Bus torkeln wir beim Kenroku-Garten aus dem Fahrzeug und schleppen uns auf den Hügel, wo man uns den Eintritt erlässt, da wir uns über das Pensionsalter ausweisen können. Hier begegnen wir einem der ausgewiesen schönsten drei Gärten Japans. Dieses Prädikat ist absolut berechtigt. Das Schloss daneben erreichen wir über eine Brücke, ein Rundgang im riesigen Schlosspark weigert sich Sachiko mitzumachen, er wäre zur Hauptsache an der prallen Sonne.
5.8.2023. Eihei-ji. Wir haben zwei Nächte in Kanazawa gebucht, aber es macht keinen Sinn, weiter hier zu schmelzen. Da bietet sich Eihei-ji geradezu an. 70 Bauwerke sollen zum Komplex des Zen-Buddhismus gehören. Die Anlage lebt vom Tourismus. Wir müssen zurück nach Fukui und von dort Eihei-ji erreichen. Ich habe vor vielen Jahren dort einmal einen Tag und eine Nacht das Klosterleben ausprobiert. Die drei Akasaka-Schwestern kennen den Ort vom Hörensagen ihrer Vorfahren. Zeit also, dem Rom des Zen-Buddhismus nachzugehen. Bei der Ankunft mit Bus einer Privatlinie fehlen die üblichen Souvenirläden nicht. Der spirituelle Klosterkomplex muss ein Weilchen bergauf erwandert werden. Dort trifft der neugierige Tourist auf die Gelassenheit der Mönche, die den Rhythmus vorgeben. Die langen Gänge, Korridore, Treppen kann man barfuss, bzw. mit bereitliegenden Finken begehen und die Sakralräume besichtigen. Man überwindet dabei beachtliche Distanzen und Höhendifferenzen. Zu bestimmten Tageszeiten versammeln sich die Mönche in einsehbaren Räumen und begleiten ihre Gebete mit dem monotonen Klang aus Schlägen gegen eine dickwandige Glocke oder einen anderen Klangkörper. Die angereisten Touristen werden beim Begaffen der Zeremonie nicht behelligt. Etliche bezeugen ihre Referenz mit Verbeugungen unter Klappen der geöffneten Handflächen. Man riskiert, sich zu verlaufen, denn jedermann ist überlassen, in welche Richtung ihn die Neugierde treibt. Die Bauten sind aus Holz, die Böden blitzblank vom täglichen Bohnern durch die Mönch-Novizen. Ein aufklärendes Video zeigt diese angehenden Mönche beim Sprinten durch die Gänge, beim gleichzeitigen Berühren des Bodens mit Wischlappen in einer oder beiden Händen. Riesige Föhren leben in harmonischer Symbiose zwischen den verwinkelten Gebäuden im Hanggebiet. Ich entsinne mich, wie ich die Anlage nie verlassen habe, von meiner Einzelzelle durch endlose Gänge zu den Gebetsräumen geschlichen bin. Die Mahlzeiten wurden mir ins Zimmer gebracht, welches aussen meinen Namen in japanischen Schriftzeichen trug. Meinen drei Begleiterinnen hat der Besuch grosses Interesse geweckt und einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Nach einem leichten Lunch in der Nähe des Busterminals ändern die Damen den Plan und beschliessen, anstelle nach Kanazawa zurückzukehren, einen mondänen Küstenort am Japanischen Meer zu besuchen. Der entsprechende Linienbus fährt stundenlang mit uns Vieren und gelegentlich einem weiteren Gast aus der ländlichen Region, um endlich Tojinbo zu erreichen. Selbst etwas Küstenwind kann die sengende Sonne kaum beschwichtigen. Die Steilküste ist durch ausgewaschene Skulpturen geprägt, Sandbänke nirgends auszumachen. Dafür steigen die Besucher auf gesichertem Pfad ans Meer und werden dort von Ausflugsbooten erwartet.
