13.6. Fribourg – Autigny. Pfingstmontag.
Wir beginnen unsere Wanderung um 08:30 Uhr am Bahnhof Fribourg. Bereits nach einer halben Stunde erreichen wir die letzten urbanen Ausläufer der Universitätsstadt. Der Weg biegt in einen Wald. Am Waldrand passieren wir eine Gruppe deutscher Pilger bei der Morgenandacht. Vielleicht bitten sie um höheren Beistand beim Finden des richtigen Pfades. Michiko und ich jedenfalls verlieren ihn alsbald aus den Augen. Wir bewegen uns – unter Nieselregen – mehr als eine Stunde lang aufs Geratewohl über Wald- und Wiesenwege. Zwar stehen überall Wanderwegweiser, aber nur selten mit Angabe eines Zielortes.
Trotzdem stehen wir mit einem Male vor den Pforten des Klosters Hauterive, wo wir kurz Einkehr halten, ohne dabei auf jemanden zu treffen. Ab hier können wir uns wieder auf die Via Jacobi Kleber des Jakobsweges verlassen. Nach insgesamt sechs Stunden treffen wir in Autigny ein, wo wir übernachten. Obwohl wir unterwegs zweimal kurz gerastet haben, müssen wir an die zwanzig Marschkilometer in den Beinen haben. Nachdem unsere Reisebroschüre auf ganz andere Werte kommt, verzichte ich künftighin auf Distanzangaben.
Die liebliche Landschaft, in sanfte Höhenzüge eingebettet, stimmt uns frohgemut, erst recht, nachdem die Sonne das Szepter übernimmt. Die lokale Bevölkerung zeigt sich kaum an diesem Pfingstmontag. Stellvertretend geben schwarzweisse und rotweisse Fleckviehherden auf saftigen Weiden die friedliche Stimmung wider.
Frau Marie-Rose Schneider an der Route de Saint-Garin 21 in Autigny heisst uns herzlich willkommen vor ihrem Haus im kleinen Dorf, wo Einfamilienhäuser mit grosszügigem Umschwung die Umgebung prägen. Frau Schneider legt grossen Wert auf den persönlichen Kontakt zu den Pilgern. Obwohl sie nur Französisch spricht, im Gegensatz zu den meisten ihrer Gäste, welche deutscher Muttersprache sind, serviert sie jeweils abends einen Apero und unterhält sich mit ihnen, so gut es eben geht. Der Frühstücktisch ist reichlich gedeckt mit Brot, Butter, Konfi, Müsli, Cornflakes, Aufschnitt, Salami. Wir dürfen sogar belegte Brötchen als Wegzehrung mitnehmen. Alles zum B&B- Preis von vierzig Franken pro Person. Für Pilger, die länger unterwegs sind, besorgt sie auf Wunsch die Wäsche. Kein Wunder, liest man nur Lobeshymnen in ihrem Gästebuch. Sie habe ihren Lebtag nie woanders gelebt und möchte die Pilger einfach so behandeln, wie sie es an deren Stelle gerne hätte, gibt sie als Philosophie an.
14.6. Autigny – Bressonnaz. Achtstundentag.
Bis Romont vorbei an Häusern und Gehöften so individuell wie die Landschaft, mit der sie in augenweidlicher Symbiose leben. Unweit vor dem Hügel, der die Altstadt von Romont prägt, liegt die Abtei Notre-Dame de La Fille-Dieu. Es wundert uns wenig, dass wir auf dem Durchgang durch Kirche und Garten niemandem begegnen. Wir haben überhaupt kaum Einheimische erspät in den letzten zwei Tagen. Hier eine Hausfrau in ihrem grossen Gemüsegarten, dort ein Bauer auf seinem Monstertraktor auf der Strasse oder bei der Feldarbeit. Wir fühlen uns wie Feldherren, die ein Territorium ohne Widerstand einnehmen. Selbst in Romont, der Kanzel inmitten der lieblichen Weiten, kaum Verkehr in der Altstadt. Vom Schlossfenster aus geniessen wir die überwältigende Fernsicht über die Lande bis an die Voralpen.
