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Jura Höhenweg von Dielsdorf nach Nyon

11. Oktober 2015

Dielsdorf – Turgi; 37111 Schritte

Der Jura-Höhenweg besteht offiziell aus 15 Tagesetappen und beginnt im zürcherischen Dielsdorf, um in Nyon am Genfersee zu enden. Das erste Teilstück führt über den östlichsten Ausläufer des Faltenjuras, die Lägern, und endet im aargauischen Brugg, nach anspruchsvollen 895 m Steigungen und 970 m Gefällen.

Offiziell heisst, nach Empfehlungen des Herausgebers eines praktischen Paperback Führers Jura Höhenweg durch „Schweizer Wanderwege“, Monbijoustrasse 61, 3000 Bern 23 und des Schweizerischen Juravereins, Postfach, 4003 Olten. Das Werk hat die ISBN 978-3-03800-574-2 und erschien im AT Verlag.

Spontan gesellen sich unsere weissrussischen Neo-Schweizer Freunde Dima und Katja aus Altstetten zu uns. Den Tag hatten wir mit ihnen als Ausweichdatum vorgesehen für eine Herbstwanderung in der Innerschweiz. Beim Aufbruch in Dielsdorf besitzen wir zwar Angaben zum Profil der Ausgangsetappe, aber ich hätte trotzdem nicht erwartet, schon bald auf einen Bergweg mit exponierten Passagen zu stossen. Erschwerend kommt der dichte Herbstnebel hinzu, der die schräg aufgetürmten obersten Gesteinsschichten auf dem Grat glitschig macht.

Katja, Michiko, Dima: Seltsam, im Nebel zu wandern...
Katja, Michiko, Dima: Seltsam, im Nebel zu wandern…

Über weite Strecken, besonders ab Dielsdorf und vor Baden verwöhnen uns Waldwege der feinsten Sorte; es raschelt unter unsern Füssen, denn bereits hat sich viel Laubwerk von den Gemischtwäldern selbständig gemacht. Die Waldesruhe am frühen Sonntagmorgen gereicht uns zu einem seltsamen Hier-und-Jetzt-Gefühl, denn wir sind allein mit dem Geräusch unter unsern Sohlen. In Waldlichtungen drängt der Nebel zwischen die Baumkronen und verleiht der Landschaft die jahreszeitliche Melancholie. Im Laufe des Vormittags kommen uns Wanderer entgegen, auch kleinere Gruppen. Alle zeichnet gutes Schuhwerk aus, etwas, was ich erst für kommende Etappen vorgesehen habe; für heute habe ich leider auf knöchelfreie Sportschuhe gesetzt. Das rächt sich entlang der schmalen Krete, wo tektonische Schichten sich schräg auftürmen, so dass der zahnende Bergrücken seine aalglatten Frontbeisser zeigt. Zum Glück bricht bald die wärmende Sonne an den ausgesetzten Stellen durch und trocknet den Weg auf der Gratwanderung zwischen den links wie rechts steil abfallenden Wänden des östlichen Juraausläufers.

Unsere heutigen Begleiter verabschieden sich in Baden. Meine Frau und ich beschliessen, die Tagesration bis Turgi zu verlängern, wobei wir von der vorgesehenen Streckenführung über Baldegg abrücken und stattdessen auf dem flachen, malerischen Wanderweg entlang der Limmat Turgi zustreben.

Breakfast at Benjamin & Yumie's
Breakfast at Benjamin & Yumie’s

In Turgi besteigen wir den Lokalzug zurück nach Baden, wo wir von Sohnemann Benjamin und seiner Frau erwartet werden. Für die erste Übernachtung eine ideale Lösung für uns, obwohl wir der schwangeren Yumie damit einiges an Arbeitsaufwand zumuten. Trotzdem wir das anvisierte Tagesziel – Brugg – knapp verpasst haben, bleiben wir im Fahrplan, denn die zweite Etappe von Brugg auf die Staffelegg ist relativ kurz, sodass wir das fehlende Teilstück am morgigen Tag nachholen können.

