6.6.16 / Rorschach – Herisau
Nun wandern sie wieder!
Ungeduldig das Ende der gegenwärtigen Schlechtwetterperiode abwartend, oder ein Schönwetterfenster darin erspähend, drängt auch Michiko zum Aufbrechen. Mangelhafter vorbereitet als jemals zuvor, besteigen wir den Frühzug nach Rorschach am Bodensee, im Visier den Jakobsweg von dort in die Innerschweiz. Null Trainingsstunden in den Beinen. Nichts weiter in der Tasche, als eine dünne „Wegleitung für Pilger“ über den sog. St.-Galler-Weg. Heute als Auftakt Rorschach – Herisau, Richtzeit sechs Stunden. Wanderstöcke und Schrittmesser zu Hause verschwitzt.
Beim Zwischenhalt des Zuges an der Station Rorschach Stadt, streben wir aus dem Wagen. Doch diese Haltestelle wirkt so eng und provinziell auf uns, so dass wir vor der Weiterfahrt des Zuges gleich wieder aufspringen. Der nächste Halt ist Rorschach Hauptbahnhof und hier endet die Fahrt für uns. Wir handeln uns dadurch etwa zwei zusätzliche Fusskilometer ein, folgen eine Zeitlang der Bodensee-Uferpromenade auf der Suche nach dem Jakobsbrunnen, traditioneller Ausgangspunkt dieses Zubringers des europaweit verzweigten Netzes internationaler Jakobswege zur westspanischen Pilgerstadt Santiago de Compostela. Die steinerne Statue über dem trockenen Brunnen liegt noch im Schatten eines nahestehenden Gebäudes, als wir uns auf den gut ausgeschilderten Weg machen. Nach kaum zehn Minuten Fussweges erreichen wir die Haltestelle Rorschach Stadt, wo wir eine Stunde zuvor kurz ausgestiegen waren.
Sanft steigt der Weg an, als wir durch die Aussenquartiere Rorschachs wandern. Dann überbrücken wir eine lärmgeplagte Autobahn und tauchen alsbald hinter dem Schloss Sulzberg in eine abwechslungsreiche, beschauliche Naturlandschaft ein, wo Vogelgesang die bestimmende Geräuschkulisse bildet. Die Via Jacobi (Jakobsweg) ist auch hier ausreichend mit dem Symbol der Jakobsmuschel gekennzeichnet oder auf Wegweisern mit einer weissen 4 auf grünem Grund angezeigt. Rückwärts schauend gewahren wir den riesigen Bodensee mit seinen flachen Gestaden auf der fernen deutschen Seite.
Ein abrupter Abstieg auf feuchtem Untergrund führt uns hinab zur Martinsbrücke, wo wir die Goldach, nach deren wildem Oberlauf durch bewaldete Tobel, überschreiten. Von hier an steigt unser Weg nochmals netto hundert Höhenmeter bis St. Gallen. Unter Auf und Ab und zahlreichen Richtungsänderungen, die wir zuweilen als willkürlich empfinden, nähern wir uns über Vororte der grössten Stadt der Ostschweiz.
Michiko ist müde und möchte das erstbeste Restaurant aufsuchen. Ich muss sie vertrösten, denn ich suche dringend eine Apotheke. Beim Picknicken unterwegs habe ich mir mit einem Aludosendeckel eine tiefe Schnittwunde im Zeigefinger zugezogen. Eine lange Stunde versuchte ich, das rinnende Blut zu stoppen, indem ich mit einem Toilettenpapierwickel die Faust ballte. Herr Fehr von der über die Mittagszeit geöffneten Drogerie neben der Kathedrale verpasst mir einen auffälligen weissen Ganzfinger-Kokon und empfiehlt mir schalkhaft, mit erhobenem Drohfinger weiterzuziehen.
Michiko wirft das Handtuch. Vier Stunden Fussmarsch reichen ihr für den Anfang. Eine St. Galler Bratwurst und beachtliche Mengen Flüssigkeit decken Hunger und Durst auf dem Gang zum Bahnhof der Südostbahn, welche uns ohne Umsteigen nach Luzern mitnimmt. Vorher besuchen wir selbstverständlich, wenngleich nicht zum ersten Mal, die Kathedrale oder Stiftskirche, ein monumentaler Spätbarockbau mit Ausstrahlung weit über die Ostschweiz hinaus. Die Stiftskirche wurde zusammen mit dem Stiftsbezirk mit seinem weltberühmten Barocksaal der Stiftsbibliothek 1983 als UNESCO-Welterbe in die Liste der schützenswerten Weltkulturgüter aufgenommen.
