Kumano Kodo – auf historischen Pilgerwegen in Japan
2 05 20131. April 2013 -Anreise
Derweil uns eine A340 600 der Lufthansa Richtung Japan trägt, lohnt es sich vielleicht, niederzuschreiben, was ich über die nächsten knapp drei Wochen weiss. Auch deshalb, weil das sehr wenig ist:
Mit meiner Frau Michiko wandere ich auf tausendjährigen Pilgerwegen auf der japanischen Halbinsel Kii. Unsere Route führt auf ein paar hundert Kilometern über Pässe zu drei grossen und wichtigen Schreinen. Diese sind, zusammen mit den Pfaden, in das UNESCO Register als Welterbe eingetragen, als bisher einzige weltweit neben dem spanischen Jakobsweg, dem Camino de Santiago!
Zum Glück kontrastiert mein Wissensdefizit mit der schier beängstigenden Detailkenntnis von Michiko, die die genaue Routenplanung in ihrem Mini iPad auf sich trägt. Jede ‚Bodenunebenheit’, will sagen jeden Pass ab ein paar Dutzend Metern Höhe, kennt sie namentlich, sämtliche Unterkünfte für die nächsten drei Wochen hat sie gebucht und weiss, in welchen Hotels Wi-Fi zur Verfügung steht, usw. Meine Aufzeichnungen sind dem gegenüber nicht von Vorkenntnissen belastet, ich lasse die täglichen Wanderrationen zwischen 15 und 30 Kilometern auf mich einwirken.
2. April – Narita – Yokkaichi
Es sind die grossen landschaftlichen Reize nicht, die der erste Tag auf japanischem Boden verströmt. Gut vier Stunden Bahnfahrt sind angesagt im Anschluss an elf Stunden Flug. Das Wetter gähnt trüb und regnerisch durch das Wagenfenster, und wir übernächtigt zurück. Kernstück unserer Fahrt ist der Shinkansen von Tokyo bis Nagoya, er durchmisst die recht eintönige Ebene jenseits der Marke 200 km/Stunde. Es ist kaum übertrieben zu behaupten, dass die ganze Strecke vom Flughafen Narita bis zum Tagesziel Yokkaichi durchgehend urbanisiert ist. Abgesehen von Tokyo fallen vor allem ein- bis dreigeschossige Häuser auf, locker zusammen geflochten durch ein Wirrwarr an elektrischen Freiluft-Stromleitungen auf Dächern und entlang von Innerortsstrassen. Unberührte Landschaften, da bewaldet, erscheinen auf gelegentlich auftauchenden Hügeln, die wir im Schnellzugstempo untertunneln.
Grünflächen bilden Reminiszenzen an die früher dominierenden Reisfelder.
Yokkaichi ist die Heimatstadt von Yumie, der Frau von Sohnemann Benjamin. Sie traf just ein Tag vor uns aus der Schweiz hier ein und holt uns zum gemeinsamen Nachtessen mit ihrer Familie ab. In einem angesagten Restaurant geniessen wir einen rekordverdächtigen Vierzehngänger (!) in einer eigenen Essnische für neun Personen. Ich zähle die nach und nach aufgetragenen Gedecke, Tassen, Schälchen nicht. Bemerkenswert ist, dass einzig Yumies Vater und ich Alkohol trinken und zwar in Form von Bier. Die raffiniert zubereiteten Speisen werden häppchenweise aufgetischt, wie jene drei hauchdünnen Tranchen rohen Pferdefleisches, begleitet von einer japanischen Bouillon, angereichert mit Ingwer und Knoblauch.
In der chambre séparée des Gourmettempels
Im Yokkaichi Miyako Hotel verbringen Michiko und ich die erste Nacht, noch leicht beduselt von der langen Anreise.
3. April – Yokkaichi – Ise Naiku – Geku – Tamaru
In einer knappen Stunde im Expresszug erreichen wir Ise. In einiger Distanz zum Bahnhof befinden sich zwei religiöse Zentren. Mit insgesamt über einhundert Schreinen bildet Naiku den „Inneren Schrein“ und beheimatet die Shinto Gottheit, auf die sich die kaiserliche Familie beruft. Deshalb haftet der Anlage etwas der Stallgeruch der Politik an. Die japanische Flagge weht denn auch über mächtigen Nadelbäumen im ausgedehnten Park. Viele Besucher streben in Gruppen durch die Anlage, man weiss nicht recht mit welchem Ziel. Beim höchsten Schrein werden sie nicht eingelassen, auch Fotografieren ist in gewissen Zonen verboten. Die Schreine bestehen aus Holz. Sie werden periodisch ersetzt. 2013 ist ein solches Jahr. Gerüste verdecken noch den Blick auf die neuste Generation dahinter.
Ise, Innerer Schrein, Teilansicht
Naiku ist der Ausgangspunkt unseres Pilgerweges durch die Halbinsel Kii. Ein belebter Strassenzug mit Souvenirläden und Verpflegungsmöglichkeiten begleitet uns zu Beginn auf dem Weg nach Geku, der zweiten der grossen Schreinanlagen, in etwa vier Kilometern Entfernung. Wir müssen den Weg zum „Äusseren Schrein“ mehrmals erfragen. Wer kommt denn schon auf die Idee, zu Fuss dorthin zu gelangen? Unterwegs fallen Markierungen auf, wie viele Meter und Zentimeter man sich über dem Meeresspiegel befindet. Als die Zahl einstellig wird, beginnen wir uns zu fragen, wohin wir im Falle eines Tsunami rennen müssten. Geku jedenfalls würde geflutet. Ob das in seiner 1500jährigen Geschichte je der Fall war? Das Meer haben wir bislang nicht gesichtet und auf unserem abschliessenden Weg Richtung Tamaru gewinnen wir ein paar Höhenmeter und etwas Beruhigung hinzu. Der vorhergesagte Regen ist den ganzen Tag ausgeblieben, vermutlich dank des Sturmwindes, der uns an ausgesetzten Stellen beinahe zum Stillstand zwingt. Hinter meiner Mütze hetze ich mehrmals her. Der Grossteil des Auftaktweges führt durch Aussenquartiere von Ise. Das bedeutet enge Strassen, ohne Trottoirs. Eine einzige Wegmarkierung bestätigt, dass wir dem gewünschten Pilgerweg folgen. Im Ryokan, unserer Unterkunft, heult der Wind um die Wände.