Der Horizont weitet sich auf dem Weitermarsch aus und bietet eine Rundumsicht von den östlichen Freiburger Alpen bis an die Jurakette im Westen. Dann führt unser Weg in kurzer Zeit zweihundert Höhenmeter tiefer an das Ufer der Broye. Irgendwo unterwegs haben wir den Kanton Fribourg verlassen, zu sehen an den Waadtländer Kontrollschildern, vielleicht auch an den etwas nüchterneren Hausfassaden. An einem schattigen Plätzchen am Waldrand ruht sich die deutsche Pilgergruppe vom Vortag aus. Sie holt uns später wieder ein, als ich den eintreffenden durstigen Wanderern vor dem Café Fédéral meinen Bierhumpen entgegenstemme und ihnen zurufe:
„Kein Bier mehr hier, dieses war das letzte!“
Das könne sie als Pilger doch nicht treffen, glaube ich von einer Frau aus der Gruppe überhört zu haben. Der Weg bis Moudon führt am begradigten Broye-Ufer entlang. Das Waadtländer Städtchen Moudon, in welchem reger Feierabendbetrieb auf Strassen und Plätzen herrscht, besitzt eine Oberstadt, die über eine steile Strasse erklommen werden muss. Der Jakobsweg erspart uns diese Mühe nicht, obwohl wir vom Achtstundentag gezeichnet sind. Und so schleppen wir uns von der Oberstadt wieder ins Tal hinunter und zum Nachbarort Bressonnaz. Dort sind wir froh, an der Tür eines Hotels für Fernfahrer die Endziffer 1313 der Telefonnummer zu erkennen, die uns von der Reservation unseres B&B bekannt vorkommt.
15.6. Bressonnaz – Lausanne
In weitläufigem Zickzack über Feld- und Waldwege gewinnen wir allmählich an Höhe. Die Landschaft gleicht entfernt jener im Entlebuch, wo der gegenüber liegende Hügelzug den Blick in die Ferne einschränkt. Mit dem Erreichen der Kornkammer der Schweiz, wie man das nördliche Waadtland auch bezeichnet, erweitert sich das Panorama bis an die Jurakette.
Der Übergang von den Getreidefeldern zu den Weinbergen – was in etwa der Wasserscheide zwischen Rhone und Rhein entspricht – ist nicht direkt erkennbar. Unser Weg führt durch ausgedehntes Waldgebiet, was uns angesichts der sengenden Junisonne zupass kommt.
Dann gleisst uns der Spiegel des Genfersees entgegen, mit den Savoyer Alpen auf der französischen Seeseite. Wir folgen den Via Jacobi – Klebern bis zur oberen Endstation der Lausanner Metro, welche den beachtlichen Höhenunterschied von 400 Metern bis nach Ouchy am See für die Passagiere bequem meistert. Zu Fuss schaffen wir den Abstieg an die Avenue Léman in einer Stunde, wo uns Susanna erwartet. Auf dem Balkon im siebten Stockwerk verbringen wir einen gemütlichen Abend mit einem erhabenen Blick auf See und Berge. Als ihr langjähriger Arbeitskollege fehlt mir der Gesprächsstoff mit der Frührentnerin nicht. Schön, wenn mit der Pensionierung nicht sämtliche Kontakte abbrechen. Wir dürfen die Gastfreundschaft über das feine Nachtessen hinaus bis in den neuen Tag auskosten. Wir verabschieden uns nach dem Frühstück, ebenfalls auf dem Balkon gereicht.
16.6. Lausanne – Allaman
Genf hat seine UNO-Paläste, Lausanne sein Olympisches Museum an allerfeinster Hanglage vor dem Ufer des Lac Léman, wie der Genfersee in der Waadtländer Metropole genannt wird. Bereits kurz nach neun Uhr strömen Gruppen von Touristen aus Fernost in den Tempel der sportlichen Rekorde. Vor dem Museums-Eingang unterquert man eine fest installierte Hochsprunganlage, bei welcher die Latte auf Weltrekordhöhe liegt.
Javier Sotomayor Sanabria (* 13. Oktober 1967 in Limonar, Matanzas) ist ein ehemaliger kubanischer Hochspringer. Mit einem Olympiasieg, zwei Weltmeistertiteln im Freien und vier Weltmeistertiteln in der Halle ist Javier Sotomayor der erfolgreichste und beste Hochspringer in der Geschichte der Leichtathletik. Seine persönlichen Bestleistungen von 2,45 Meter (Weltrekord am 23. Juli 1993) und 2,43 Meter in der Halle (Weltrekord am 4. März 1989) sind die aktuellen Weltrekorde in dieser Disziplin. (aus Wikipedia)
Niemand muss sich bücken; Michiko reckt sich, um mit ihren Nordic Walking Stöcken die Querlatte auf 2,45 Meter Höhe zu berühren!