12. Oktober 2015

Turgi Staffelegg; 33555 Schritte

Für dieses Teilstück setze ich mit Sportschuhen auf das richtige Schuhwerk. Bis Brugg bleiben wir auf dem flachen Wanderweg entlang der Aare. Baden ebenso wie Brugg haben sehenswerte Ortsbilder, auch wenn deren Beschreibung hier zu kurz kommt. Dabei ist neben der verwinkelten Altstadt hier wie dort die geografische Lage an einem wichtigen Fluss mit entscheidend für die geschichtliche Entwicklung und das heutige Erscheinungsbild.

Ausgangs Brugg finden wir  auf unsern mit einer grünen Nummer 5 beschilderten Juraweg zurück. Die Steigung auf den nahen Hügelzug ist sanft und vollzieht sich im Schutze eines Gemischtwaldes. Die Laubbäume haben den Weg tapeziert. Trotzdem leuchten an der Blätterfront der Waldränder alle erdenklichen Farben in der Herbstsonne. Der breite Schotterweg führt auf eine offene Hochebene. Von dort bietet sich ein Tiefblick auf das vom behäbigen Lauf der Aare geprägte Schweizer Mittelland und in meist bewaldete sanfte Hügelzüge. In der Weiträumigkeit geniesst man mitunter eine in der Schweiz rar gewordene Gelegenheit ohne eine menschliche Siedlung im Blickfeld. An einem Aussichtspunkt im Waldesinnern treffen wir auf Wanderer aus der Gegenrichtung. Oberhalb von Linn machen wir kurz Halt im Schatten einer mächtigen, angeblich 700 – 800 Jahre alten Linde, mit einem stolzen Stammesumfang von elf Metern!

Die Linde von Linn
Die Linde von Linn

Unter kurzen Auf und Ab, bald im Wald oder am Rande eines Gehölzes, erreichen wir die Staffelegg, wo das einzige Restaurant wegen Wirtesonntag geschlossen hat. Dafür bringt uns das Postauto nach Aarau, von wo wir die Heimreise in die Innerschweiz antreten. Für das nächste Teilstück nach Hauenstein werden wir uns nach den Wettervorhersagen richten und passendes Schuhwerk vornehmen. Bessere Bedingungen als heute sind kaum denkbar, denn die Sonne verzauberte die von Waldrändern geprägte bunte Landschaft und wärmte den Wanderer ohne ihn zum Schwitzen zu bringen. So oder so, freuen wir uns auf das nächste Teilstück nach dem Motto: „Hip Hip Jura!“

25. Oktober 2015

Staffelegg – Hauenstein; 37321 Schritte

Gemäss unserer Reisefibel legen wir heute 19.5 km zurück, verkraften aufwärts 910 m und erholen uns auf 860 m Gefälle. Soviel zur Theorie.