Hanami – Kirschblütenschau
4. April – Tamaru – Misedani
30 km bei Sonnenschein, 20 Grad, nachmittags darüber. Ein Toge (Pass) steht an, der Meki Toge, 120 m, sonst mehrheitlich flach. Bis zum Fuss des Passes fragen wir uns durch und leisten uns dennoch Umwege. So klar, wie er auf Michikos Broschüre erscheint, ist der Weg in Wirklichkeit nicht. Man marschiert über weite Strecken auf dem Radweg entlang der Hauptstrasse. Der erste Toge ist uns Abwechslung und Erholung zugleich. Er überwindet etwas über hundert Höhenmeter und ist Teil der nicht zusammen hängenden Pilgerpfade mit UNESCO-Weihen. Auf dem langen Tagesprogramm queren wir manch ein hübsches Dorf. Jedes beeindruckt durch liebevoll unterhaltene Gärten, die ausschliesslich der Ästhetik dienen. Niedrige Nadelbäume finden sich ebenso darin, wie Blumenbeete; Gemüse wird nicht angepflanzt. Ein Segen für uns sind die zahlreichen Getränkeautomaten. Cafés passieren wir ab und zu, die meisten sind geschlossen.
Garten fürs Auge
5. April – Misedani – Ouchiyama
Beginnen wir mit einer „Lesson learned“: Wir wissen jetzt, wie wir das Tagesziel ohne Umwege ansteuern können. Man wandere auf dem Radweg, welcher der Überlandstrasse folgt und hauptsächlich von den Schulkindern benutzt wird. So kommt man auch vorbei an Cafés und Convenience Stores ‚Convini’ genannt, welche Güter des täglichen Gebrauchs anbieten. Alternativ hat man die Möglichkeit, durch die schmucken Dorfstrassen zu schlendern, welche von den Durchgangsstrassen gemieden werden. Weshalb keine Schilder die Anonymität dieser fast musealen Siedlungen enthüllen, entgeht mir. Man trifft kaum auf Leute und gewinnt zuweilen den Eindruck, dass die Zeit still steht. Ein Kran oder ein Gerüst fiele auf, wenn es denn das gäbe. Zwar gibt es auch Gebäude neueren Datums, aber sie haben die Bauweise der traditionellen Häuser bewahrt. Die Strässchen sind eng, wenig befahren und unglaublich sauber und gepflegt. Die Wasserläufe, die früher auf beiden Seiten der Dorfstrasse offen geführt wurden, sind mittlerweile zugedeckt, was ein Gewinn an Fahrbahnbreite darstellt. Ausnahmslos dominiert ein Spinnengewebe an Kabeln und Drähten die Strasse über den niedrigen Dachfirsten. Die Vermutung liegt nahe, dass man diese ästhetische Verschandelung infolge der permanenten Erdbebengefahr nicht unter die Erde verbannt.
Dorfstrasse – sparsamer Umgang mit Platz
Gleich am Anfang des Tages steht der 2. Toge an, Misesaka, 265 m. Man könnte ihn auf der Überlandstrasse elegant umgehen, aber das hiesse, auf ein Kernstück unseres Pilgerweges zu verzichten. Er ist steil, aber gut unterhalten und ausgezeichnet ausgeschildert. Wettermässig sind wir begünstigt: ganztags Sonnenschein, angenehm temperiert durch eine leichte Brise im Gegenwind. Leider sind nun zwei Tage Regen angesagt und wir haben erfahren, dass die Meteorologen bisher recht verlässliche Prognosen ablieferten.
Die Schnellstrasse hüpft quer über Tal und Dorf
6. April – Ouchiyama – Doze
Ein erinnerungswürdiger erster Halbtag, gefolgt von einem zum Vergessen. Angesichts der düsteren Wettervorhersage machen wir uns sehr früh auf die Socken. Der Tsuzurato Toge, 357 m, steht am Beginn unserer heutigen Wanderung. Wir profitieren vom Angebot unserer Gastgeber, welche uns im PKW an den Fuss des Passes fahren. Daher entschliessen wir uns für die längere von zwei möglichen Varianten und erspähen von oben erstmals das Meer. Neu ist, dass wir auf andere Wanderer treffen. Es ist Samstag. Als wir den Abstieg geschafft haben, setzt Regen ein. Wir erreichen das Dorf am Strand bereits triefend. Ich wäre bereit, unsere Bleibe irgendwie, nur nicht zu Fuss zu erreichen. Aber Michiko hat noch den Ikkoku Toge, 73 m, im Visier. Nach dieser Zusatzaufgabe verheddert sie sich beim Suchen unseres Minshuku. Unter strömendem Regen kann sie nicht auf hilfsbereite Leute auf der Strasse zählen. Wir waten entlang des Strandes, wir schleichen über die Tsunami-Schutzmauer, bis sie am Dorfausgang endet. Wir sitzen in der Patsche. Erst als wir unser Heil an der Route 42 suchen und dort an einem Haus anklopfen, kann man uns den Ort nennen, wo wir wenig später eintreffen, innerlich verschwitzt, äusserlich bachnass. In solchen Situationen möchte man sich Verkäufer von teuren atmungsaktiven Gore-Tex Textilien vorknöpfen und ihnen die Relativität der Wasserundurchlässigkeit beweisen. Ohne den Plastikregenmantel, für einen Franken in einem Hundert-Yen-Shop erworben: Geld und Pass wären wohl weich gewaschen.
Stillleben mit Pensionärinnen
7. April – Doze – Owase
Drei Toge bilden den Beweggrund heute. Der Himmel hat ausgeregnet, bis auf ein paar Spritzer, die uns hie und da zum Aufbruch mahnen. Alle drei Pässe lohnen den Besuch, Miura Toge, 113 m; Hajikami Toge, 147 m und besonders der Magose Toge, 325 m, denn letzterer ist fast zur Gänze mit natürlichen Felsplatten tapeziert. Dies schützt ihn gegen Erosion in dieser regenreichen Gegend. Die Pfade sind hinreichend ausgeschildert und bieten da und dort wunderbare Ausblicke auf die Küste und Felsinseln in den Buchten. Leider sind stundenlange Märsche auf der Route 42 zwischen den Pässen nötig. Ich beginne daran zu zweifeln, ob unser Stolz, die ganze Strecke zu Fuss zurückzulegen, Sinn macht. Ich würde mir ein nächstes Mal die Filetstücke – diese Pässe – aussuchen und mit dem öffentlichen Verkehr so nahe wie möglich an sie heranzukommen versuchen.