20.6.16 / St. Gallen – Herisau
Diese Kurzstrecke am Vortag des längsten Tages des Jahres ist die Bewältigung des Restpensums Rorschach – Herisau, welches wir vor zwei Wochen in St. Gallen unterbrachen. Seither warteten wir geduldig auf ein Schönwetterfenster im wochenlangen trüben Wetter.
Mächtige Wolkenballen schützen uns vor den ungewohnten Sonnenstrahlen, eine angenehme Biese dimmt die Temperatur auf rund 20 Grad: Ideales Wanderwetter. Der vorgegebene Weg durch urbane Quartiere bis hinunter auf die Kräzernbrücke ist asphaltiert und erfordert etwa anderthalb Stunden Fussmarsch. Zwei parallele Kunstbauten unweit daneben überwinden das tiefe Tal der Sitter; am majestätischsten die Fürstenlandbrücke, welche das Tal für den motorisierten Verkehr vom oberen Rand überwindet. Auch eine Eisenbahnbrücke lupft das Trassee ohne Kompromisse über die bewaldete Schlucht.
Nun folgt das Filetstück des Weges, ausschliesslich auf Naturstrasse, durch liebliche Voralpenlandschaft, entlang des überraschend im Hang auftauchenden Gübsensees oder Schatten spendenden Laubwalds. Das Restaurant zum alten Zoll markiert den sonst unauffälligen Übergang in den Halbkanton Appenzell Ausserrhoden. Dort lassen wir uns durch missverständliche Wegweiser fehlleiten. Anstelle des lockeren Auslaufens stehen uns stressige 25 Minuten bevor, als wir den Irrtum bemerken. Denn wir wollen unbedingt den nächsten stündlichen Direktzug Richtung Luzern erreichen, was uns am Ende gelingt. Enttäuscht sind wir, weil im Appenzellerland am Wegrand keine seiner arttypischen Häuser Spalier stehen. Unsere Vermutung ist, dass der offizielle Jakobsweg den Bahnhof Herisau meidet. Wir werden somit für die Fortsetzung unserer Reise das Ortszentrum des Hauptortes Herisau anpeilen und von dort die nächste Teilstrecke Richtung Innerschweiz in Angriff nehmen.
22.6.16 / Herisau – Wattwil
Ausgehend von der Stadtkirche Herisau, deren Geläut gerade neun Uhr schlägt, folgen wir um ein paar Ecken des Ortskerns herum, dem Weg hinab ins Glatttal. Typische Appenzellerhausfassaden behaupten sich zwischen Zweckbauten, welche im industrialisierten Glatttal vorwiegen. Von dort steigt ein Wald- und Wiesentrampelpfad hinauf Richtung Nieschberg. Linkerhand der hügelig angelegte, anmutige Hauptort Appenzell Ausserrhodens. Am ersten Hitzetag des Jahres sind wir froh, dass der grössere Teil des Aufstiegs auf 917 m ü. Meer in einem Laubwald verläuft.
Oben begeistert uns unter einer mächtigen Linde der überragende 360° Rundblick über das Appenzellerland. Auf dem Weiterweg begleitet uns der Säntisgipfel mit seinen mannigfaltigen Vasallen hinter sattgrünen Wiesen und teilsbewaldeten Hügeln. Schneezungen gleissen oberhalb der Waldgrenze. Sanfte Hügelzüge dirigieren unsern Weg, weshalb sich Bergauf und Bergab abwechseln. Sanft ist mancherorts auch die Unterlage, eine Folge wochenlangen Regens. Punkt zwölf Uhr beenden wir die vormittägliche Wanderung und rasten auf Sitz, mit 1084 m ü. Meer höchster Punkt des Tages. Zweiter Textil-Wechsel; das durchschwitzte Leibchen vom Nieschberg ist, am Rucksack baumelnd, beinahe wieder trocken.
Ein Appenzellerbier Quöllfrisch naturtrüb im Gipfelrestaurant beschliesst den Wegabschnitt, der alsbald übergeht ins St. Gallerland. Der Abstieg ist ein Querfeldein über gemähte Heumatten, noch ungemähte Wiesen, oft auf butterweichem Untergrund, vorbei an stattlichen Höfen. St. Peterzell liegt im Talboden. Dort vereint der Jakobsweg die Pilger vom Vorarlberg mit jenen wie wir vom „St.- Galler-Weg“. Aber niemand scheint am heutigen Hitzetag auszuschwärmen; auch uns ist alles andere zu Mute, als meditative Pilgergedanken zu wälzen.