Zurück in Kanazawa finden wir ein geeignetes Restaurant für unser Abschiedsessen, denn nach der morgigen Fahrt im Shinkansen nach Tokio verlassen Sachiko und Machiko unseren gemeinsamen Routenplan und fliegen in Richtung ihrer Wahlheimat USA.
6.8.2023. Sonntag. Der Frühstückstisch ist ein Büffet mit Selbstbedienung, das kaum Wünsche offenlässt. Am Eingang desinfiziert man die Hände. Dann fasst männiglich feine Plastikhandschuhe, man könnte ja beim Schöpfen mit Löffeln, Kellen, Salat-Klemmen, beim Hantieren mit Krug-Henkeln, Berühren des Sojasosse-Gefässes einen Virus einfangen oder hinterlassen. Manche Gäste erscheinen mit Gesichtsmasken, obwohl dies ausser in Gesundheitseinrichtungen nirgends mehr vorgeschrieben ist. Selbst Sachiko und Machiko tragen je nach Örtlichkeit Masken. Ich frage nie weshalb, es könnte die persönliche Intimität tangieren. An einer einzigen Hotel-Reception habe ich einen Angestellten ohne diese Verschleierung gesehen, es war ein Ausländer.
In Tokio visieren wir sogleich unser Hotelzimmer an, es liegt nicht im Zentrum, wobei dieses schwierig zu umschreiben wäre. Aber es liegt in der Nähe eines Bahnhofs, somit leicht erreichbar. Einziges Ziel heute: Der Skytree, den wir bei unserem letzten Besuch wegen des hohen Besucherandrangs nicht besteigen konnten. Vom unterirdischen Bahnhof Oshiage steigt man über Rolltreppen immer höher. Es wimmelt von Menschen, Souvenirläden, doch ein Schalter für Karten für den Skytree, Fehlanzeige. Irgendwann befinden wir uns an der richtigen Schlange, müssen mit 60 Minuten Anstehen rechnen. Mit den Fahrkarten begeben wir uns dann an den Haupteingang um dort zu erfahren, welches Zeitfenster wann Zugang zu den Aufzügen erhält. Auch dort gilt es wieder, eine Schlange abzuarbeiten, ebenso auf der Zwischenstation auf 350 m, da wir noch hundert Meter höher steigen wollen. Endlich ganz oben, beginnt es zu regnen, was die Sicht auf Tokio beeinträchtigt. Dafür zaubert die Sonne einen Regenbogen über das Häusermeer. Die Sicht ändert minütlich, was ich mit einer Zeitraffer-Aufnahme festhalte. Bevor wir wieder absteigen, vertilgen wir eine kleine Mahlzeit.
WCs sind in Japan ein Allgemeingut wie Wasser. Sie sind zahlreich, blitzsauber, überall gratis benutzbar und auf hohem technologischem Stand. Wo noch bei meinem ersten Besuch in Japan vor über 40 Jahren Plumpsklos ohne Sitzgelegenheit üblich waren, wo zu den ersten westlichen Modellen eine Anleitung gehörte, welcher Körperteil auf der Brille hinten, welcher vorn zu sein hatte, sieht man heute überhaupt nur noch Dusch-WCs in der Öffentlichkeit. Dabei ist die Bedienungsanleitung meist nur auf Japanisch und man tut gut, sich die wichtigsten Piktogramme zu merken. Das gehört zum Sauberkeitswahn des Inselstaates. Weshalb will man bei uns auch noch ein Geschäft mit dem Geschäft machen?
7.8.2023. Osaka heisst ab Tokio 2 Stunden 47 Minuten im Shinkansen. Erstmals wird etwas wie ein Frühstück im Zug angeboten. Anhand der frühen Uhrzeit sinnvoll. Wir entscheiden, im Bahnhof Shin-Osaka die Koffer zu deponieren, um ohne Gepäck Osaka-Luft zu schnappen. Von dort erreichen wir in wenigen Minuten den Bahnhof Osaka. Dort herrscht dasselbe Gedränge, wie in allen grösseren Städten. Ein patenter Anschauungsunterricht für jede Überfremdungsinitiative der SVP, obwohl hier die allermeisten als Einheimische auf Achse sind. Einen Sightseeing-Bus zu besteigen, scheint vernünftig, da wir keine bestimmten Ziele verfolgen.