Felseninseln in der Küstenlandschaft
Nach dem Abstieg vom Magose werden wir in einer ‚Albergue’ erwartet. Das Ehepaar als Gastgeber hat den spanischen Namen und die Idee dahinter vom Jakobsweg, den es 2007 gemacht hat. Weil niemand sonst angemeldet ist, steht uns ein ganzes Haus mit Infrastruktur zur Verfügung, was Michiko als Waschtag nutzt.
Aufstieg zum Magose Toge
Das Abendessen verbringen wir im Haus des Ehepaares in den Siebzigern, welches neben der Albergue steht. Erfahrungen werden ausgetauscht. Ein Diavortrag über den Jakobsweg flimmert über den Fernsehschirm. Ausserdem beeindruckt man uns mit Detailkenntnissen aus Schweizerreisen von Luzern bis Zermatt. Stolz präsentiert man uns eine schwere Zinnkanne, grafiert Confoederatio Helvetica 1291 – 1991, mit sieben Bechern, die sieben Jahrhunderte darstellend. Zurzeit sind die Mitbringsel aus der Schweiz oxidiert und haben gehörig Staub angesetzt, sie seien aber früher zum Ausschank von Wein mit Freunden benutzt worden.
Schweizer Mitbringsel: Zinnkanne von der CH91
Nachts toben Sturmböen um die Albergue, so dass wir nur hoffen können, dass der Holzbau solches gewohnt ist.
E-mail nach Hause:
wir wandern, wandern, wandern
von einem ort zum andern
wir wandern über pässe
bei sturm und regennässe
schweiss uns aus den poren rinnt
sturmwind fast zum stillstand zwingt
wir wandern bis auf weiteres
wir wissen nichts gescheiteres…
8. April – Owase – Kata
Totale Flaute und blauer Himmel. Der Besuch der Albergue hallt noch nach. Die Wände im Essraum sind tapeziert mit Fotos, auch vom Jakobsweg. Auf einem englischsprachigen Zeitungsausschnitt entdecke ich unseren Gastgeber. Als ehemaliger Japanischlehrer habe er sich mit andern zusammen dafür stark gemacht, dass die Toge der Halbinsel Kii UNESCO-Weihen erhalten. Der Jakobsweg diente als Studienreise diesen Bemühungen. Die Zeit zerrinnt beim Fachsimpeln. Wir sind froh, dass man uns im privaten PKW an den Fuss des höchsten Toge fährt.
Dieser Pass ist durchwegs mit Felsplatten, nicht selten tonnenschweren, bepflastert. An steilen Stellen mutieren sie zu Stufen. Drei Pässe sind heute unser Ziel, bis wir nach über acht Stunden in unserem Minshuku eintreffen. Es liegt nur wenige Meter über dem Meeresspiegel. Da beruhigt uns halbwegs, dass wir den Futon auf den Tatamimatten im oberen Stockwerk ausbreiten dürfen. Es war 1944, als ein Tsunami die Unterkunft letztmals erreicht hat. Trotz des langen Tages schmerzen die Fusssohlen nicht im Geringsten. Ich führe das darauf zurück, dass wir kaum eine Stunde auf Asphalt marschieren mussten, die übrige Zeit über Stock und Stein wanderten. Bei diesen Pässen heisst es genau hinschauen. Vielfach sind den UNESCO beglaubigten Passagen unterschiedlich lange Zubringer vor- und nachgelagert. Aber selbst die Hauptpfade sind nicht immer Ziel führend beschildert. Es gibt überall hölzerne Hinweistafeln, welche in Metern und Minuten auf – ja worauf? – hinweisen. In 350 Metern Entfernung steht netterweise eine nächste Distanzangabe. Man möchte aber wissen, wie lange der Weg zum Pass oder hinab zum Fuss des Berges ist. Denkbar, dass an den angegebenen Zwischenzielen jeweils Tafeln mit historischem Bezug stehen, doch, wer schert sich darum? Da heute Montag und somit wieder ein Arbeitstag ist, findet sich keine japanische Seele unterwegs. Dabei gäbe es Legionen von Pensionären und das Wetter könnte besser nicht sein. Hier die bewältigten Pässe: Yakiyama Toge, 627 m; Miki Toge, 120 m; Hago Toge, 140 m.
Hinweistafeln auf dem Pfad
Das Nachtessen überbietet alles bisher Dagewesene. Wir befinden uns auf Meereshöhe, daher das volle Angebot an frischen Meeresfrüchten. Sushi Reis, eingehüllt in einen grätefreien, Silber glänzenden Fischleib, scheint besonders originell. Seit wir unterwegs sind, steht ausschliesslich Fisch auf dem Essensmenü, das im Preis der Übernachtung jeweils enthalten ist. Wer Fisch nicht mag, ist schlecht beraten, eine solche Reise zu tun.
Vor dem Minshuku in Kata
Leider kann Michiko ausgerechnet heute keine Lust empfinden an den Leckereien. Ihr Magen rebelliert, das hat sich schon tagsüber angedeutet. Andauernde Klobesuche die ganze Nacht sind die Folge.
9. April – Kata – Odomari
Geschwächt überspringen wir den Tag und erreichen das nächste Etappenziel mit der Eisenbahn, die unseren vorgesehenen Achtstundentag in einer Viertelstunde hinter sich bringt. Erstmals checken wir in ein Hotel ein. Der feine Sandstrand zwischen Meer und Tsunami Damm lädt heute niemanden zum Bade. Michiko glaubt, nach dem Deponieren unserer Rucksäcke wieder fit für einen kleinen Pass zu sein, wartet aber zunächst auf die Möglichkeit eines frühen Zimmerbezugs.
Tsunami-Mauer entlang der bewohnten Küste
Auf dem Sprung, die nähere Umgebung zu erkunden, gerate ich auf einen markierten Felsenweg entlang der Küste. Dieser bahnt sich, zum Teil mit Ketten gesichert, durch eine steile, vom Wasser und Wind ausgemergelte Porphyr Landschaft. Unter der Hintergrundmusik der verschmähten aufzischenden und brandenden Wellen an der zerklüfteten Steilküste öffnen sich Galerien mit überhängenden Dächern; Spalte von wenigen Dezimetern Breite über die ganze Felswand lassen das Meerwasser darin gurgeln. Enge Buchten geraten den anbrausenden Wellen zur Falle und lassen diese ihre Energie in hoch aufschiessenden Fontänen umsetzen. Das Naturspektakel der kahlen und porösen Vulkanfelsen endet in der nächsten grossen Sandbucht, welche ich nach einer halben Stunde erreiche. Die Passage ist unbeaufsichtigt und unentgeltlich begehbar. Nach meinen Ohren geschätzt, fotografieren ausser mir nur chinesische Touristen in dieser einzigartigen Stätte.