Denn es eilt, wollen wir die anstehenden 250 Höhenmeter auf den Reitenberg, samt dem abschliessenden Abstieg ins dreihundert Höhenmeter tiefere Tagesziel Wattwil in der vorgesehenen Zeit bewältigen. Nachdem wir uns über den Aufstieg gequält haben – Michiko ist bereits am Anschlag – folgt die zu diesem Zeitpunkt niederschmetternde Erkenntnis, dass der finale Aufstieg zum Reitenberg erst nach dem vorgängigen Abstieg in das Tal des Schwendibachs in Angriff genommen werden kann. Dieser Knick fehlt auf unserem Höhenprofil, welches nur wenige Fixpunkte linear miteinander verbindet. Die Frage ist nicht mehr, wann, sondern ob wir Wattwil überhaupt noch erreichen. In der sengenden Nachmittagshitze muss ich immer länger auf Michiko warten, nachdem wir die Talsohle überquert und wieder bergauf keuchen. Ich gehe auf einen alten Mann zu, der sich im Schatten eines Bauernhauses eine Ruhepause gönnt.
„Wieweit ist es noch bis zum Reitenberg, wieweit bis Wattwil?“
„Das hängt davon ab, wie schnell man geht!“
„Etwa so, wie die Frau, welche dort den Hang hoch gekrochen kommt!“
„Dann fahre ich euch schnell mit dem Auto nach oben!“
bietet sich der 86jährige an. Nach etwa anderthalb Kilometern, als die Strasse nur mehr mässig ansteigt, entlässt er uns. Michiko findet ihre Geister langsam wieder. Auf dem Abstieg frage ich zwei Dachdecker nach dem Zeitmass bis an unser Tagesziel. Sie schätzen eine halbe Stunde. Nach dieser halben Stunde stelle ich einer mit einem Zaundraht beschäftigten Frau dieselbe Frage. Wieder ist die Antwort: Etwa eine halbe Stunde. Heublumenduft umströmt uns, als wir über steile Wiesen huschen, wo das abgemähte Dörrfutter zum Teil den Pfad verdeckt. Irgendwo gleite ich aus und erhebe mich, einseitig voll mit sumpfigen Lehm ‚tapeziert’. Da kommt uns gerade zupass, dass uns ein Postauto auf der drittletzten Haltestelle vor dem Bahnhof aufnimmt. Der Schrittmesser zeigt etwa 35000 Schritte an, nach Abzug der Anzahl Schritte für die Anfahrt nach Herisau mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.
23.6. / Wattwil – Schmerikon
Um zehn Uhr starten wir in Wattwil bei 22° C. Ein schmaler, steiler Pfad wählt zum Glück den Weg durch Wald und Schatten spendende Hecken. Unweit über dem Dorf erlauben wir uns den kleinen Umweg über die Burg Iberg. Der unbewohnte, zum Teil restaurierte Turm ist öffentlich zugänglich und zählt fast hundert hölzerne, ausgetretene Treppenstufen zum obersten Aussichtspunkt.
Mehr fordern uns die vierhundert Höhenmeter bis zum Laadpass, welchen wir um die Mittagszeit erreichen. Im dortigen Heid-Höttli, ein für Jakobspilger geschaffener Selbstbedienungsraum, machen wir Mittagsrast. Im aufliegenden Pilgerbuch finden sich Einträge auch von den vergangenen Tagen, einer sogar auf Koreanisch geschrieben. Im weiteren Verlauf stellt der Jakobsweg fast durchwegs asphaltierte Strassen zu unserer Verfügung, was sich in brennenden Sohlen bemerkbar macht. Überall wenden die Bauern das Heu auf den hügeligen Wiesen, was uns zum entsprechenden Motorenlärm Heublumenwohlgeruch um das Duftorgan weht. Obwohl nach dem Heidpass das Toggenburg in den St. Galler Seebezirk übergeht, ist vom Zürichsee vorerst nichts zu sehen. Der Weg gefällt sich weiter in munteren Auf und Ab. Erst nach dem Dörfchen Walde steigen wir merklich ein paar hundert Höhenmeter ab. Jetzt zeigen sich uns die mannigfaltigen Konturen des länglichen Sees. Die Nachmittagssonne dieses zweiten Hitztages in Folge brennt unbarmherzig. Der frische Aufwind, der uns in der Höhe noch Linderung bot, verliert zusehends an Wirkung. Als Pseudopilger haben wir zwar nicht vor, jede Kirche oder Kapelle am Wegrand zu besichtigen. Immerhin, sie spenden angenehme Kühle und Erfrischung.
