Camino de Santiago Ein weiterer Blogs Blog

7. Oktober 2008

Leon – Santiago de Compostela

Filed under: Allgemein — Joe @ 13:13
14.9.
León – Villar de Mazarife (420 EW); 24.3 km; 5 h 10’; 1109 Kcal
Es braucht geschlagene zwei Stunden, bis die Agglomeration León verlassen ist. Das hätte auch länger dauern können, wenn wir uns an den sonst verlässlichen Pfeilen orientiert hätten. Unser Reiseführer lenkt uns in die richtige Spur. Um von der stark befahrenen Autobahn N120 wegzukommen, wählen wir die empfohlene Alternative, welche über zwei Dörfer nach Villar de Mazarife führt. Wieder über die endlose Meseta, wo die Gräser am Wegrand wie Silberfäden in der Morgensonne leuchten. Es scheint, dass viele Wanderer unserer Routenwahl nicht folgen, umso wählerischer können wir bei der Zimmersuche sein. Für sechs Euros stehen heute bloss zwei Kajütenbetten im Zimmer.
15.9.
Villar de Mazarife – Astorga (12’242 EW); 31.1 km; 7 h 10’; 2400 Kcal
 
Eine der abwechslungsreichsten und auch längsten Teilstrecken mit vielen Eindrücken, die bald niedergeschrieben werden wollen, sonst sind sie, husch, weg.
 
Der Länge der Etappe wegen stechen wir um sechs Uhr früh in die vollkommen wolkenlose Nacht. Der Vollmond verdrängt die Sterne in abgelegene Sektoren des Firmaments. Da die ersten sechs Kilometer auf einer geteerten Nebenstrasse begangen werden, genügt das Mondlicht als Beleuchtung. Die laue Nacht mit dem Erdtrabanten in Vollblüte, der uns mutterseelenallein begleitet, weckt Septembergefühle, die Arthur Rimbaud vortrefflich in Verse gefasst hat, die ich vor vierzig Jahren an der Alliance Française in Paris auswendig gelernt habe, und die ich angesichts des stimmigen Dekors fast vollständig abrufen kann, obwohl ich bereits vergessen habe, an welchem Ort wir gestern nächtigten:
 
Je m’en allais, les poings dans mes poches crevées.
Mon paletot aussi devenait idéal.
J’allais sous le Ciel, Muse, et j’étais ton féal:
Oh là là, que d’amours splendides j’ai rêvées!
 
Mon unique culotte avait un large trou.
Petit Poucet rêveur, j’égrenais dans ma course
Des rimes. Mon auberge était à la Grande-Ourse.
Mes étoiles au ciel avaient un doux frou-frou.
 
Et je les écoutais, assis au bord des routes,
Ces bons soirs de septembre où je sentais des gouttes
De rosée à mon front, comme un vin de vigueur;
 
Où, rimant au millieu des ombres fantastiques,
Comme des lyres, je tirais les élastiques
De mes souliers blessés, un pied contre mon coeur.
 
(Ma bohème, Arthur Rimbaud, 1870)
 