Eine etwas schräge Geschichte betrifft das Abholen unsers Gepäcks, als wir Richtung Kansai-Airport aufbrechen wollen. Wir finden die Stelle nicht mehr, wo wir es eingestellt haben. Zum Glück machte ich ein Foto vom entsprechenden Ausgang. Nachdem wir unsere jeweils konträren Ansichten ohne Erfolg ausgetragen haben, zeigen wir die Aufnahme vom Ort zwei Uniformierten an einer Schranke. Ob diese von hier sei, fragte der eine zurück. Zusammen glaubten sie schliesslich, das Bild stamme wohl von Shin-Osaka; wir hatten auf dem falschen Bahnhof gesucht!
Die letzte Fahrt mit unserem Japan Rail Pass führt uns zum Kansai-Airport, eine Stunde von Shin-Osaka. Aus ökonomischen Gründen hat Michiko das Hotel nicht auf diesem von Menschenhand dem Meer entrissenen Gelände gebucht, sondern bei der letzten Haltestelle vor dem Endbahnhof. Das gewählte Hotel fällt sogleich durch seinen Namen auf: Henn na Hotel. Henn=komisch. Beim Einchecken finden wir heraus, was es dabei auf sich hat. Wir werden von Dinosauriern durch Wippen und Zähnefletschen begrüsst. Es gibt keine Interaktion mit Menschen. Der ganze Check-in-Ablauf wird im Dialog mit Computern erledigt. Der Ofuro in diesem Hotel stellt alle bisherigen öffentlichen Badeeinrichtungen in den Schatten. Das Prinzip bleibt dasselbe, man tritt nackt in einen Vorraum mit Schemeln zu jeder Brause, seift sich gründlich ein von Scheitel bis Zehen, braucht dabei zur Genüge vorhandene Shampoo, Conditioner, und Körpergelee. Dann duscht man alle Seifen ab und steigt ins heisse Becken daneben. Zuweilen sind Zusatzleistungen wie Sauna und Dampfbad vorhanden. Hier warten Dutzende von Brausen auf Gäste. Vom Bassin erhascht man einen WOW-Blick auf das Meer und den Tatzelwurm der geschwungenen Brücke nach dem Osaka-Kansai Flughafen.
8.8.2023. Kansai Airport. Heute ist Wasch- und Ruhetag. Morgen ist der Flugtag unserer ehemaligen Sapporo-Gruppe. Sachiko und Machiko fliegen nach San Francisco und Seattle zurück; Benjamin mit seiner Familie über Hongkong nach Zürich; Michiko und ich machen einen mehrtägigen Abstecher nach Taiwan. Wir haben uns einer japanischen Gruppe Touristen angeschlossen und bereisen mehrere Inselteile mit einem all-inclusive Arrangement. Es gilt, uns von der Japanreise zu erholen.
9.8.2023. Flug nach Taipeh. Auch am relativ kleinen Flughafen Kansai mit bloss zwei Terminals brauchen wir etwa zwei Stunden für den Slalomlauf zu allen Schaltern und Kontrollposten. Seit dem Verlassen des Hotels zählt das Handy 6700 Schritte. Einige davon gehen auf das Konto der Suche eines offenen Restaurants, da wir früh anreisen.