Vom Hafen Ouchy an westwärts ist der Uferweg grösstenteils öffentlich zugänglich. Grosszügige Parkanlagen werden von Schulklassen rege benutzt. Die Gruppe der deutschen Pilger von den Vortagen steht noch etwas unschlüssig an einer Strassenecke. Wir ziehen mit einem „auf Wiedersehen in Genf!“ an ihr vorbei.
Der Weg bis Allaman verläuft ausgesprochen flach, teils dem Seeufer entlang, teils in einer bewaldeten Zone. Später entfernt er sich vom See, worauf wir erstmals Rebbaugebiete zu Gesicht bekommen. St. Sulpice, Morges und St. Prex sind wohlhabende Ortschaften an unserem Weg, wobei Morges mit einem verkehrsfreien Strassenzug und einer Auswahl an Restaurants mit Aussenbedienung auffällt.
Nach St. Prex beginnt es zu regnen, was unsere Schritte in Richtung unseres Bed & Breakfast in Allaman trotz schmerzenden Fusssohlen beschleunigt. Gleich neben dem B&B steht ein unscheinbares Restaurant. Susanna war sich nicht sicher gewesen, ob es in diesem 400 Seelendorf überhaupt eines gibt. Bevor wir, unter Nieselregen, in das Haus stürzen, werfen wir einen Blick auf den Aushang: „Gault Millau 13“ prangt uns entgegen. Und als Konsequenz Preise, die das Pilgerbudget strapazieren. Etwas werweissend, erkunden wir das Dörflein nach einer Alternative. Ein junges Paar fährt uns spontan in seinem Wagen zum Bahnhof, wo wir uns unsere Gaumenwünsche auch pekuniär leisten können. Auf dem Rückweg regnet es stärker. Eine eben mit dem Zug angekommene Frau ruft unter einem Obdach ihren Mann an. Dann fragt sie uns, ob wir vielleicht in dieselbe Richtung gelangen möchten; wir nehmen ihr Angebot gerne an und steigen ein, als sie abgeholt wird. Erst jetzt erfährt sie, dass wir Pilger sind. Sie kennt die Frau, die uns beherbergt, und beabsichtigt ihrerseits, in Zukunft ebenfalls eine solche Dienstleistung anzubieten.
17.6. Allaman – Nyon
Den ganzen Tag liegt Regen in der Luft, er setzt aber erst in unserer Zielstadt Nyon ein, bzw. auf dem Weg vom Bahnhof Nyon bis zu unserem B&B im Grünen. Bis dahin haben wir uns das Wanderleben selber schwer gemacht. Nachdem wir irgendwo vom Jakobsweg abgekommen sind, haben wir uns in einen Loop begeben, der uns keine Alternative bietet, als dieselbe Autobahnbrücke nochmals zu queren, einfach eine halbe Stunde später. Nach dem Städtchen Rolle entfernt sich das Seeufer zunehmend, wir kommen es erst in Prangins wieder zu Gesicht, wo wir kurz das Schweizerische Landesmuseum besuchen. Ab Prangins bis Nyon ist das Seeufer durchwegs privatisiert. Die Küstenregion wird zusehends flacher und für Getreide- und Gemüseanbau kultiviert. Die vermuteten Weinberge haben sich in die Hanglagen zurückgezogen.
La Côte ist der größte Bereich und liegt westlich von Lausanne bis vor Genf nordwestlich des Genfersees und steuert 40% der Wein-Produktion bei. Wichtige Orte bzw. Appellationen sind Aubonne, Begnins, Bolle, Bursinel, Coteau de Vincy, Féchy, Luins, Mont-Sur-Rolle, Morges, Nyon, Perroy, Tartegnin und Vinzel. (aus Wikipedia)
Der Jakobsweg kommt nur marginal mit einigen dieser Weinanbaugebiete in Berührung.