Steilküste als Naturatelier
10. April – Odomari – Shingu
Ist es nicht zynisch, zu vermerken, dass heute ausnahmsweise keine Pässe zu bewältigen sind und sich Michiko auf den fast dreissig flachen Kilometern entlang der Küste von ihren Magenproblemen erholen kann? Aber es kommt darauf hinaus. Den einzigen Pass umgehen wir, indem wir die gestern beschriebene phänomenale Klippenlandschaft in unseren Weg einbauen. Michiko ist ebenfalls begeistert davon, nachdem sie anfänglich den Aussagen Glauben geschenkt hat, dass die Passage gefährlich zu begehen sei. Dahinter öffnet sich mit Kumano eine grössere Stadt. Hunderte uniformierter Schulkinder strömen auf dem Fahrrad oder zu Fuss ihrer Bildungsstätte zu. Wo sind sie geblieben bis zum heutigen Tag? Allein mit den Frühlingsferien liessen sich die fast ausgestorbenen Dörfer nicht erklären.
Auf dem Weg ins neue Schuljahr, in Kumano
Die nächsten rund 25 Kilometer bis Shingu, unserem heutigen Etappenziel, bieten sich uns drei Alternativen auf einer Landbreite von vielleicht zweihundert Metern: Wir können den Tsunami Damm benützen, der das Hinterland vor Wellen bis zu geschätzten zehn Metern schützt. Von dort hat man den schier endlosen Sandstrand, das Meer und die Küstenlandschaft im Blickfeld. Hinter dem Betonwall breitet sich ein Laub- und Koniferenkorridor aus. Der mit Kies und Laub bedeckte Pfad darin bietet Schatten. Etwas mehr landeinwärts verläuft die Route 42, wo man in beruhigenden Abständen Getränkeautomaten und Convenience Stores findet. Wir bedienen uns abwechslungsweise aller drei Möglichkeiten. Vor allem die Büsche kommen Michiko gelegen, denn sie wird weiterhin vom Magen gestresst. Man kann sich schon fragen, worin der Reiz liegt, mit Rucksack bepackt durchzuhalten, wenn die Eisenbahn die gleiche Strecke bedient. Unser Hotel liegt denn auch in der Nähe des Bahnhofes. Vorgängig besuchen wir den Shingu Hayatama Taisha Schrein, eines der „Muss“ auf unserem Pilgerweg.
Vor dem Shingu Hayatama Taisha Schrein
E-mail nach Hause:
manchmal braust ein zug vorbei
der hätte schon noch platz für zwei
doch was ein echter wanderer ist
ein schelm, der so gedanken liest
zumal auf flachen küstenstreifen
wo düstere gedanken reifen
wir sind in der tsunami-zone
mit angst zu leben ist nicht ohne
Mit Pilgern im landläufigen Sinne hat unsere Wanderschaft allerdings nichts zu tun. Selten sehen wir überhaupt ein religiöses Symbol, sei es ein Tempel oder ein Shinto-Schrein. Tempel erkennt man daran, dass sie innerhalb des Grundstücks eine dickwandige Glocke beherbergen. Gegen sie kann mit einem aufgehängten Holzbalken geklopft werden, was dumpfe Töne erzeugt. Tempel gehören zur buddhistischen Glaubensrichtung. Kennzeichen eines Schreins dagegen sind zwei freistehende, senkrechte Pfeiler, verbunden mit einem Querbalken darauf, Torii genannt. Schreine gehören zum japanischen Shintoismus. Keine der beiden Religionen kennt eine formelle Mitgliedschaft. Also sucht man sich etwa einen Schrein aus für die Hochzeit und einen Tempel für Beerdigungen. Ohne mich zu sehr aus dem Fenster hinaus zu lehnen: Japan vermittelt den Eindruck einer post-religiösen Gesellschaft. Der Sinn für Werte wie Takt, Ordnung, Sauberkeit und Fairness im Alltag beruht auf einem anerzogenen ethischen Weltbild. Man besucht ab und zu einen Tempel oder Schrein aus Tradition. Gegenbeispielen von tiefer Gläubigkeit sind wir indes vereinzelt ebenfalls begegnet.
In der Mystik des Japaners nimmt die Ahnenverehrung einen wichtigen Platz ein. Ausdruck davon sind Hausaltäre in vielen Privatwohnungen, wo den verstorbenen Familienmitgliedern täglich Esswaren und Tranksame aufgetischt werden. Selbst ohne solche Äusserlichkeiten bewahrt Michiko ihrer heimgegangenen Mutter ein inniges Andenken. Kein Wunder ergeben sich Situationen, selbst beim Wandern, wo wir den Eindruck gewinnen, dass sie gegenwärtig ist…
11. April – Shingu – Katsuura
Wir ziehen die Lehre aus Michikos gestrigem Horrortag. Erst sehen wir uns Shingu in aller Ruhe an. Ein Schrein thront hundert Meter über der Stadt in der steilen Flanke eines bewaldeten Berges. Der Aufstieg erinnert mich an die Besteigung der Pyramide von Gizeh in Ägypten: Ein Fehltritt und du landest bestenfalls im Spital. Der erhabene Blick auf Shingu und die Bucht lohnt die Mühe. In der Stadt macht ein grösserer Teich mit einer schwimmenden Insel darauf von sich reden. Eine vielfältige Pflanzenwelt und sogar mittlere Bäume schaukeln darauf, ohne ihr Wurzelwerk in festen Grund zu treiben.
Shingu, steiler Aufstieg zum Kamikura-Schrein
Im Lokalzug nach Katsuura ersparen wir uns einen uninteressanten weil flachen Wandertag, damit sich Michiko vollends erholen kann. Im Wagen treffen wir ein junges Ehepaar aus Sydney. Es macht uns vor, wie man Zeit spart, indem es auf Übergangsstrecken konsequent auf Bahn oder Bus umsteigt. Der junge Mann hegt den Wunsch, die Schweiz zu besuchen, „sobald das Geld dazu reicht.“ Er hat noch nie Schnee gesehen.