Als sich der Mond nach getaner Arbeit verabschiedet, weißt er uns noch den Weg wie weiland der Stern von Bethlehem, während die Morgensonne von hinten unsere zarten Schatten nährt. Noch könnten wir ihn nicht überspringen, müssten dazu die Mittagszeit abwarten.
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Der Vollmond zeigt uns den Weg
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Bei Puente de Óbrigo begehen wir die 20-bogige längste Steinbrücke auf unserem Camino und freuen uns auf Café con Leche und Croissants im Ort.
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20-bogige Brücke bei Puente de Óbrigo
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Dann wählen wir den längeren, kupierten Weg durch eine liebliche Landschaft fernab vom einsetzenden Überlandverkehr. Dieser unser Weg enthält alles, was man vom Camino erwarten kann, onduliertes Gelände, lockere Eichenwälder, Landwirtschaftsbetriebe, Dörfer im Dornröschenschlaf, seit längerem wieder die vitaminreichen Brombeeren und, nicht zuletzt, die Einsamkeit, die Abgeschiedenheit. Die herbstliche Sonne wärmt, aber erschlägt uns nicht mehr. Und dennoch sind wir froh, als endlich die Silhouette der Stadt Astorga auftaucht. Dort treffen wir fast gleichzeitig ein mit den verloren geglaubten Italienern Severin, Roberta, Cristina und Laura. Sie hatten den Nerven aufreibenden Weg entlang der N120 gewählt und empfanden diesen als ‚pesante’, schwer, mühsam.
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 Astorga – Catedral de Santa Maria.
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16.9.
Astorga – Rabanal del Camino (50 EW); 21.5 km; 4 h 15’; 981 Kcal
Ganz sachte und mählich steigt der Camino auf 1162 m an. Die erste Herberge am Ortseingang heisst ‚Tesin’, deshalb bleiben wir gerade hier. Eigentlich wäre Foncebadón auf dem Berg unser Tagesziel, aber da dort nur gerade 5 Einwohner permanent wohnen und unser Reiseführer 18 Betten und ein paar Matratzen erwähnt, und das auf 1439 m ü. M., sind wir vorsichtig. Zudem hat Michiko mehrere Problemstellen an den Füssen. Erstmals seit Tagen versucht sie es wieder mit den Wanderschuhen. Heute Morgen sind ganze Heerscharen Wanderer an uns vorbei gezogen. Wer weiss, wo sie heute Nacht zu sein planen? Die Italiener jedenfalls lassen sich durch nichts erschüttern, sie versuchen auf Foncebadón Unterschlupf zu finden. Ihre nächste Alternative würde dann Manjarín heissen, ein Ort mit 1 Einwohner, 20 Betten und Plumpsklo, ohne Duschen.
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Vuelta – Spanienrundfahrt passiert in Rabanal del Camino
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Heute passiert die Vuelta (Spanien-Radrundfahrt) unsern Ort. Das übliche Bild: eine Stunde vor den Fahrern rasen Dutzende Motos der Guardia Civil vorbei, dazwischen mehr und noch mehr Autos, Mannschaftswagen und Journalisten, Helikopter kreisen über der Bergstrecke. Erstaunlicherweise fehlen die Reklamewagen ganz. Dann, zwei Spitzenfahrer auf der Abfahrt und nach einigen Minuten die Hundertschaft des Verfolgerfeldes. Nochmals rund hundert Fahrzeuge aller Art, Punkt, Schluss mit dem Spuk.
 
Der Name ‚Tesin’ hat nichts mit unserem Kanton Ticino zu tun, obwohl die Hospitalera immer wieder darauf angesprochen werde. Im Übrigen trudeln zwischen zwei und vier Uhr weiterhin Pilger ein, einzeln oder in Zweiergruppen, und das unter der unbarmherzigen Septembersonne. Manche von ihnen nehmen sogar noch den Aufstieg auf den höchsten Punkt des Camino in Angriff. Auch Pilger mit dem Rad sind in stattlicher Zahl unterwegs. Und selbst zwei Reiter sind an uns vorbei getrabt.
 
17.9.
Rabanal del Camino – Molinaseca (771 EW); 27.2 km; 6 h 15’; 1531 Kcal
Der topografische Höhepunkt der Reise und mit eine der schönsten Teilstrecken. Um sieben Uhr früh nehmen wir den Aufstieg in Angriff. Der Mond assistiert uns, trotzdem verlaufen wir uns kurz. In Foncebadón sehen wir mehrere Möglichkeiten der Übernachtung, unser sonst verlässliche Reiseführer hat bloss eine erwähnt. Wir streben weiter, dem emotionalen Höhepunkt zu, dem Cruz de Ferro, dem Eisenkreuz, auf dem Dach des Camino. Dieses schlanke, auf einem schlichten Stahlrohr befestigte Kreuz nimmt seit Jahrhunderten symbolisch die Lasten der Pilger auf sich. Die Idee wäre, dass jeder einen Stein aus seiner heimatlichen Umgebung bei sich trägt und ihn hier hinterlegt. Eigentlich sollte bei dieser Gelegenheit ein Gebet gesprochen werden, worin man darum bittet, dass dieser Stein am Jüngsten Tag auf der Rechten Seite der Waage eingesetzt wird. Die Wirklichkeit zeigt, dass sogar da zu flunkern versucht wird: Entweder kommen zahlreiche Gesteinsbrocken aus der unmittelbaren Umgebung des Kreuzes, oder sie sind mit dem Auto angereist. Denn die Passstrasse führt nur wenige Meter daran vorbei. Wie dem auch sei, unsere beiden Schiefersteine stammen vom oberen Grindelwaldgletscher.
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Cruz de Ferro – Eisenkreuz auf dem Dach des Camino (1531 m ü. M.)
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Auf der andern Bergflanke führt der Camino hinunter bis auf 603 m in Molinaseca. Dank des schönen Wetters sind die steilen Stellen leicht zu passieren. Es ist schon erstaunlich, wie heroisch Michiko den ganzen Weg meistert, sie, die bei jedem einzelnen Tritt mehr oder weniger grosse Schmerzen aushalten muss. Sie beklagt Blasen an den Zehen, den Fersen, am Fussrand. Dazu gesellt sich ihr Hallux-Problem am einen Fuss. Da hilft auch ein ganzes Arsenal an modernen Pflastern nur bedingt. Vor allem beim Geländewechsel von Auf und Ab.
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Michikos Arsenal gegen Blasen – maudit soit qui mal y pense
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Die kleinen Bergdörfer El Acebo und Riego de Ambros sind jedes für sich reizvoll. Die Talstrecke ähnelt gewissen Wanderwegen im Tessin; sie führt durch bewaldete Abhänge der eben bezwungenen Montes de León. Optisch fallen breite Feuerschneisen auf. Diese sind leider nötig: Ein Kastanienbaum zeigt die Spuren des Waldbrandes vom 2004. Aus ihm spriessen zögerlich ein paar grüne Zweige, während andere als stumme Zeugen ihr verkohltes Skelett aus dem allmählich nachwachsenden Unterholz strecken.
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Berittene Pilger führen ihre Pferde zum Fluss in Molinaseca
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In Molinaseca frage ich einen Mann auf der Strasse nach der Herberge. Er zeigt mir zunächst eine private, dann den Weg zur Unterkunft, die er selbst als Hospitalero betreut. Er gehe schnell etwas essen. Im Pilgerpass von Michiko schreibt er später seinen Namen mit japanischen Schriftzeichen. Wirklich, es ist derselbe Mann, der uns in Bercianos del Real Camino betreut hat. Wie das komme? Er erzählt:
 