Taiwan empfängt uns mit der erwarteten Sommerhitze. Schon beim Landeanflug zeigt der Bildschirm die internationalen Flugverbindungen der Insel ab Taipeh. Es sind wenige, die letzte fliegt kurz vor Mitternacht nach Wien. Drei weitere Flüge sind nach China geplant, je einer nach Hongkong und Bangkok. Das ist politisch so gewollt, denn Festlandchina erhebt Anspruch auf Taiwan. Entsprechend unterhält Taiwan in Europa eine einzige Botschaft, nämlich zum Vatikanstaat. Ich vermute, dass die Taiwanesen sich dankbar zeigen jedem ausländischen Touristen gegenüber, der das Land besucht. Trotzdem werden allen Ausländern die Fingerabdrücke der Zeigefinger gescannt und das Passbild mit dem seines Trägers elektronisch abgeglichen. Ein temporäres Visum wird automatisch und unentgeltlich erteilt. Eine Kontrolle des Gepäcks findet kaum statt, doch schnüffelt ein Hund recht offensichtlich um meinen Rollkoffer.
Wir werden von einer Vertreterin der organisierenden Firma in Empfang genommen und in ein Hotel gebracht. Die Fahrt nach Taipeh erscheint schrecklich lang, aber das Programm des ersten Tages verlangt, dass wir gleich nach Ankunft im Hotel aufbrechen müssen nach Jiufen, ein kleines Bergdorf, das zur Zeit der japanischen Okkupation als Goldgräberort galt, heute eher bekannt ist als Originaldrehort des berühmten taiwanesischen Films «Eine Stadt der Traurigkeit» von 1989. Der steil ansteigende Weg durch verwinkelte Gassen ist über ein paar hundert Steinstufen zu schaffen. Geschafft sind wir ob der Bruthitze, doch die malerischen Teehäuser und Imbissstände, mit roten Lampions über den Plätzen verzaubern uns, umso mehr als der Sonnenuntergang einen Fernblick auf die zerklüftete Küste mit Inseln und Buchten erlaubt. Weiter soll das Programm eingehalten werden mit dem Besuch des Nachtmarktes von Taipeh, ein Muss gemäss Reiseliteratur. Die Hauptattraktion liegt beim Essbaren; unser Guide schwärmt auch von Massagen, die man nach einem anstrengenden Tag geniessen sollte und denkt dabei vielleicht an sich für die Vermittlung von Kunden. Durchgeschwitzt, wie ich bin, hätte ich Mühe, mich hinzulegen und dann mit denselben Klamotten per Taxi ins Hotel zurückzufinden.
10.8.2023. Gestern haben wir zwei Highlights ‘abgearbeitet’, heute sind drei weitere von sieben an der Reihe. Wir sind eine relativ junge Gruppe; bis auf eine Dame, welche die achtzig überschritten hat, sind Michiko und ich die ältesten Mitglieder. Unser Guide ist Taiwanesin mit ausgezeichneten Japanisch-Kenntnissen. Ich dagegen falle als Alien auf, der nur gelegentlich etwas von Michiko mitbekommt. Eine Chinesin aus Beijing, die mit einem Japaner verheiratet ist und schon mehrmals in Taiwan war, diesmal mit ihrer Tochter, kann mir dank hervorragenden Englischkenntnissen ein paar Hintergrundinfos liefern. Lang ist die Busfahrt nach Taichung (>1 Mio. E.), wo der Bus ein paar Minuten hält vor dem National Taichung Theater, das aber nur von aussen bestaunt werden darf.
In dieser Stadt nehmen wir das Mittagessen ein, bevor wir zum Sonne-Mond-See auf 748 m über Meer weiterfahren. Gewitterwolken drohen und leeren aus, just als wir das Fahrzeug verlassen. Es ist ein Sommerregen, der erste seit Reiseantritt vor etwa 14 Tagen. Er hilft die Temperatur zu drosseln, verhindert aber einen Spaziergang dem Ufer entlang. Eine mächtige Tempelanlage bietet uns Schutz vor dem Nass. Bislang waren religiöse Bauwerke eher Randerscheinungen; die Tempel am Sonne-Mond-See gehören somit in jedes Album der Besucher.
Unser Tagesziel ist die zweitgrösste Stadt Taiwans, Kaohsiung (1,5 Mio. E.). Die Hauptattraktion liegt, vom Regen verschont, in der Metrostation Formosa, wo der Italiener Narcissus Quagliata eine Glasmosaik-Installation geschaffen hat, die in gewissen Zeitabständen bewegte Bilder auf den Boden projiziert.