Vom geschickt angebrachten Holzbalkon unseres geräumigen Schlafzimmers im Bauernhaus- B&B schweift der Blick ins Grüne bis zum Bois Bougy, einem Gehölz ein paar hundert Meter vor uns. Das unmittelbare Geräusch stammt von der Amsel im Gemüsegarten. Vogelgezwitscher von ein paar Laubbäumen wird vom durchfahrenden Zug unterhalb eines ausgedehnten Getreidefeldes übertönt. Ein dumpfer Grundton kann wohl der Autobahn zugeordnet werden, die noch etwas weiter unten, nicht mehr sichtbar, durchführt. Das eigentliche Brummen, einem Tinnitus ähnlich, kommt aus dem Bois Bougy selbst. Ob die Lärmquelle vom Wäldchen oder von der stark industrialisierten Region dahinter stammt, kann ich nicht ermitteln. Obwohl ich, abgesehen vom Hühnerschlag neben dem Bauernhaus, im Umkreis eines Kilometers keine weiteren Bauten sehen kann, schwant mir, wie die Umgebung dereinst aussehen könnte. Nur schon das grosszügige Maschendrahtzaun-Gehege des Güggels mit seinen Revierdamen könnte als Bauland Millionen einbringen, dasselbe der Gemüsegarten und erst recht das ganze Land, das zum Gutbetrieb gehört, nur Fahrminuten hinter der Stadt Nyon, welche sich zusehends in eine von internationalen Firmen und Organisationen (so der UEFA) begehrte Seegemeinde gemausert hat. Mit den üblichen Konsequenzen für die Bodenpreise. Ob die Krähe davon ein Lied singt, welche gerade mit ein paar Artgenossen über das strohblonde Weizenfeld jagt? Selbst die dunklen Regenwolken, die das Einnachten beschleunigen, können höchstens für morgen einigermassen gesicherte Voraussagen melden. Für die letzte Etappe unseres schweizerischen Jakobsweges bis Genf leider keine allzu optimistischen.
18.6. Samstag – Regentag zum Abschluss
Punkt fünf Uhr in der Frühe beginnt der Gockel mit dem Morgenappell an seine Untergebenen. Die Vögel haben sich schon eine Weile ausgetauscht. Der Tinnitus vom Bois Bougy kann jetzt dem Wind und Regen zugeordnet werden. Die kühle morgendliche Monotonie wird ab und zu durch das Säbelrasseln eines vorbeiziehenden Zuges unterbrochen. Wir sind zum ultimativen Test unserer Pilgertauglichkeit aufgerufen.
Nachmittags um zehn nach drei Uhr fährt der Intercity vom Bahnhof Genf Cornavin ab, direkt ins Herz der Innerschweiz zurück. Wir sitzen im Trockenen. Bis Versoix, etwa bis zwölf Uhr, wanderten wir ununterbrochen im Regen. Von ausgangs Versoix bis Stadtgrenze Genf verblieben noch acht Kilometer, die wir neben der pausenlos beanspruchten Überlandstrasse abstotterten.
Für Michiko war das letzte Teilstück das schwierigste, machten sich doch die Folgen eines unspektakulären Sturzes vom Vortag auf einer Seepromenade bemerkbar.
Jetzt, wo der Zug auf dem Rückweg in die Deutschschweiz an durchwanderten Ortschaften vorbeiflitzt, kommen Erinnerungen auf, die weit zurückzuliegen scheinen. So haben wir von Fribourg bis Nyon weder eine Migros- noch Coop-Filiale gesehen. Das stellte uns vor die tägliche Alternative, uns an den zahlreichen Brunnen zu laben, oder uns in Restaurants am Wegrand zum Volltarif die nötige Erquickung abzuholen.
Wir fühlen uns ausgepumpt. Am Ziel einer mehrtägigen Wanderung sind wir jedes Mal angezählt. Das wäre nicht anders, wenn wir den ersten Teil, von der Innerschweiz bis Fribourg, mit dem zweiten, Richtung Genf, in einem einzigen Anlauf unter die Füsse genommen hätten. Ich vermute, Karl-Heinz hat in Genf wohl keine besondere Emotion gespürt, weil sein Ziel nicht die Calvinstadt, sondern Santiago de Compostela hiess. Wir hatten ihn im März auf der ersten Teilstrecke getroffen und sind bis Fribourg zusammen gewandert, siehe http://joe.tyberis.com/swisscamino1 Karl-Heinz hat Santiago de Compostela am 26. Mai erreicht.
Meine Frau schmiedet bereits Pläne, den Jakobsweg durch Frankreich anzugehen. Und das ungeachtet der Schmerzen, die sie beim Gehen im Brustkorb verspürt, als Folge ihres Sturzes. Wandern macht süchtig.
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