„Die Hospitaleros sind eine Vereinigung von Freiwilligen, die an verschiedenen Orten eingesetzt werden können. Dieser Job ist sehr arbeitsintensiv, da die Unterkünfte täglich gereinigt werden müssen.“
 
Er macht diese Arbeit seit fünfzehn Jahren und reist mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Es tut ihm leid, dass er uns fünf Euros abnehmen muss, auf Verlangen der Gemeinde. Lieber arbeitet er an Orten, wo mit freiwilligen Spenden der bürokratische Kram entfällt. Er bedauert, dass laufend mehr Touristen und weniger Pilger übernachten.
 
„Wie das?“, frage ich nach
 
„Touristen im Kopf!“, erklärt er,  „Touristen fordern, Pilger bedanken sich“,  schiebt er nach.
 
18.9.
Molinaseca – Villafranca del Bierzo (3’647 EW); 33.7 km; 6 h 30’; 1461 Kcal
Erste vier Stunden auf Strassen durch mehr oder weniger urbane Gebiete, später durch eine, wie mir scheint, erst kürzlich erstellte Schneise durch ein Weinanbaugebiet. Manche der Rebberge sind nicht sehr gepflegt und wuchern neben allerhand Unkraut. Wir kürzen die Strecke etwas ab, indem wir eine Zeitlang der Landstrasse entlang gehen. Auf den weiten offenen Abschnitten kommt es zu losen Karawanen von Pilgern mit dem offensichtlichen Ziel Villafranca del Bierzo. Hätte es geregnet, wir wären auf dem neu erstellten Parcours an manchen Stellen im Schlamm versunken.
 
Ponferrada an unserer Strecke scheint für viele Pilger der Startpunkt ihrer Reise zu sein. Eine New Yorkerin und eine Bostonerin, die ersten schwarzer Hautfarbe, fragen mich, wo man Wanderstöcke kaufen könne. Zwei Italienerinnen begehen den Camino ab hier als echte Pilgerreise. Sie setzen dafür vierzehn Tage Ferien ein. Wir selbst rechnen für den Rest unseres Weges bloss noch mit sieben Tagen.
 
Die spanische Küche am Jakobsweg besteht immer aus drei Gängen. Bei jedem Gang gibt es mehr oder weniger Variationen. Beim ersten fehlen fast nie gemischter Salat, russischer Salat oder eine Pasta, beim zweiten, Beefsteak, Schwein, Huhn oder Fisch, gewöhnlich zu Pommes. Als Nachtisch Eis, Karamellpudding oder Früchte. Im Preis zwischen 8 und 10 Euros inbegriffen sind immer Wasser oder Wein. Für zwei Personen wird in aller Regel eine ganze Flasche Tischwein, weiss oder rot, hingestellt. Heute werden wir mit einer Flasche Rotwein mit Jahrgang 2002 überrascht und das Sirloin Steak besteht aus deftigen drei Stücken Barbecue. Über Wochen war Rindfleisch gar nicht erhältlich gewesen.
19.9.
Villafranca del Bierzo – O Cebreiro (50 EW); 27.4 km; 6 h 40’; 2667 Kcal
 