Doch kurz nachdem die Projektion startet, mahnt die Tour-Leiterin auf Aufbruch. Mit ihrem strengen Time Management hat sie den Tagesablauf im Griff, kann aber Staus auch nicht beeinflussen. Das Abendessen ruft, eine grossartige Abfolge von Gerichten, die Gaumenfreuden bereiten. Auch hier führt Jessica Regie, bestimmt die Tischordnung, rät sogar schon im Bus, auf Bier zu verzichten, um das unerfahrene Team des Restaurants nicht zusätzlich zu fordern. Trotz Regen schleppen wir uns anschliessend an die Küste, um nächtliche Bilder einzufangen.
11.8.2023. Kaohsiung, nach Taipeh zweitgrösste Stadt mit dem wichtigsten Hafen. Es regnet in Strömen bei 27 Grad. Wir werden zum Sanfong-Tempel gefahren. Er soll 1672 erbaut worden sein und verschiedene Stilrichtungen und Glaubensbekenntnisse bedienen. Für uns ist er einfach bunt und verspielt, um nicht barock zu sagen. Man darf ungeniert in den Gängen herumstöbern. Manche Besucher bezeugen ihre Referenz dem Haupt-Buddha und anderen Figuren durch Verbeugungen.
Als weiteres Fotosujet dient der Lotus-See etwas ausserhalb des Stadtzentrums. Hier säumen Tempel, Pagoden und Pavillons das Seeufer. Der Anblick ist einfach nur schön, trotz Regen und Schwüle.
Wir sitzen aber bereits wieder im Reisebus nach Tainan. In dieser viertgrössten Stadt (770’000 E.) ist schon das Mittagessen angesagt. Wir sind noch im Verdauungsprozess des üppigen Frühstücks. Im Termin-Clinch kann nicht jede Mahlzeit gleich goutiert werden, noch dazu, weil zwei Gruppen gleichzeitig im Restaurant eintreffen.
Rasant geht die Fahrt zwei Stunden weiter. Noch ein Tempel wäre jetzt wohl einer zu viel. Deshalb hält der Reisebus nicht des Tempels wegen, der bei einem Parkplatz steht. Wir begeben uns auf eine ‘Kreuzfahrt’ unter das Geflecht von Mangroven. Nicht immer ist der Wasserstand günstig, auch uns fordert das tiefhängende Geäst manchen Bückling. Mit Schwimmwesten und konischen Hüten ausgerüstet, wird diese farbenfrohe Abwechslung gerne als gefälliger Anlass verbucht.
Dann folgt die nächste Stunde im Autobus; man fragt sich, sind wir nicht bald in Taipeh. Ein weiterer Stopp mitten im Nachmittag verhilft uns zu etwas Fussarbeit. Wir arbeiten uns durch eine Marktstrasse, die erst am Erwachen ist. Dem Tempel am Ende dieser Meile lassen wir nicht mehr die Aufmerksamkeit angedeihen, die dieser vielleicht verdient hätte. Wir möchten schnell nach Taichung gelangen, denn von dort fahren wir im Taiwanesischen Shinkansen Richtung Taipeh. Leider bereits beim Einnachten.
In einer Stunde schafft es dieser Hochgeschwindigkeits-Zug bis an eine Station vor der Hauptstadt, wo uns ein Bus ins Grand Hotel fährt. Erbaut wurde dieser Prunkbau 1952 von Chiang Kai-shek, dem langjährigen Gegenspieler von Mao Tse-tung. Für uns eine würdige Bleibe für die letzte Nacht, an deren Ausstrahlung wir uns gerne sonnen, auch wenn das Nachtessen im Reiseprogramm nicht inbegriffen ist und hätte vorbestellt werden müssen.