Das Tagespensum sieht Neuhaus als Endpunkt der heutigen Etappe vor. Dort zweiteilt sich der Jakobsweg. Die heutige Etappe über den Ricken war unterdurchschnittlich lang. Michiko ist deshalb bereit, bis Schmerikon weiterzuziehen, weil dort der Voralpen-Express hält. Dank Generalabonnement reisen wir weiterhin täglich nach Hause und müssen uns nicht um eine Herberge kümmern. Ausserdem wird das happige nächste Teilstück nach Einsiedeln rund eine Wanderstunde kürzer, da die Wegbeschreibung nach dem Klosterdorf vom Ausgangsort Neuhaus ausgeht, mit Schmerikon am Obersee als Durchgangsstation.
27.6. / Schmerikon – Lachen
Vom Ufer des Zürichsee-Obersees wählen wir den alternativen Jakobsweg über die Lindtebene. Wir folgen dem künstlichen Damm der begradigten Lindt, bis sich beim Schloss Grinau die Möglichkeit bietet, den Fluss zu überqueren. Ein paar Regentropfen aus schwarzgrauen Wolkenballen schrecken uns auf. Zum Glück treibt sie der Wind in östlicher Richtung, während wir nach dem Dorf Tuggen westwärts wandern. Ausgangs Tuggen sind die einzigen Höhenmeter zu bewältigen. Unterwegs besuchen wir jene Kapellen und anderen Sakralbauten, die dem Jakobsweg auf dieser Teilstrecke das Salz in der Suppe bedeuten. Herrliches Wanderwetter bei Temperaturen um 20° C. Trotzdem realisieren wir zwischen den Dörfern Siebnen und Lachen, wo wir den Zürichsee von der südlichen Seite her erblicken, dass unser anvisiertes Tagesziel Einsiedeln unrealistisch ist. Um diesen Vernunftentschluss etwas hinauszuschieben, versuche ich, am Bahnhofschalter Lachen herauszufinden, ob es auf dem Weiterweg Ortschaften gibt, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind. Wir könnten dann noch für eine gewisse Zeit Richtung Einsiedeln losmarschieren und abends die Wanderung unterbrechen. Der motivierte junge Schalterbeamte versucht mit Google Earth die Stationen zu finden, die auf meiner Wegbeschreibung aufgeführt sind: Schwändi, St. Meinrad, Tüfelsbrugg. Keine, auch nicht der Etzelpass, wird von einer Autobushaltestelle bedient. Leicht angesäuert unterbrechen wir deshalb den Pilgerweg da, wo er sich anschickt, fünfhundert Meter anzusteigen. Vom Bahnhof Lachen zeigen zwei Wanderrouten nach Einsiedeln mit Richtzeiten von 4 Stunden 50 Minuten und über sechs Stunden. Ob es sich um den Jakobsweg handelt, ist ungewiss, denn in Lachen vermissen wir die Wegweiser mit der weissen 4 auf Grün, oder der Jakobsmuschel. Wir haben seit Schmerikon bereits mehr als 25’000 Schritte in den Beinen und bis Einsiedeln würde sich diese Zahl wohl verdoppeln.
29.6. / Lachen – Einsiedeln
Kurz nach neun Uhr inspizieren wir am Bahnhof Lachen die Wanderwege nach Einsiedeln. Es bestätigt sich unsere Kritik, dass in der Gemeinde Lachen keine Markierungen auf den Jakobsweg hinweisen. Trotzdem stehen wir bald an Ort und Stelle in der Gemeinde Altendorf, wo wir auf der vorangehenden Etappe vom Wege abgekommen sind: Die 4 zeigt unmissverständlich geradeaus, doch schon fünfzig Meter weiter biegt ein steiler Weg rechtwinklig ab auf einen Felssporn, wo die St.-Johann-Kapelle die weitläufige Landschaft des Zürichsees überblickt, an der Stelle, wo ehemals eine Burg thronte. Vielleicht waren wir vor zwei Tagen zu müde, um wegen einer Kapelle eine Viertelstunde Zeit zu opfern. Im Nachhinein war vielleicht unser damaliger Entschluss, den Wandertag zu beenden, sinnvoll. Auf den anstehenden fünf Stunden bis Einsiedeln hätten wir keine Möglichkeit gefunden, die Wanderung zu unterbrechen.