Es ist keineswegs immer schon am Vorabend klar, wie weit die Reise am nächsten Tag geht. Heute haben wir den letzten Berg, den 1330 m hohen O Cebreiro in zirka 30 km Entfernung im Visier. Das heisst 800 Höhenmeter. Sinnvoll wäre demnach, möglichst nah am Fuss des Berges zu übernachten und den Aufstieg am übernächsten Tag in Angriff zu nehmen. Das schlägt auch unser handliche Reiseführer vor. Nun geht allerdings die Nachricht um, dass in La Faba die Herberge bereits geschlossen sei. Wir beschliessen mit vielen andern, die Bergstrecke gleich anzuhängen und die Herberge auf dem Kulm zu benutzen. Das Risiko, dass diese completo, ausgebucht, sein könnte, gehen wir ein.
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Auf dem O Cebreiro mit Kathrin
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Wir stehen auf dem O Cebreiro, Michiko hat wieder einmal ihre Kämpfernatur bewiesen. Die Dame in der Herberge, welche uns einweist, zeigt sich aber eigenartig unflexibel. Der Reihe nach: Ich hatte mit Michiko am Fuss des Berges abgemacht, dass sie im Schongang aufsteigen soll und ich dafür die Handbremse für einmal lösen und losziehen würde. Ich hoffte, mit unsern Pilgerpässen zwei Plätze in der Unterkunft reservieren zu können. Daneben. Sie akzeptierten Michikos Pass nicht ohne sie.
 
Als dann Michiko rund eine halbe Stunde später auftaucht, findet sie noch einen Platz im gleichen doppelstöckigen Bett, welches mit einem zweiten aneinander geschoben dasteht. Die junge Dame lässt es aber nicht zu, dass wir nebeneinander liegen, „wenn ihr das wollt, könnt ihr ja ins Hotel…“, jemand muss oben, der andere unten schlafen. So liege ich jetzt oben neben einer Französin, während Michiko unten mit deren Ehemann döst. Mit dem nötigen Humor könnte man von einem One-night-stand für drei Euros sprechen. Ich frage die Hospitalera höflicherweise nicht, ob sie einen Boyfriend habe und es gerne sähe, wenn dieser mit einer andern schlafen müsste.
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Sicht vom O Cebreiro auf immergrünes Galicien
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Grossartig ist die Sicht von diesem letzten grossen topografischen  Hindernis auf dem Camino in die Weiten des grünen Galicien. In dieser Region, aber noch nicht zu orten, liegt Santiago de Compostela, bis dahin sind es noch 160 km. 
20.9.
O Cebreiro – Triacastela (873 EW); 21.4 km; 5 h 40’; 1358 Kcal
 
Nach Erreichen des O Cebreiro ist die Luft etwas draussen. Das gestaltet den kurzen dafür nahrhaften Aufstieg zum Alto do Poio auf unserer heutigen Etappe etwas mühsam. Dann allerdings senkt sich der Weg bis auf 671 m in Triacastela. Die grandiose Sicht auf galicische Lande macht uns vergessen, dass es praktisch keine Dörfer gibt, wo man sich verpflegen kann. Dafür wird uns jetzt die Restdistanz nach Santiago alle 500 Meter mit Kilometersteinen angegeben.
 
Um dem möglichen versammelten, unsichtbaren Ungeziefer, das sich in den letzten vier Wochen in unsern Schlafsäcken angesammelt haben mag, einen Ruhetag zu gönnen, verbringen wir die Nacht in einem neuen Hotel am Dorfeingang von Triacastela. Für morgen entscheiden wir uns für die kürzere von zwei ausgeschilderten Routen.
21.9.
Triacastela – Barbadelo (13 EW); 22.7 km; 5 h 40’; 1378 Kcal
 
Heiteres Auf und Ab, mit einem prächtigen Sonnenaufgang. Dann ist allerdings bereits Feierabend mit der Sonne, welche sich den ganzen Tag bedeckt gibt. Wunderbares Wanderwetter. In der staatlichen Herberge checken wir bei Cruz ein. Sie ist zwar nicht im selben Jahr, immerhin am gleichen Tag geboren worden wie ich. Manchmal ist es gut, Gemeinsamkeiten zu finden. Die täglich neuen Pilgerströme treffen nicht immer auf Hospitaleros mit Sinn zum Schäkern.
 