Küstenlandschaft in Katsuura
In Katsuura fahren wir mit einem Pendelboot zum riesigen Spa auf einer Insel, auf welcher Michiko die Nacht gebucht hat. Sechs Bäderlandschaften buhlen um die Gunst der Gäste, die grösste ist eine Felsengrotte mit Sicht auf das Meer. Wir unternehmen einen einstündigen Bootsausflug entlang der zerklüfteten Küste zwischen dem Hafen und dem offenen Ozean. Obwohl das Schiff auf zwei Decks Platz für über hundert Gäste anbietet, sind wir die einzigen an Bord. Letztmals machten wir in Japan vor dreissig Jahren ohne weitere Gäste Sightseeing in einem 60er Autobus. Eines begreife ich nicht: Weshalb gelingt es der Tourismusbranche nicht, das Heer von Pensionierten mit speziellen Angeboten ausserhalb der Ferienzeit zu aktivieren? Die ganze Infrastruktur zielt ab auf die kurzen Wochen während der Schulferien, ausserhalb herrscht gähnende Leere. Heute leisten wir uns einen besonderen Leckerbissen mit einem Buffet zum Nachtessen und zum Frühstück. Dank Frühbuchrabatt kommt das Angebot im Thermalhotel auf günstige einhundert Franken pro Person.
Show: Thunfisch wird zerlegt zum Rohessen am Büffet im Spa
12. April – Katsuura – Nachisan
Emsiges Kommen und Gehen schon um halb sechs in der Frühe in den labyrinthischen Katakomben des Riesenkomplexes. Wie in einigen Metros der Welt streben die Badehungrigen anhand farbiger Streifen auf den Gängen den Hunderte Meter auseinander liegenden Badenischen zu. Die Männlein/Weiblein Schilder sind gegenüber gestern vertauscht worden, so dass man die jeweils andere Landschaft ebenfalls zu Gesicht bekommt. Die grösste Grotte liegt knapp über dem Meeresspiegel, im Aussenbecken kann man hie und da einen Spritzer der Brandung erwischen. 32 Stockwerke höher, inmitten von Laubbäumen, liegt das Bad mit Aussicht auf die Bucht und die Morgensonne.
Aussicht vom Dachstock des Hotelgeländes
Mit der Fähre erreichen wir nach dem ausgiebigen Frühstück das Festland und besteigen den Stadtautobus bis an die Stadtgrenze. Zwischen dem Info-Center und unserem heutigen Zielort führen acht Kilometer Marsch aufwärts. Ab dem Daimon Zaka Teahouse steigt ein breit angelegter, durchgängig mit historischen Steinplatten gepflasterter und durch mächtige Zedern bewachter Pilgerweg sechshundert Meter an.
Von mächtigen Zedern bewachter Aufstieg
Von hier weg ist das Meiste UNESCO-Welterbe. Im Minshuku Mitakisanso deponieren wir unsere Rucksäcke. Auf dem gut einstündigen Rundgang reihen sich die Sehenswürdigkeiten wie an einer Perlenkette. Die üblichen Souvenirläden weisen den Weg zum Kumano Nachi Taisha (Grand Shrine), und unweit daneben, dem Seiganto-ji Tempel mit Strohdach. Fotosujet ist hier alles, so auch ein Riesenbaumstamm, den man für Geld von Innen besteigen kann; in einiger Entfernung glänzt eine Dreifachpagode. Sofern man es klug anstellt, kann man neben dieser den Nachi-Wasserfall, mit einer Fallhöhe von 133 m der höchste in Japan, aufs gleiche Bild kriegen. Mit der Tagesration von gegen zehn Kilometern hat Michiko die Bestätigung, dass sie wieder auf dem Damm ist. Das Minshuku offeriert uns sein Zimmer mit Sicht auf den Nachi-no-taki Wasserfall.
Dreifachpagode mit Wasserfall
13. April – Nachisan – Koguchi
Um 05.33 Uhr bebt die Erde. Minuten später meldet der kommunale Lautsprecher, dass es sich um Stärke 4 handle und man nicht an den Strand gehen soll. Da wir ungefähr 300 Meter über Meer im Gebirge sind, muss sich die Zentrale wohl einiges von uns entfernt befinden. Alle Fernsehkanäle berichten über das Ereignis. Auf der Awaji-Insel, auf Sichtdistanz zur Küste der Kii-Halbinsel, liegt das Epizentrum mit Stärke 6. Die Fernsehbilder zeigen, wie die riesige Hängebrücke, welche die Hauptinsel mit Shikoku verbindet, regelrecht zittert, aber der Kommentator beschwichtigt, dass vor allem die Kamera schüttle. Es gibt keinen Tsunami-Alarm. Wir erinnern uns, dass wir vor genau 24 Stunden im Thermalhotel um diese Zeit in der Felsengrotte badeten. Ob sie diese Halle jetzt wohl evakuiert haben?
Der heutige Weg – Okumotori-goe – wird von Michiko als der anspruchsvollste bezeichnet. Bei schönstem Wetter wandern wir auf historischen Pfaden zwischen kerzengeraden Baumstämmen und gewinnen allmählich fünfhundert Höhenmeter dazu. Irgendwie stellt sich der Körper auf die gestellte Aufgabe ein. Gestern rund dreihundert Höhenmeter auf bloss acht Kilometer Weges waren eine reine Willensleistung. Heute null Probleme. Nun, nicht ganz. Für eine Strecke, die je nach Gangart in fünf bis sieben Stunden zu bewältigen wäre, führen wir mit je einem halben Liter zuwenig Getränke auf uns. Ein Japaner, der uns nach einem Drittel der Strecke einholt, schenkt Michiko einen halben Liter Wasser seines Vorrats. Er sei auf einer Trainingstour, um sich für höhere Aufgaben vorzubereiten, und führe deshalb auch Mehrgewicht auf sich. Er macht sich gleich auf den Rückweg zu seinem Auto am Ausgangspunkt. (Ein Fingerzeig von Mutter Akasaka?) Zusätzlich finden wir auf halber Distanz einen Getränkeautomaten, wir hatten damit spekuliert. Bloss ein Japaner überholt uns, ein Ausländer kommt uns entgegen. So ehren die Japaner ihr kulturelles Erbe, und das an einem Samstag. Im gestrigen Minshuku waren wir die einzigen Gäste gewesen, für heute seien vierzig Personen angemeldet, hat uns der Gastgeber verraten.