Der Weg nach dem Klosterdorf führt an der St.-Johann-Kapelle vorbei. Uns stehen fünfhundert Höhenmeter bis St. Meinrad bevor. Steil sind die Strassen. Abkürzungen durch Waldpfade schützen immerhin vor der Hitze. Unterwegs passieren wir ein Hinweisschild: „Europäischer Fernwanderweg Nordsee – Gotthard – Mittelmeer“. Ich habe offenbar mehr zu kämpfen mit dem Aufstieg als Michiko. Sie scheint allmählich in Form zu kommen.
Wir erreichen den Kulminationspunkt des Tages, St. Meinrad, um die Mittagszeit, was in etwa der Referenzzeit entspricht. Michikos begeisterter Kommentar:
„Das war der schönste Weg bisher!“
Kein Unterton von Galgenhumor; Japaner kennen so was nicht. Ich selbst hatte damit begonnen, Atem und Schritte zu synchronisieren, linkes Bein vor: Einatmen; rechtes Bein vor: Ausatmen. Damit spulte ich die Viertelstunden gedankenlos ab.
Nach der Mittagsrast auf St. Meinrad folgen wir der Asphaltstrasse mit 20% Gefälle, welche zur Tüfelsbrugg über die Sihl führt. Dort weist eine Plakette auf das Geburtshaus von Paracelsus hin.
Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim, getauft alsTheophrastus Bombastus von Hohenheim (* vermutlich 1493[1] in Egg, Kanton Schwyz; † 24. September 1541 in Salzburg), genannt Paracelsus, war ein Arzt, Alchemist,Astrologe, Mystiker und Philosoph. (Wikipedia)
Natürlich steigt die Strasse nach der Teufelsbrücke wieder an, weicht aber bald auf Feldwege aus. Es läutet gerade zwei Uhr, als wir die barocke Klosteranlage Einsiedelns erreichen. Der Schrittzähler zeigt bescheidene 22’000 Schritte seit Lachen an.
Es ist irgendwie surreal, wie in dieser ländlichen Gegend etwas derart Grossartiges entstehen konnte:
Das Kloster Einsiedeln (lat. Abbatia territorialis Sanctissima Virgine Maria Einsiedlensis) mit seiner Abtei- und Kathedralkirche Maria Himmelfahrt und St. Mauritius ist eine immediate Benediktinerabtei in der Gemeinde Einsiedeln im Kanton Schwyz. Die Abtei ist eine bedeutende Station auf dem Jakobsweg und selbst Ziel zahlreicher Pilger. Die Schwarze Madonna von Einsiedeln in der Gnadenkapelle ist Anziehungspunkt für Pilger und Touristen. Die Gemeinschaft zählt rund 60 Mitglieder. Das Kloster ist nicht Teil einer Diözese, sondern hat den Status einer Territorialabtei.
Seit seiner Gründung im Jahre 1130 gehört das Benediktinerinnenkloster Fahr bei Zürich zur Abtei Einsiedeln, dadurch ist der Abt von Einsiedeln auch derjenige des Klosters Fahr. Sie bilden zusammen das weltweit einzige noch erhalten gebliebene Doppelkloster imBenediktinerorden.
(Wikipedia)
Dass man im Innern der Kirche nicht fotografieren darf, ist nicht nachvollziehbar und wird auch nicht wirklich beachtet. Der Prunk und die betörende bauliche Schönheit sind einzigartig. Zu jeder Jahreszeit besuchen Menschen von nah und fern den Wallfahrtsort.
Michiko ist voll zufrieden mit sich. Der St.-Galler-Weg Rorschach – Einsiedeln endet hier, ihn zu begehen war ihr lange gehegter Wunsch. Ob sie den Jakobsweg „Innerschweiz“ wenigstens bis Stans anzugehen wagt, lassen wir heute offen. Er wird nicht leichter. Aber man macht den Jakobsweg nicht, weil er leicht ist.