Der Camino de Santiago ist eine ergiebige wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Täglich ergiessen sich vom weltweiten Einzugsgebiet Hunderte neu auf diesen Weg. Sie durchstreifen Städte und Dörfer und bilden vor allem bei letzteren eine nicht zu unterschätzende Einkommensquelle. Das geniale System der preiswerten Unterkünfte darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die Pilger im Schnitt dreimal pro Tag essen und mehrmals Zwischenhalte einschalten. Was in Supermercados (Dorfläden mit Selbstbedienung) und Apotheken liegen bleibt, lässt sich nur erahnen. Und wenn man die diversen Dienstleistungen wie Taxis und Gepäcktransporte dazurechnet, so kann man ermessen, wieviele Spanier dank dem scheinbar unaufhaltsamen Fluss an Pilgern ein Auskommen erzielen. Wer der Einmaligkeit seiner Ankunft in Santiago mit einer Unterkunft im dortigen Parador Nacional (früher Pilgerherberge, heute staatliches Luxushotel) den Stempel aufdrücken will, kann leicht 200 bis 500 Euros pro Nacht im Doppelzimmer loswerden.
 
Die Pilger sind denn auch überall gern gesehen und geachtet. Man braucht sich auf dem Weg nirgends zu fürchten, der Staat hat auch alles Interesse, dass es so bleibt.
nbsp;
22.9.
Barbadelo – Hospital da Cruz (15 EW); 29.7 km; 7 h 30’; 2141 Kcal
 
Was frühmorgens mit leichtem Regen anfängt, verwandelt sich Stunde für Stunde in einen typischen Herbsttag. Mit dem Morgengrauen schleicht der Nebel auf den Camino, der uns alleine zu gehören scheint. Bei unserem Frühstückskaffee nach zwei Marschstunden bestätigt uns die Dame an der Theke, dass heute ausser uns noch niemand bei ihr eingekehrt sei. Dabei nähern wir uns dem magischen Stein, der 100 Kilometer bis Santiago ankündigt. Nur wer diesen letzten Hunderter zu Fuss zurücklegt, hat Anrecht auf die begehrte Auszeichnung, die Compostela. Auch bei uns wird einzig darauf geachtet werden, ob der Pilgerpass diese Anforderung erfüllt. Radfahrer und Reiter müssen sich über 200 km Pilgerweg ausweisen können.
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Nur noch 100 km bis Santiago de Compostela…
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Aufgrund dieser Konstellation hätten wir eine kleine Völkerwanderung erwartet. Entweder hielt das unsichere Wetter mögliche Neueinsteiger in den Federn zurück, oder sie ziehen alternative Fortbewegungsmethoden vor. Pilger, die sich im Sinne des Buchstabens mit Rucksack und Pelerine durch die Herbststimmung nicht entmutigen lassen, zählen wir auf den dreissig Kilometern vielleicht zwanzig. Der Camino ist hier breiter angelegt als an manchen früheren Orten. Trotzdem werden den ‚Pilgertouristen’ an einigen Stellen die Grenzen aufgezeigt, sofern sie ungeeignetes Schuhwerk tragen.
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Stausee bei Portomarín
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Vor Portomarín überqueren wir einen Stausee, oder ein Skelett von einem Stausee, denn er gähnt so leer, wie der Lungernsee im Winter. So ergibt sich die Situation, dass aus dem See mehr als einer wurde. Ausserdem kommen Mauerreste des einstigen Portomarín zum Vorschein, welches durch die Staumauer geflutet worden ist. Das Gefühl, endlich den ersten See in Spanien entdeckt zu haben, bleibt aus. Das heutige Portomarín wurde weiter oben neu angesiedelt und weist daher kaum Häuser auf, die älter als ein halbes Jahrhundert sind. Trotzdem ist die abschüssige Hauptstrasse mit ihren Arkaden recht gefällig und dienlich, besonders bei Sommerhitze und Regen. Insgesamt müssen heute ansehnliche Höhenunterschiede bewältigt werden. Da ist man glücklich, dass es keinen Hitzetag absetzt.
 
23.9.
Hospital da Cruz – Mélide (7’818 EW); 28.5 km; 6 h 30’; 1250 Kcal
 
Wunderbarer Wandertag, an vielen Stellen im Schatten von Eichenwäldern. Der Begriff Pilgerweg scheint hier unpassend, weil wir Dörfer und Landschaften queren, wo nur selten Kirchen oder Wegkreuze Spalier stehen. Eine Napflandschaft etwa, mit häufigen Steigungen und Senkungen, insgesamt ein abwechslungsreicher Parcours. Ausser den alle 500 Meter gesetzten Kilometersteinen weist nichts auf das näher rückende Ziel unseres Camino hin.
 