Okumotori-goe, manchmal steil, immer im Wald
Heute nächtigen wir im Community College der Gemeinde Koguchi. Man erwartet uns dort sehnlich und habe bereits nach uns geforscht.
14. April – Koguchi – Yunomine Onsen
Auch heute wieder, der echte Weg. Ausschliesslich im Wald, Steigungen und Gefälle lösen sich ab, dazwischen Passagen zum Erholen. Dass diese Pfade seit Tausend und mehr Jahren begangen werden und der natürlichen Erosion Stand gehalten haben, macht sie so einzigartig. Eine japanische Wandergruppe mit etwa zwei Dutzend Mitgliedern kommt mir entgegen; ein Sportler hat den Weg bereits im Laufschritt hinter sich gebracht. Dann nochmals ein junger Japaner mit einer Gitarre oder Geige im Kasten, den er zusätzlich zum Rucksack auf sich trägt, sonst alles Ausländer. Nach zwölf Kilometern endet der historische Pfad, der Kogumotori-goe. Hier warte ich eine Stunde lang auf Michiko, die ich ihrem eigenen Tempo überlassen habe. Als sie eintrifft, schlage ich vor, den Bus nach Yunomine Onsen zu benutzen. Somit können wir wieder einmal unsere Ranzen im Minshuku deponieren und den Pfad zum drei Kilometer entfernten Hongu Taisha Schrein unbeschwert in Angriff nehmen. Dieser erweist sich als sehr steil und nur in Einerkolonne begehbar. Wir überholen ein halbes Dutzend Gruppen, welche dieses Kernstück Pilgerweges unter Führung aber nicht immer mit geeignetem Schuhwerk abwandern. Alle stehen sie stramm zur Seite, wenn wir Vortritt verlangen. Beim Hongu Taisha bereitet man sich auf ein Fest vor, das am morgigen Montag steigen soll. In einiger Entfernung zu diesem letzten grossen Schrein befindet sich das höchste Torii Japans, umsäumt von Reisfeldern. Der Schrein stand früher hier, bis ihn ein Taifun zerstörte und dieser im abschüssigen Wald neu errichtet wurde.
Umsäumt von Reisfeldern: das höchste Torii Japans
15. April – Yunomine Onsen – Hongu – Chikatsuyu
Hongu erweist sich als Zentrum des Netzwerkes von Pilgerrouten auf der Halbinsel Kii. Von hier aus kehren wir in zwei Etappen an die Küste zurück, wo wir in Kii-Tanabe unsere Wanderschaft beenden werden. In der Nacht hat es einen heftigen Gewitterregen abgesetzt. Entsprechend verhangen und mystisch eingenebelt empfangen uns die Wälder im engen Talkessel. Seit zehn Tagen ist das Wetter kein Thema gewesen, hoffentlich bleibt es so. In Yunomine fällt als Erstes der Bach auf, der neben der schmalen Strasse eine Reihe alter Häuser ins Dorfbild einbezieht. Damit ein Trottoir Platz hat, wurde ein Teil des Baches überdeckt. Wenig unterscheidet die Idylle von einem italienischen Bergdorf in den Abruzzen. Man wundert sich, was für Diskussionen die Frauen im ausgetrockneten Bachbett führen. Richtig! In ihrer Mitte brodelt ein Brunnen mit übel riechendem Thermalwasser, und jede hat ein Netz voll Eier darin hängen. In Abständen konsultieren die Frauen des Dorfes mit Uhr oder Handy, ob die gewünschte Konsistenz erreicht sei. Auch wir entspannen uns in einem erdheissen Ofuro, eine allabendliche Prozedur, meist in geheiztem Wasser: Man entkleidet sich ausserhalb des Beckens, seift sich ein, schrubbt sich gründlich, duscht, und begibt sich anschliessend ins heisse Wasser, alleine oder zu Geschlechtsgenossen.
Yunomine Onsen, geduldiges Eierkochen im Thermalwasser
Kein Plan, der nicht eine Änderung erträgt. Statt einer langen Tagestour beschliesst Michiko, das Hongafest zu besuchen. Frühmorgens gleicht die Veranstaltung einem politischen Schaulaufen, dem kaum ein Potentat des Bezirks fernbleiben will, denn seit Tagen ist Wahlkampf. Der Festumzug findet am Nachmittag statt. Das bringt Michiko auf die Idee, wir könnten einen Teil der für heute vorgesehenen Strecke mit dem Bus fahren und anschliessend, von unseren Rucksäcken befreit, nach Honga zurück wandern. Gegen zwölf Uhr sind wir davon zurück und überholen unterwegs eine israelische Reisegruppe. In den Nebengebäuden des Honga-Schreins schminken sich kleine Mädchen und setzen sich Krönchen auf.
Kumano Hongu Grand Shrine
Die Parade beginnt beim Hauptschrein und bewegt sich die hohe Treppe hinunter. Es scheint keinerlei Anordnungen zu geben, jedermann kann sich aufhalten, wo es ihm passt. So finde ich mich von einer Meute von Kameraleuten umgeben, die erst abzieht, als der Kopf des Umzuges vor ihnen steht. Die farbenfrohen Uniformen der Kleinen ernten warmen Beifall, aber auch die heranwachsenden Jungen und Mädchen ergeben zahllose Fotosujets. Wir folgen dem Umzug eine Weile, reisen aber nach drei Uhr im Linienbus an unser zweitletztes Minshuku in Chikatsuyu.
Parade am Hongu-Fest: Schaulaufen
16. April – Chikatsuyu – Tanabe
Das letzte Teilstück wird nochmals sehr anspruchsvoll. Erst steigt der Pfad an, um dann abwärts zu führen bis zum Info-Center an der Strasse nach Tanabe. Nochmals dürfen wir auf dem Kumano Kodo wandern, der allerdings mit recht anspruchsvollen Passagen gespickt ist. Man kann unseren Endpunkt ebenso gut als Ausgangspunkt nehmen, was rund ein Dutzend Leute tun, die uns heute begegnen. Darunter befinden sich bekannte Gesichter. Japaner, die ihr Auto irgendwo parken, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln an eine Stelle fahren, von wo sie über die Pilgerpfade zu ihrem Vehikel zurückwandern. Ein Paar aus Yokohama wurde gestern von Michiko in die Schweiz eingeladen. Heute kreuzen sich unsere Wege und siehe da: es hat sich das Angebot überlegt und kann bei unserer zufälligen Begegnung bereits das genaue Datum angeben. Die zwei sind fest entschlossen, mit uns die Schweizer Berge zu erwandern.