8.7. / Einsiedeln – Schwyz
Der Jakobsweg schleicht unterhalb der Klosteranlage südwärts, ohne dass ihn die entsprechenden Wegzeichen begleiten. Ein Mann erkennt unser Vortasten und verteilt Ratschläge. Wir schwanken zwischen seinen Aussagen und der Beschreibung unserer Wegleitung für Pilger auf dem „Innerschweiz-Weg“. Im Nachhinein beruhigte uns ein einziges offizielles Jakobsweg-Zeichen auf den ersten beiden Wanderstunden. Solche Hilfen sucht man natürlich vergebens, wenn man sich verläuft. Wir tasten uns wirklich vor wie Pfadfinder, über kürzlich abgemähte Grasfelder, die wir kaum benutzt hätten, wären wir nicht von einem Landwirt bei der Arbeit dazu ermuntert worden. Dann wird es steil. Eine schmale Asphaltstrasse windet sich nach oben. Wir fragen einen Radfahrer aus der Gegenrichtung nach dem Jakobsweg, der irgendwo den Ort Alpthal gut hundert Höhenmeter höher als Einsiedeln ansteuern sollte. Seine mit wenig Überzeugung vorgetragene Vermutung hätte uns den eben überwundenen Höhenunterschied wieder vernichtet, wir hätten zurückkehren müssen. Stattessen folgen wir der Strasse, meiden aber steile Abkürzungen. Nach einer gefühlten Stunde geht die Steigung in eine leicht abfallende Hangstrasse über. Dort bitten wir einen weiteren Zweirad-Bergfahrer um Hilfe und Orientierung. Der weist uns auf den Flusslauf im tiefen Tal, der vom Jakobsweg gesäumt werde. Er selber habe an anderen Tagen schon verirrte Jakobspilger weit höher oben am Hang angetroffen.
Wie der hilfsbereite Radsportler gemutmasst hatte, versöhnen wir uns nach einer halben Stunde wieder mit dem Jakobsweg. Im kleinen Ort Alpthal, auf rund tausend Metern über Meer beginnt die jähe Steigung nach Haggenegg auf 1414 m ü. Meer. Der Weg ist breit, steinig, allradtauglich und verzichtet auf Serpentinen. Begleitet werden wir von den in immer unmittelbarerer Nachbarschaft aufragenden Kamelbuckeln Kleiner und Grosser Mythen. Eine junge Bäuerin knapp unterhalb der Wasserscheide versorgt uns mit Tranksame. Sie lädt selbstgemachten Käse in ihren Toyota und ist auf dem Sprung nach Schwyz, wo sie ihn vermarkten lässt. Wir lehnen ihre offerierte Mitfahrgelegenheit dankend ab und lassen über die gesamten tausend Höhenmeter die Kräfte der Bremswirkung auf unsere Bänder und Sehnen einwirken. Vorbei am imposanten Bau des Kollegiums nähern wir uns dem Flecken Schwyz, als die Pfarrkirche gerade vier Uhr schlägt. Mehr als ein paar Fotos des ansprechenden Ortskerns der fast 15000 Einwohner zählenden Gemeinde Schwyz liegen nicht drin, wir streben dem Bahnhof zu, am untersten Ende des an einem sanften Hang gelegenen Hauptorts des gleichnamigen Kantons. Wir beenden hier die Tagestour mit rund 36’000 Schritten in den Beinen und fahren im Zug nach Hause.
9.7. / Schwyz – Stans
Von Schwyz nach Brunnen am Vierwaldstättersee queren wir den Talboden, der durch die Muota entwässert wird. Auffallend viele Kirchen und Kapellen weisen auf eine jahrhundertealte Volksfrömmigkeit hin. Beredtes Zeugnis davon gibt das Frauenkloster Ingenbohl, wo gemäss Aussage einer Schwester auf ihrem Morgenspaziergang noch 300 Ordensschwestern leben, die jüngste auch schon über vierzig Jahre alt. Die offerierte Möglichkeit, als Jakobspilger im Umkreis des Klosters zu übernachten muss ich ausschlagen, denn wir streben Brunnen zu, wo wir auf eine Überfahrt nach Treib warten.
Luftiger Transfer nach dem nahen Treib auf der andern Seeseite mit dem Motorschiff Rigi. Von dort führt eine elektrische Standseilbahn nach Seelisberg. Diese Möglichkeit nutzen auch die Pilger, welche sich für die einfachere Variante entscheiden. Die schwere Variante folgt teilweise dem Waldstätterweg. Eine schönere Sicht auf See und Berge haben wir von nirgends in Erinnerung. Das finden sicher auch die zwei jungen Damen, welche sich im Schatten eines Vordaches ausruhen. Ihr Jakobsweg ist mit Bezug auf das Endziel Santiago de Compostela offen, denn sie pilgern bloss an Wochenenden und schleppen die Zeltausrüstung mit sich. Der Weg weist ein paar ausgesetzte Stellen auf. Wer sehr unter Schwindelgefühlen leidet und dies trotz vorhandenen Seilen und Holzplanken, tut gut, die leichtere Variante des Jakobswegs zu benützen.