12.8.2023. Das Frühstück im Grand Hotel lässt keine Wünsche offen. Man wird an einen Tisch geführt, bedient sich von geschätzten 12 Büffets. Hier gehören wieder einmal Gabel und Messer zur Tischgarnitur und zwar so währschafte, dass mir ein Messer (unbeabsichtigt) entgleitet und auf dem Marmorboden entsprechenden Lärm verursacht. Niemand beobachtet das Malheur, aber zwanzig Sekunden später reicht man mir ein neues Messer.
Der Nieselregen von gestern hat sich mit der Morgensonne vermählt, so dass sich ein heisser, schwüler letzter Tag in Taiwan ankündigt. Auf das Risiko hin, negativ aufzufallen, verlasse ich das Nobelhaus in Shorts. Im Privattaxi werden wir die 35 km zum Flughafen gefahren und von einer Mitarbeiterin des Veranstalters begleitet. Unterwegs hält sie bei einer Bank, damit wir den Geldwechsel vornehmen können. Wir ziehen die Nr. 25 in der Warteschlange, werden aber von der Begleitung an den wartenden Kunden vorbei direkt an den Schalter geführt und dort sogleich bedient. Dann kommt die Dame mit zum Flughafen und checkt unser Gepäck ein. Den gewünschten Fensterplatz gibt es nicht mehr, aber sie erreicht, dass wir beim Notausgang platziert werden, ‘da wir Englisch verstehen’. Erst jetzt verabschiedet sich die Dame und kehrt zurück an ihren Arbeitsplatz. Da sie recht gut Spanisch spricht, kann ich von ihr noch erfahren, dass sie als Taiwanesin ohne Visum nach Europa und Festlandchina reisen darf, (letzteres aber meidet, «weil die Chinesen Taiwan erobern wollen»). Vom Festland aus dürfen nur Geschäftsleute einreisen. Ich erzähle dies, um den Grad an Dienstleistungen zu dokumentieren, in unseren Breitengraden wohl undenkbar.
Der zweistündige Flug zurück nach Kansai-Osaka bei schönem Wetter zeigt in der 2. Hälfte des Flugs den interessanten Küstenverlauf Japans. Zu meiner Überraschung bewegen sich die ankommenden Fluggäste zum grossen Teil zu den Schaltern für Ausländer. Ich bringe es fertig, auf einen Schalterbeamten zu treffen, der Michiko bei der Gepäckausgabe eine Stunde auf mich warten lässt. Bereits das ältere Paar vor mir verweilt eine Viertelstunde in seinem Hoheitsgebiet. Als er dann auch noch mich auszufragen beginnt, zeige ich ihm die kalte Schulter. «Nein, ich weiss den Namen des Hotels nicht», «nein, ich kann meine draussen wartende Frau nicht anrufen, besitze kein Handy». Eine Lüge hätte wohl weitergeholfen, aber ich kann doch auch erst auf Hotelsuche gehen, nachdem ich im Land bin. Ausserdem besitze ich ja ein Visum. Irgendwann findet er den Familiennamen meiner Frau in seinem Computer, mit dem Vornamen der vor einem Jahr verstorbenen Schwester. Meine Zeigefinger möchte er auch noch einscannen. Als ich ihm stattdessen meine zwei Daumen auf die Linse drücke, erscheint plötzlich mein Konterfei auf dem Schirm. Kurz darauf fasse ich meinen Reisepass, den er mir ehrerbietig aushändigt, und verlasse wortlos unter Abscheu sein Revier. Auch hier die Schilderung nur als Anschauung, wie des Japaners Buchstabentreue seine unappetitliche Seite zeigen kann.