Jemand hat behauptet, dass der Camino auch ein Leidensweg sein müsse. Nachdem meine Füsse und Beine bisher keine Schwächen haben erkennen lassen, hätte ich also noch nicht die volle Dimension erfahren. Einspruch: Nach meinem Intermezzo mit dem Stockzahn hatte ich eine Weile lang befürchtet, den Camino abbrechen zu müssen. Die Wunde drohte sich zu einer Infektion zu entwickeln, mit einem Übergreifen der Schmerzen auf das rechte Ohr. Weil in Burgos gerade Wochenende war, verzichtete ich auf einen Arztbesuch und nahm das Risiko einer wochenlangen Wanderung durch die spärlich bewohnten Ebenen bis León auf mich. Ein Notfallarzt wäre kaum leicht zu finden gewesen. Mit einer rigorosen Zahnhygiene inkl. Gurgeln kriegte ich den Infekt und die Schmerzen allmählich in den Griff.  
 
Und seit ein paar Tagen verspüre ich ein Stechen in der rechten Brust, welches jeweils erst abklingt, wenn ich den Rucksack ablege. Das bedeutet täglich stundenlange Schmerzen, ohne einen Anhaltspunkt, weshalb. Wären die Symptome links, ich suchte den Grund im Herzen, was mich allerdings beunruhigen würde. Nun, die zwei restlichen Tage müssten auszuhalten sein, dann hätte ich hoffentlich auch meinen Anteil am Leidensweg eingelöst.
 
Ich schnarche. Sagt Michiko. Es sei nicht schlimm, aber hörbar. Was sich aber in Mélide abgespielt habe, sei unerträglich. Da hätten gleich fünf um die Wette posaunt, einer davon habe die andern aber derart übertroffen, dass eine Frau sich mehrfach laut beschwert habe, ohne Erfolg. Darauf habe sie angefangen zu singen, wieder ohne die nasalen Instrumentalisten zu beeindrucken. Schliesslich habe sie laut zu heulen angefangen, was die mitternächtliche Kakophonie komplettiert habe. Ich habe in diesem Konzert keine Rolle gespielt, beruhigt mich meine Frau.
 
 
24.9.
Mélide – Santa Irene (27 EW); 33.5 km; 6 h 45’; 1804 Kcal
Ich glaube, wir queren sämtliche Täler Spaniens, ja ich sehe keinen Grund, weshalb das ständige Auf und Ab dieser Etappe jemals enden sollte. Ob es da noch Pilger gibt, die Lust auf innere Einkehr verspüren? Sonst herbstlicher Sonnentag. Der Camino wird wiederum bewacht durch ausladende Äste von Eichen und anderen Laubbäumen. Zwischendurch der ölige Geruch von schlanken Eukalyptusbäumen, wohltuend als Abwechslung zum Stallgeruch von frisch gesetzten Pferdeäpfeln. Denn jeden Tag sieht man irgendwo ein Grüppchen berittener Pferde auf unserem Camino. An der Hinterlassenschaft gemessen, sind Pilger hoch zu Ross nicht mehr nur Exoten.
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Camino unter Laubdach
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Unsere heutige Unterkunft verspricht eine unruhige Nacht. Unaufhörlich brausen und brummen die Fahrzeuge über die Schnellstrasse, welche just an unserem Fenster vorbeiführt. Die Alternative war ausgebucht.
 
Irgendwo hinter den sieben Bergen soll bald der Ort auftauchen, wo seit Tausend Jahren davon gesprochen wird, dass dort das Grab des Apostels Jakob gefunden wurde. Si non è vero è ben trovato, sagen die Italiener. Die Eigendynamik dieses Glaubens erinnert an unsern Wilhelm Tell. Auch wer in Sachen Jakobsgrab bewiese, dass nichts an dieser Legende stimmt, er könnte vermutlich keinen Abbruch an der Popularität dieses Wallfahrtsortes bewirken. Das ist auch gut so. Glauben ist Glaubenssache.
25.9.
Santa Irene – Santiago de Compostela (90’188 EW); 24 km; 4 h 40’; 1268 Kcal
Am 31. Tag unserer Pilgerreise um 11:20 Uhr stehen wir vor der Kathedrale von Santiago de Compostela! Im Pilgerbüro daneben lassen wir uns die verdiente Compostela ausstellen und um 12:00 Uhr mittags findet in der prall gefüllten Kathedrale die tägliche Pilgermesse statt. Die eingetroffenen Pilger werden genannt. Eine lange Litanei, daher verzichtet man auf Namen, und meldet nur die Anzahl pro Land und die Ausgangspunkte ihrer Reise. Einzig ein kürzlich auf dem Camino verstorbener Pilger wird namentlich erwähnt und die Messe zu seinen Ehren zelebriert.
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In Santiago de Compostela – mit Pilgerpässen
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Zu unserem Erstaunen sind mehrere bekannte Gesichter unter den Gottesdienstbesuchern. Wir hatten geglaubt, als erste unserer mehrwöchigen Weggefährten eingetroffen zu sein. Selbst der 71-jährige Japaner Ooyama hat es geschafft, wir haben ihn seit Wochen vermisst. Kathrin kommt angerannt, Horst meldet sich, Anton winkt von einer hinteren Kirchenbank.
 