Um halb sechs Uhr stehe ich am Bahnhof Stans, Endziel dieser Teilstrecke, um 40566 Tagesschritte reicher. Michiko hat sich in Buochs in den Autobus gesetzt, die Hitze des Tages hat ihr die Lust an der Fortsetzung geraubt. Dabei führte der Weg von Beckenried bis Buochs entlang des Seeufers, wo sich Tausende unter Bäumen oder im Wasser vergnügten. Die abschliessenden anderthalb Stunden bis zum Hauptort Nidwaldens muss ich allein auf schmalen verwaisten Asphaltsträsschen abverdienen; sie führen mich auf Umwegen und über einen Hangrücken ans Ziel. In Ortsmitte bereitet man sich auf eine Riesenfete, das Winkelriedfest, für die Samstagnacht vor. Ich indes ziehe es vor, ein abgekühltes Abteil des wartenden Zuges nach Hergiswil zu betreten und die letzten Zeilen dieses Berichts abzufassen.
11.7. / Stans – Flüeli Ranft
15:58 Uhr fährt der nächste Autobus von Flüeli hinunter an den Sarnersee. Die 260 Höhenmeter von Flüeli nach Sachseln betrachten wir vom Wagenfenster aus. Auf der gesamten heutigen Strecke sind wir Wiederholungstäter. Trotzdem kommt uns vieles saisonbedingt wie neu vor. Der Weg ab Stans hievt uns zunächst auf eine Anhöhe, von wo wir, von links nach rechts, diese Hausberge erkennen: Pilatus, Bürgenstock, Rigi, bis hin zu den Mythen. Der Vierwaldstättersee ergänzt die Landschaft zwischen Pilatus und Bürgenstock, sowie zwischen Bürgenstock und Stanserhorn/Buochserhorn. Zu unseren Füssen breiten sich Stans und die Nachbargemeinden immer weiter im einzigen ebenen Landstrich „zwische See und heeche Bärge“ aus, wie es im Nidwaldnerlied heisst.
Eine Gruppe Frauen geht vor uns. Wir holen die Wanderinnen ein, als sie sich in einer Remise erholen. Als wir Mittagsrast halten, überholen uns die Damen ihrerseits und an einem Rastplatz halten wir wieder Gegenrecht. Oben in Flüeli treffen sie ein, als wir uns anschicken, den Bus Richtung Sachseln zu besteigen. Diesen Weg nehmen die Damen zu Fuss auf sich, denn der auf- und abziehende Sommerregen scheint sie nicht zu beeindrucken.
Als Einzelstrecke kann man Stans – Flüeli/Ranft als schöne Tagestour betrachten. Es geht rauf und runter, bald im Schatten von Wäldern, bald über Felder mit Aussicht auf den Sarnersee und das Obwaldnerland. Der Bruderklausenweg ist hier Synonym mit dem Jakobsweg. Wären wir nicht in der Innerschweiz zu Hause und an die hiesigen Landschaften gewöhnt, wir würden die Strecke wohl als aussergewöhnlich schön und grün schildern. Wir haben vor ein paar Tagen ein indisches Paar im Zug von Schwyz nach Luzern beobachtet. Wo immer keine Häuser die Sicht beeinträchtigten, filmten die Beiden mit ihren Handys aus dem Zugfenster, bald die grüne Landschaft, bald See und Berge.
Bruder Klaus ist der Schweizer Nationalheilige. Seine Einsiedler-Klause im Ranft ist vielen Landsleuten ein Begriff. Dass Bruder Klaus über die nationale Grenze hinaus bekannt ist, beweist eine kleine Besuchergruppe, welche im Geburtshaus in Flüeli auf Portugiesisch über Leben und Fasten des Heiligen erfährt. Im Ranft herrscht eine eigene, fast mystische Atmosphäre. Dazu trägt eigenartigerweise eine arabische Familie bei. Der Mann schiebt den Kinderwagen das steile Wegstück vom Ranft hinauf nach Flüeli; zwei Frauen, bis auf das Gesicht verhüllt – im Unterschied zu den hiesigen Nonnen mit knielangen Röcken reicht das schwarze Tuch der Araberinnen bis auf die Knöchel – und drei Kindern im Vorschulalter. Ich kann diese Idylle leider nicht lange geniessen, denn ein einsetzender Sommerregen peitscht mich an der Familie vorbei ins Restaurant neben der Bushaltestelle in Flüeli.