Letzter Wandertag: knochiger Kumano Kodo
Unsere ganzen vierzehn Tage waren von beinahe idealen Wetterverhältnissen begünstigt. Hätten wir das eine Mal etwas smarter geplant, wir hätten den Wolkenbruch im Schutz des Minshuku erlebt. Kein einziges von der Schweiz aus reservierte Zimmer mussten wir annullieren, wir kamen immer an, einmal früher, das andere Mal später.
Innige Symbiose, letztes Bild auf unserem Pilgerpfad
Im Hotel in Tanabe stopfen wir unsere Rucksäcke zum Bersten voll, verstauen darin sogar unsere Wanderschuhe und senden unsere Habseligkeiten für weniger als dreissig Franken vom nächsten Convini ins Hotel beim Flughafen Narita. Wir sind jetzt Touristen für die nächsten drei Tage vor dem Rückflug. In einem guten Restaurant stossen wir an auf den geglückten Verlauf unserer Wanderschaft.
E-mail nach Hause:
wir haben es ans ziel geschafft
zu ende geht die wanderschaft
viel natur, kultur und freundschaft durften wir erleben
einmal gar ein leichteres erdbeben
etwas aufwand, gewiss, war unerlässlich
der benefit bleibt unermesslich
In Japan ist auf Pünktlichkeit Verlass. In einem Falle sassen wir in einem Linienbus und beobachteten, wie er unverhofft anhielt vor einer Kurve. Wie es sich zeigte, erwartete er den unsichtbaren Bus aus der Gegenrichtung, denn es gab keine Möglichkeit, in der Kurve zu kreuzen.
Toiletten sind beinahe ausnahmslos blitzsauber, reichlich vorhanden und immer gratis zu benützen. Man gewinnt den Eindruck, sie sind ein Menschenrecht.
Reinlichkeit scheint den Japanern angeboren. Zusätzlich zu einem Glas Wasser wird im Restaurant immer ein Feuchtigkeitstüchlein gereicht (dafür keine Serviette).
Nirgends hätte ich auch nur einen Zigarettenstummel auf dem Boden gefunden. Aller Müll – und es wird mächtig produziert – wird mitgenommen und sachgerecht entsorgt.
Allerdings: Beim Wandern entdeckt man ab und zu auch Todsünden: Halden etwas abseits, übersät mit alten Kühlschränken, Pneus, Autowracks und Aludosen.
17. April – Tanabe – Wakayama (via Shirahama)
Nieselregen am Tag darnach. Michiko will die Sehenswürdigkeiten von Shirahama vor unserer Abreise nach Tokyo in den Reiseplan einbauen. Shirahama heisst Weisser Sand. Vor dem Halbrund des Strandes mit dem auffallend weissen und feinen Sand reiht sich amphitheaterartig die Hotelfront. Michiko getraut sich als Einzige, ihre Füsse in die zahmen Wellen zu strecken.
Eine weitere Attraktion bilden bunte Felsformationen, ausgewaschen durch Jahrtausende währende, erodierende Wellenschläge gegen die Küste. Sieht spektakulär aus, wie ein Mini Grand Canyon. An einer anderen Stelle entlang dieser Küste führt ein Aufzug 36 Meter in den Felsen hinunter, Sandanbeki. Dort kann man die Brandung beobachten, wie sie sich, in eine Felsenhöhle verirrt, austobt. Und nochmals an einer anderen Stelle liefert ein durchlöcherter Felsrücken im Meer Fotosujets.
Küstenformation bei Shirahama
Am Nachmittag fahren wir im Zug nach Wakayama, der Hauptstadt der gleichnamigen Präfektur. Dort besteigen wir einen Nachtbus nach Tokyo, eine Zwölfstundenfahrt, etwa gleich lang wie der Rückflug in die Schweiz. Wir wählen dieses Transportmittel, weil es weniger als halb so teuer ist, wie der Shinkansen. Ausserdem sparen wir dadurch eine Hotelnacht.
Zug fahren will verstanden sein. Man kauft sich eine Fahrkarte. Zusätzlich benötigt man den Zuschlag für Limited Express-Züge. Will man sichergehen, kommt als drittes Papier der reservierte Sitzplatz dazu. Es lohnt sich, Einsparungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen. Als Fallbeispiel diene unsere Fahrt von Shirahama nach Wakayama, Fahrzeit im Limited Express 1 Stunde 14 Minuten: Fahrkarte 1890 Yen; Zuschlag 1360 Yen; Reservation 500 Yen. Man kann also fast 50 % sparen in einem Lokalzug, der indes etwas länger braucht.
18. April – Wakayama – Tokyo – Toride
Frühstück in der Tokyo Station. 1 Kaffee, 2 Toastbrote, 1 gekochtes Ei und etwas grüner Salat für weniger als vier Franken! Einer der weltgrössten Bahnhöfe entstand aussen neu im Retro Look. Innen verteilen sich die Fahrgäste ohne Hektik auf die verschiedenen Anbieterlinien. Cafés haben freie Plätze. Dem Architekten ist offenbar das geniale Kunststück gelungen, die gute alte Zeit nicht nur architektonisch zurückzuholen, sondern sie auch in den Rhythmus der modernen Menschen zu integrieren.
Aussenansicht Tokyo-Station, im Retro-Look
Wir verwenden keinen Halbtag um alle Eingänge und Geschäfte dieses Bahnhofes zu begrüssen, sondern marschieren einfach drauflos in die Stadt, Ginza und dem Kaiserpalast, bzw. dem kaiserlichen Park zu. Auf zehn Uhr sind wir zurück im Bahnhof Tokyo, auf der Suche nach einer Verbindung zu einem alten Bekannten. In wenigen Minuten stehen wir auf dem richtigen Perron, es herrscht kein Gedränge mehr um diese Zeit.