Es überwiegen Freude über die eigene Leistung und Respekt den andern gegenüber. Sie haben die gleichen topografischen (und andern) Höhen und Tiefen gemeistert. Sie reden die gleiche Sprache, wenn sie erzählen.
 
Denn wenn man Einzelheiten Unbeteiligten gegenüber äussert, so kann sich schnell ein Zerrbild ins Positive oder Negative einstellen. Die Hauptsache ist und bleibt der Camino als Erfahrung, als Lebensschule, als Willensleistung, in Einzelfällen als metaphysisches Erlebnis. Daran gemessen sind Schnarchorgien als Hintergrundgeräusche einzuordnen. Ungeziefer in Massenschlägen verkommen zu Ereignissen, die sich der Kleinheit dieser Insekten annähern. Ich werde den Camino kein zweites Mal machen. Dazu ist er zu anstrengend. Als einmaliges Erlebnis in meiner Biografie möchte ich ihn aber nicht missen.
26.9.
Einmal in Santiago de Compostela, bleibt vielen Wanderern etwas Zeit zur Musse, sei es, dass das eingeplant war, oder dass sie den Camino früher als gedacht beendet haben. Bei uns sind das vier Tage. Im Unterschied zu den Herbergen unterwegs darf man hier mehr als eine Nacht am gleichen Ort bleiben. Wir nutzen den ersten Tag, um nach Finisterre (wörtlich: Ende der Erde) zu fahren. Wir verlassen unsere Bleibe genau zum richtigen Zeitpunkt, als ein privater Taxifahrer mit drei Deutschen verhandelt. Zum selben Preis wie die Autobusse, aber in einer statt drei Stunden fährt er uns an den westlichen Zipfel Spaniens, der in den Atlantik hinaushängt. Die anschliessenden zweieinhalb Kilometer bis zum Leuchtturm unternehmen wir zu Fuss (und ohne Rucksack). Die ganze Strecke lässt sich ab Santiago in drei Tagesetappen erwandern. Das tun einige, wie wir unterwegs feststellen. Das 2970 Seelen-Dorf Finisterre fristet sein Dasein um seinen Fischerhafen, neben dem feinsandige Strände Platz haben. Ein Grund am Atlantik zu übernachten sind die angeblich atemberaubenden Sonnenuntergänge, aber wir entscheiden, im Linienbus nach Santiago zurückzukehren. Dabei führt die Route über zwei Stunden lang der Küste entlang mit mehreren traumhaften Buchten und verwaisten Sandstränden.
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bei Finisterre am Atlantik
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In Santiago hoffen wir, weitere bekannte Gesichter zu treffen und werden nicht enttäuscht. Vor allem die Italiener, welche Michiko unterwegs in ihr Herz geschlossen haben, lassen ihr südländisches Temperament aufflammen. Veronika haben wir lange vermisst, sie hat nicht bloss den ganzen Camino beendet, sie will im Alleingang nach Finisterre weiter wandern. Kathrin ist da, die mit Dave, ihrem schlaksigen kanadischen Weggefährten mit wallendem, weissem Haar so etwas wie ein ungleiches Paar bildete, das sich zeitweise verlor, aber zum Schluss wieder fand. Auch Anton treibt sich noch in den Gassen herum. Gianna, die Italienerin, haben wir in Finisterre angetroffen, sie hat die erste Etappe dorthin zu Fuss zurückgelegt, dann aber befunden, dass die Freundlichkeit der Menschen nachgelassen habe und die Strecke schlechter ausgeschildert sei. Sie stieg auf den Bus um.
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Aufgeräumte Stimmung bei den Italienern im Manolo
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Der Tag ist ein Vollerfolg, der Abschied von unsern Freunden würdig, von Respekt und Völker verbindender Freundschaft geprägt. Echt Camino.
27.9.
Samstag. Shopping-Tag für Michiko, welche Mitbringsel für ganz viele Daheimgebliebene sucht.
 