Flüeli-Ranft – Wikipedia
Flüeli–Ranft ist ein Schweizer Dorf in der Gemeinde Sachseln im Kanton Obwalden. Der Ort war die Heimat und Wirkungsstätte des Schweizer Nationalheiligen…
Bruder Klaus oder Niklaus von Flüe (1417 – 1487) prägt in seltsamer Weise die Dörfer Flüeli-Ranft (728 m ü. M.) und Sachseln (483 m ü. M.). Der Dorfkern von Sachseln liegt unweit über dem Sarnersee.
Für Pilger bestehen zwei Wege zwischen Flüeli-Ranft und Sachseln. Der Jakobsweg bedient sich des Bruder Klausen Weges, der durch Wald, Wiesen und im Schutz von Hecken absteigt. Ein Holzunterstand mit Tischen und Bänken im Wald scheint als offene Unterkunft für Pilger mit Schlafsack zu dienen, steht doch an den Wänden: «Ruhe ab 21.00 Uhr.» Der Waldweg geht weiter unten über in einen engen Flurweg und dieser mündet in eine asphaltiere Wiesenstrasse, von welcher ein steiler Pfad ziemlich direkt und über ausgediente hölzerne Bahnschwellen den Abstieg über Treppen nach Sachseln schafft. Vermögende Mehrfamilienhäuser stehen mit ihren vorgelagerten blühenden Gärten Spalier auf dem letzten Teilstück der knapp einstündigen Wanderung, welche direkt zum alleinstehenden Glockenturm der Pfarrkirche führt. Diesem angeschlossen ist die Grabkapelle, welche das erste Grab von Bruder Klaus beherbergte. Die anschliessende Pfarr- und Wallfahrtskirche hat etliche bauliche Veränderungen erfahren. Der Eingang führt durch ein schmuckes barockes Portal. Sachseln hat sich die sterblichen Überreste des 1947 heiliggesprochenen Landesvaters, Familienvaters, Bauern, Politikers, Mystikers, Asketen, Eremiten und schliesslich Nationalheiligen gesichert. Seine Reliquien liegen in der Pfarrkirche, in einer silbergetriebenen Hülle, eingebaut im Altartisch. Der Anblick der Figur mutet etwas gewöhnungsbedürftig an; sie mag der Bedeutsamkeit der darin enthaltenen sterblichen Überreste gerecht werden, vielleicht weniger dem Selbstverständnis des Heiligen entsprechen.
Eine Alternative von Flüeli-Ranft nach Sachseln bildet der alte Pilgerweg. Er ist durchwegs asphaltiert, wenn auch grossenteils mit Fahrverbot belegt. Eine Lourdes-Grotte unterwegs ist kein Muss; sie beschränkt sich auf ein 3d-Relief in der Frontwand. Was diesen Weg aber lohnenswert macht: Er legt das ganze Panorama offen. Man umarmt den Sarnersee und die Seegemeinden darum herum, sowie die Streusiedlungen im aufgetakelten Voralpenwall. Man hat fast die Hälfte des Halbkantons Obwalden im Visier, weil die Bergflanke bis hart an die Waldgrenze aufragt, welche im nördlichen Pilatusmassiv und im südlichen Lungern-Schönbüel überschritten wird, da beide über 2000 Meter hoch sind.
6.8. 16 / Sachseln – Giswil
Der Weiterweg von Sachseln nach Giswil gehört zweifelsfrei zu den angenehmsten überhaupt. Er folgt dem Ufer des Sarnersees in südwestlicher Richtung. So erreicht man in rund fünf Viertelstunden das Dorf Giswil. Von dort beginnt die Steigung auf den Brünigpass in zwei Phasen. Nach ersten zweihundert Höhenmetern erreicht man Kaiserstuhl am Lungerersee und am südwestlichen Ende dieses Naturstausees steigt der Weg nochmals gut dreihundert Höhenmeter an auf den Brünigpass auf 1000 m ü. M. Diese Teilstrecke haben wir im Frühjahr 2011 gemacht. Siehe:
http://joe.tyberis.com/swisscamino1
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