Herbstwald
Herbstwald

Da mit dem heutigen Sonntag die Sommerzeit in den Winterschlaf geschickt wurde, hätten wir eine Stunde länger schlafen können. Aber wir entscheiden, die Abfahrtszeit von Zuhause nach dem Sommerfahrplan zu machen, um die Etappe ganz ohne Zeitdruck angehen zu können. So erreichen wir die Staffelegg kurz vor acht Uhr. Feld- und Kieswege begleiten unsere erste Marschstunde unter einem Himmelszelt mit Regendrohgebärden. Darnach schluckt uns Jurawald über die meiste Zeit. Das bedeutet, dass es raschelt unter den Sohlen. Der goldene Herbst hat zwar, je höher wir steigen, den Höhepunkt überschritten. Die Wipfel der Laubbäume lichten sich, aber das windgeschützte Unterholz steht uns mit seinen bunten Blättern nach wie vor Spalier. Einige Wanderer kreuzen unsern Weg. Wir machen Mittagsrast just an der Stelle, die als der geografisch höchste Punkt des Kantons Aargau gilt. Kurz darauf wechseln wir in den Kanton Solothurn. Unweit davon bietet uns ein Ausblickspunkt einen umfassenden und grossartigen Weitblick in den Baselbieter Jura und darüber hinaus in die Vogesen und den Schwarzwald, alles unter einem blassblauen Himmel mit Restwolken am fernen Horizont. Bereits haben einige Passquerungen unseren Weg gekreuzt. Bänkerjoch und Salhöhe bieten Postautoservice an. Vom Aussichtspunkt Geissflue führt unser Weg etwas steil hinab zum nächsten Übergang zwischen Baselland und dem schweizerischen Mittelland. Dort müssen wir eine Wegmarkierung verpasst haben und folgen fälschlicherweise der ellenlangen Strasse nach Zeglingen. Bereits unterwegs schwant uns, dass wir vom rechten Wege abgekommen sein könnten. Unten im Dorf versucht uns ein hilfsbereites  Paar mit Kartenmaterial aber ohne lokale Kenntnisse zu helfen. Am Ende bleibt uns nichts anderes übrig, als auf einer asphaltierten Nebenstrasse Richtung Wisen SO zu wandern, was uns ein paar hundert Meter Steigung zusätzlich abfordert. Weil auf der kurvenreichen Strasse zahlreiche Töfffahrer auf dem brummenden Untersatz ihrer Leidenschaft frönen, sind wir froh, dass uns in Wisen jemand einen Feldweg als Alternative vorschlägt, um zum markierten Juraweg zurückzufinden. Am Zielort Hauenstein reicht es gerade noch zu einem Bierchen, bevor uns das Postauto nach Olten bringt, von wo wir per Bahn in die Innerschweiz zurück reisen. Meine Frau unterlässt jede Schuldzuweisung für den ungeplanten Umweg, was sehr für sie spricht!

26. Oktober 2015

Hauenstein – Balsthal; 37386 Schritte 

Die heutige Marschdistanz beträgt 21.2 km, mit 975 m Steigungen und 1155 m Gefällen. Und alle diese Werte erreichen wir in vernünftiger Zeit. Weshalb gebe ich die beanspruchte Zeit nicht an? Weil ich das nicht für nötig halte. Michiko (71) und ich (69) können selbstredend nicht mithalten mit Sportlern, welche ihre Leistung daran messen, wie viel schneller sie eine Strecke bewältigen, als die Marschtabelle angibt. Am heutigen Tag hat uns ein junger Mann gleich zweimal überholt und uns beim zweiten Mal gefragt, ob wir eine Abkürzung gefunden hätten. Er hatte sich nämlich verlaufen. Kann mal vorkommen, siehe gestern.

Aufwärts im Herbstwald
Aufwärts im Herbstwald

Die ersten zwei Stunden bestehen aus einem endlos anmutenden Aufstieg auf die Belchenflue. Alles im Nebel. Nebel ist denn auch das Thema des Tages. Erst als wir die tausend Meter über Meer knacken, erfreut und wärmt uns die konkurrenzlose Sonne für kurze Minuten. Leider müssen wir dann die unter Schwitzen und Nebelnieseln durchnässten Kleider wieder in tiefere Regionen mitführen, d.h. zurück in die Nebelsuppe. Selbst dort, wo der Wanderweg entlang eines Felsbandes führt, müssen wir die Aussicht auf das Mittelland vergessen.