Kaiserlicher Park, Tokyo, Teilansicht
Yukio Mitsuhashi wohnte vor über 25 Jahren in Hergiswil, von wo aus er internationale Messen für seinen damaligen Arbeitgeber besuchte. Inzwischen hat er selbst eine Firma mit 36 Fest- und Teilzeitangestellten, die hauptsächlich Internet-Bestellungen entgegen nehmen. Er hat auch eine eigene IT-Firma rund um seinen Internetauftritt gegründet. Nach wie vor besucht er Messen, um neue Märkte zu erschliessen. Aus Kostengründen will er künftig vermehrt in Indien produzieren lassen, wobei er das Basismaterial, vor allem Leder, den Verarbeitern aus Europa anliefert. Mitsuhashi zeigt uns eine Auswahl seiner Produkte und erwähnt mit Stolz, was daran sein intellektueller Beitrag ist. Obwohl er heute auf dem Sprung nach Thailand ist, lässt er es sich nicht nehmen, uns mit seiner Frau Keiko zum Mittagessen in ein exquisites Tofurestaurant einzuladen. Er gibt freimütig zu, ein Workaholic zu sein. Er ist 64 und kann sich überhaupt nicht vorstellen, aufzuhören. Er freut sich jeweils auf die Sonntage, wenn er alleine und in Ruhe arbeiten kann. Zum Mittagessen gönnt er sich dann ein kleines Bier. Das Rauchen hat er aufgegeben.
Mit Yukio und Keiko Mitsuhashi im Tofurestaurant
Im Kontrast zu Mitsuhashisan fahren wir zum Abendessen und Übernachten zu Miyukisan, einer Klassenkameradin von Michiko im italienischen Ravenna von vor ein paar Jahren. Ihr Mann Kinya ist pensioniert. Das Paar hat vor 18 Jahren das zerstörerische Erdbeben von Kobe im 7. Stock ihres Apartmenthauses er- und überlebt. Als Verantwortlicher über die Filialen seiner Bank in Kobe blieb er daraufhin eine ganze Woche mit Wiederherstellungsarbeiten im Büro und das rund um die Uhr. Viel lieber aber schwärmen unsere Gastgeber von ihren Opernbesuchen in der Arena von Verona, der Fenice in Venedig und der Scala in Mailand. Der sportliche Pensionär hat sich für heuer zum Ziel gesetzt, 10’000 Kilometer mit dem Rad abzuspulen. Miyuki setzt sich ohne Zögern ans Klavier und begleitet sich selbst zu Arien, Canzoni und gar einem deutsch gesungenen Lied. Ausserdem profitieren wir vom Kochtalent der Frau, die weiterhin italienisch und englisch ab TV lernt. Kinya erweist sich als Hobby-Barmixer, seine Auswahl möglicher Cocktails beträgt mehr als ein Dutzend.
Miyuki und Kinya als Gastgeber
19. April – Toride – Tokyo – Narita
Es wird etwas länger als vorgesehen bei Miyuki. Dann fahren wir zur neuen Attraktion Tokyos, dem 2012 eröffneten Skytree. Die Etage mit den Restaurants überblickt die Hauptstadt aus 360 Metern, man kann von dort nochmals hundert Meter höher fahren, doch heute ist der „Himmelsbaum“ wegen Windes geschlossen. Allerdings nicht für Leute mit reservierten Tickets. Soll da einer drauskommen. Aber die Japaner verstehen es, aus einem Fernsehturm einen Event zu machen. Gleich daneben kann man in die „Himmelsstadt“ eintreten mit all den Souvenirständen und Restaurants. Die Sicht vom 31. Stockwerk ist wegen des Wetters nicht berauschend. Erstmals finden wir Ansichtskarten im Einzelverkauf.
Der 634 m hohe Skytree (Himmelsbaum) dominiert Tokyo
Wie es scheint, hat Japan hat das Post-Postkartenzeitalter eingeläutet. Bis zu diesem Tag fanden wir Ansichtskarten nur im Multipack, die eine oder andere war ‚brauchbar’. Hier endlich eine beschränkte Anzahl, dafür von hochwertiger Qualität. Die Marken allerdings muss man sich auf der Post oder im Convini besorgen. Bei letzterem fragt man mich, ob ich es wünsche, dass das Postwertzeichen gleich auf die Ansichtskarte (woanders besorgt) geklebt werde. Ein Beweis für die unglaubliche Dienstleistungsbereitschaft. Und jetzt stelle man sich den ganzen Papierkram vor: Die Ansichtskarte ist in einer Plastikhülle verklebt. Trotzdem wird sie nochmals in einer Tüte zusammen mit dem Kassenzettel gereicht. Genauso die Briefmarke, sie wird in einen kleinen Cellofan-Umschlag gehüllt und zugeklebt. Dazu wieder der Kassenzettel. Bestellt man zum Schreiben im Restaurant einen Eiskaffee, kommen dazu der Becher, die 2 oder 3 Rahm- und Sirupkapseln mit den Deckeli, das obligate Feuchtigkeitstüchlein und, man ahnt es, erneut ein Kassenzettel. Während des Schreibens fallen einige der ‚Zutaten’ beim geringsten Zugluft vom Tisch, was aber nicht sein darf. Man nimmt allen Abfall mit sich, um ihn sachgerecht zu entsorgen. All diesen Aufwand als Konsequenz der Absicht, eine Ansichtskarte zu schreiben. Und dann geht die Suche nach einem Briefkasten los. In der ganzen Skytree-Welt gibt es keinen solchen.
Der Skytree spiegelt in der „Himmelsstadt“
In einem von mehreren Ausstellungsräumen zeigt man das „Making of“ des Skytrees. In der Animé-Technik führt eine Kunstfigur auf der Leinwand durch die Säle und stellt zwischendurch Quizfragen. Auf einmal will sie wissen, wer den weitesten Weg zum Skytree zurückgelegt hat. Die Wahl fällt natürlich auf uns. Die Moderatorin fragt uns nach den Namen. Von jetzt an behält uns die Kunstfigur dank Gesichtserkennung im Blickwinkel. Hebt einer von uns die Hand, um ein Quiz zu beantworten, nennt sie uns namentlich in ihren witzigen Kommentaren. Wirklich lustig.
Auf dem Weg ins Hotel beim Narita-Flughafen sowie an der Nachtbar bleibt Zeit für etwas Manöverkritik. Alles ist planmässig abgelaufen, keine Reservierung musste abgeändert werden. Trotzdem würde eine Neuauflage unserer Reise wichtige Änderungen erfahren. Wir würden nicht mehr meilenweit auf oder neben Schnellstrassen gehen, dafür solche Strecken mit dem öV überbrücken und stattdessen weitere der historischen Pfade auf der besuchten Halbinsel berücksichtigen. Wir zeigten uns immerhin anpassungsfähig ab der zweiten Hälfte und bedienten uns ab und zu der Bahn oder eines Autobusses. Auf deren Pünktlichkeit war blind Verlass.
Unser Weg führte zu den pink unterlegten Städten
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