Zum Mittagessen finden wir uns rechtzeitig beim Parador ein, denn die ersten zehn Pilger geniessen traditionsgemäss eine kostenlose Mahlzeit im Luxus-Etablissement. Da jeder weiss, dass nur die ersten zehn zugelassen werden, bildet sich auch keine Ansammlung. Michiko erhält den Passierschein für neun Personen, welche hinter dem Haupteingang in einen Seitengang und eine kleine Kammer geleitet werden. Dort können sie ihre Rucksäcke und Taschen deponieren. Dann geht es durch Katakomben, die sonst Angestellten vorbehalten sind, in die Küche zum Fassen der bereitgestellten Speisen. Man darf nicht behaupten man werde knauserig behandelt, ein solches Menü würde ich mir in so einem Hotel nie leisten, aber die Prozedur wirkt unwürdig. Im Gästebuch freuen sich denn auch jene jungen Leute, die sonst kaum ein solches Hotel von innen sehen.
 
Dieser erste freie Tag in Santiago zeigt uns, dass bald der Koller infolge Nichtstun eintreten könnte. Jede Treppe zu ersteigen erfordert Überwindung. Dagegen freut uns, dass wir weitere bekannte Gesichter entdecken. Ein deutsches Paar, das den Camino mit uns in Angriff genommen hat, aber so schnell vorangekommen ist, dass es die drei Tagesabschnitte nach Finisterre auch bereits hinter sich hat. 
 
28.9.
 
Sonntag. Sollen wir nach A Coruña, oder lieber eine Etappe Richtung Finisterre, um uns zu beschäftigen? Stattdessen unternehmen wir einen Spaziergang zurück zum Monte do Gozo, der eine Marschstunde vor Santiago liegt. Und wieder begegnen wir Bekannten. Lili, die Brasilianerin, welche sich vor Wochen ihr hübsches Gesichtchen verletzt hat bei dem Versuch, ein Bild von Michiko und mir durch Rückwärtstreten ins rechte Licht zu rücken, bei welcher Aktion sie unglücklich stürzte. Dann die Australierin Helen, schon damals unterwegs mit Lili. Ein paar weitere, eher vom Sehen Bekannte oder deren Namen uns entfallen sind. Und dann Emma! Seit Wochen fragten wir uns, wo sie wohl geblieben ist. Sie, die mir nach der Pyrenäenetappe ihre Kamera geliehen hat und die später mein Portemonnaie aufhob, als es mir unbemerkt aus der Seitentasche gerutscht war. Klar, dass der Gesprächsstoff nicht ausgeht. Jeder hat gewisse Herbergen anders erlebt, oder man hat Neuigkeiten über gemeinsame Bekannte. Helen und Lili sind sehr angetan von zwei jungen Schweizer Frauen, die den Camino mit ihren Blindenhunden bewältigen.
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Santiago de Compostela – mit Emma
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29.9.
 
Der letzte Tag in Santiago bringt abermals einen Höhepunkt. Wir besuchen nochmals die Pilgermesse mit dem anschliessenden Schwingen des zentnerschweren, an der Decke vertäuten Weihrauchfasses (Botafumeiro), welches zur Belustigung der Besucher rauchend quer durch das Schiff schaukelt und über den Häuptern der Gläubigen Weihrauch verströmt. Früher sollen damit fehlende Duschen kompensiert worden sein…
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Catedral de Santiago de Compostela – Ite missa est – das Weihrauchfass wird in Schwung gesetzt 
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Dann aber schliessen wir uns einer Führung an, die auf das Dach der Kathedrale steigt. Wie die Tauben turnen wir auf dem mit massiven Steinplatten bedeckten Schrägdach herum und bestaunen die Vielfalt an architektonischen Details auf Kopfhöhe, werfen einen Blick auf den belebten Hauptplatz unten und in die ziegelrot getönte Altstadt. Für Michiko ist die Möglichkeit, ein Heiligtum dieser Grössenordnung besteigen zu dürfen, undenkbar in Japan und daher ihr allergrösstes Erlebnis auf der ganzen Reise.
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Michiko auf dem Dach der Catedral de Santiago de Compostela
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Im Nachtzug geht es dann Richtung Madrid, nicht ehe wir nochmals vor dem Café Manolo Schlange sitzend auf Einlass gewartet, und dann im Speisesaal ein saftiges, an eine Panflöte erinnerndes Spare Ribs verzehrt haben.
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Catedral de Santiago de Compostela
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Catedral de Santiago de Compostela, Nachtsicht
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Catedral de Santiago de Compostela
Copyright © 2008 by Josef Bucheli

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