13.8.2023. Kansai – Narita-Tokyo. Die Überführung vom Flughafen Kansai-Osaka nach Narita-Tokyo ist nötig geworden, weil wir die Taiwan-Reise ab Kansai in Angriff genommen haben. Ab Tokio gab es zum Zeitpunkt der Buchung keine Tickets mehr. Da wir im Shinkansen ab Shin Osaka keinen Fensterplatz ergattern können, ist die Fahrt landschaftlich rasch erzählt. Die Reisenden am Fenster ziehen die Sonnenblenden runter. Erst als sich zwei Passagiere verabschieden und durch niemanden ersetzt werden, wechsle ich auf die vakanten Plätze für die zweite Hälfte der Fahrt nach Tokio. Es dominieren Reisfelder, die zwischendurch bewaldeten Hügeln weichen müssen. Einige Aren Landflächen mit ebenerdig bestückten Sonnenkollektoren fallen auf, dagegen haben Solaranlagen die Hausdächer noch recht spärlich erobert.
Weil es auf dieser langen Fahrt wenig zu berichten gibt, etwas zum Bahnverkehr allgemein: In Japan gelangt man durch eine elektronisch überwachte Schleuse zu den Zügen. Bei Passagieren ohne Ticket oder Ausweis schnappt die Schleuse zu. Dadurch braucht es im Prinzip keine Schaffner in den Zügen, denn ohne gültigen Ausweis kommt man auch nicht wieder aus dem Bahnbereich hinaus. Alle Fahrkarten haben dasselbe Format, unser 440-fränkige Japan Rail Pass ebenso, wie ein Ticket für eine lokale Fahrt. Ohne Grundkenntnisse der japanischen Schriftzeichen sind die Tickets kaum zu lesen. Beim Durchschreiten der Schleuse führt man die Fahrkarte in einen Schlitz, wo sie maschinell erfasst, kontrolliert, und im Normalfall anderthalb Meter weiter vorn ausgespuckt wird. Dort ergreift man das Dokument und benutzt es am Zielbahnhof, um den Bahnbereich durch die Schleuse in umgekehrter Richtung zu verlassen. Sollte das System bocken und den Gast einklemmen, was schon mal einen leichten Schock bewirken kann, dann eilt im besten Fall ein Überwacher herbei und hilft. Das ist auch mir einmal passiert; ich durfte dann an einem Schalter anstehen und eine halbe Stunde warten, bis ich an der Reihe war. Dann ging es schnell, der Beamte verglich, ob Nummern des Japan Rail Pass mit meinem Reisepass übereinstimmten, und druckte eine neue Version aus. Diese bewahrte ich ab sofort im Portemonnaie auf, geschützt vor direkter Nachbarschaft zu den Lesestreifen meiner Kreditkarten, und hatte keine weiteren Aussetzer. Ausländer mit einem Japan Reise Pass haben das Anrecht auf einen Sitzplatz im Zug, sie müssen dafür ein gratis Reservations-Ticket am Schalter verlangen, worauf u.a. Wagen- und Sitznummer stehen. Was ich erst am letzten Tag erfahre, weil wir ein normales Ticket kaufen müssen: Die Fahrkarte muss beim Einstieg zusammen mit dem Reservationsticket in den Schlitz der Schleuse eingeführt werden und zwar gleichzeitig, aufeinandergeschichtet. Weil ich das nicht weiss, schiebe ich nur die Fahrkarte ein, was bei der Abfahrt kein Problem verursacht, aber dafür beim Ausstiegsbahnhof in Tokio. Auch nach Aufklärung durch meine Frau lässt sich das Problem nicht lösen, weil ich beide Reisebelege schon in Shin Osaka hätte doppelt einführen müssen. Entnervt dränge ich durch die Barriere, zum Glück durch niemanden beobachtet. Am Zielbahnhof in Narita – wie könnte es anders sein – bockt das System erneut. Jetzt hätte ich drei Tickets aufeinandergeschichtet einführen müssen. Der Aufseher checkt kurz und lässt mich im Gedränge der ankommenden Bahnfahrer passieren.
Dergestalt endet unsere Reise nach Japan im Gedenken an Chieko, die uns allzu früh verlassen musste, die aber nach wie vor unter uns weilt und die Reise ihrer zwölf sie überlebenden Angehörigen wohlwollend begleitet hat. Arigato Chichan; R.I.P.
Copyright 2023 by Josef Bucheli