In Bärenwil BL erreichen wir wieder den Talboden. In einem Restaurant halten wir Mittagrast. Ein nahrhafter Aufstieg auf den nächsten Juraausläufer beeinträchtigt den Verdauungsprozess. Oben angelangt, queren wir weiträumige Weideplätze, welche zurzeit noch von Rindern und Milchvieh bestossen sind. Obwohl der Graswuchs bloss noch die Höhe eines kürzlich gemähten Rasens hat, melden die friedlichen Tiere durch Bimmeln ihrer Glocken, wenn sie auf etwas Essbares stossen. Tiefmatt heisst der Weiler, welcher am Fuss des letzten und steilsten Anstiegs liegt, der auf den felsigen Roggenschnarz führt. Oben lösen sich die Nebelbänke endlich auf. Noch eine Stunde lang pirschen wir  durch die dicke Laubdecke des Buchenwaldes, ehe wir bei der Roggenflue ankommen, einer Kanzel auf der ein paar hundert Meter beinahe senkrecht abfallenden Felswand. Das noch in zarten Bodenraureif gebettete schweizerische Mittelland sendet stumme Bilder einer zersiedelten Landschaft hinauf, wobei die belebte N1 und nicht die Aare die Lebensader bildet. Für uns ist dieser Ausblick, auch in die Alpenwelt, die späte und kurze Genugtuung unmittelbar vor dem Abstieg nach Balsthal. Von dort bringt uns wie an den Vortagen der öffentliche Verkehr in die Innerschweiz zurück. Anfänglich war vorgesehen, in Hotels zu übernachten. Nachdem diese Möglichkeit nicht an jedem Etappenziel geboten wird, haben wir uns an die keineswegs teurere Variante der täglichen Heimkehr gewöhnt, wodurch unser Rucksack um einiges leichter ist.

Balsthal im Herbst
Balsthal im Herbst

27. Oktober 2015

Balsthal – Balmberg; 34197 Schritte

Es raschelt
Es raschelt
Jurawaldpoesie
Jurawaldpoesie

Vom Bahnhof Balsthal heisst es zunächst eine Viertelstunde lang Einlaufen durch die Klus, ein Durchbruchstal, welches in der Erdgeschichte durch Erosion entstanden ist. Dann beginnt der Aufstieg auf einer breiten Waldstrasse im Buchenwald. Nebel und goldgelbe Blätter im Unterholz und das braune Laub, welches den Weg flächendeckend tapeziert, prägen den Aufstieg. Nach einer halben Stunde biegen wir ein in einen schmalen Wanderweg, der intimer ist, da wir beim Aufwärtsstapfen das Buschwerk streifen und die Sicht nur bis zur nächsten Biegung reicht. Dichter Nebel fällt von oben in die Baumwipfel. Hohe, schlanke Buchenstämme stützen den nur schemenhaft erkennbaren Baldachin.

Raus aus dem Nebel
Raus aus dem Nebel

Früher als erwartet tauchen wir ein in eine neue Welt. Wie gestern durchbrechen wir die Nebeldecke bei rund 1000 m ü. Meer, hier beim Weiler Schwengimatt. Welch herrliche Herbstsonne! Ich lasse die nebelgeschwängerten und schweissgetränkten Klamotten am Rucksack baumelnd trocknen. Der Wanderweg steigt im offenen Gelände an, wo die Sonne ihre volle Wirkung entfalten kann. Bald biegen wir wieder in den Hangwald ein. Auf dieser Höhe sind die Bäume bereits vollständig entlaubt und warten auf den Winter. Dadurch blinzelt das Tagesgestirn zwischen den Baumstämmen durch, als beobachteten uns seine Strahlen beim Aufstieg zum Grat. Im Jura gibt es bekanntermassen keine Bären. Wohl deshalb projiziert Michiko ihr dünnes Angstkorsett auf eine Herde einheimischen Milchviehs, hofiert von einem langhornigen schottischen Hochlandbullen. Eine beachtliche Karawane Rinder und Gustis bewegt sich seelenruhig vom Wald her auf demselben Pfad auf uns zu. „Milchkühe verteidigen ihre Kälber“ steht auf Infotafeln am Waldrand. Ich entpuppe mich als fieser Bauernbengel und empfinde unverhohlenes Vergnügen beim Aufeinandertreffen der Tiere mit Michiko. Das imposante Geweih des Bullen beansprucht die ganze Breite des Pfads, auch ich muss kraxelnd ins Gebüsch ausweichen…

Nach diesem Intermezzo steigen wir auf immer knorrigeren Wegen Richtung Krete und folgen dieser bis zum höchsten Punkt (1232 m).

Der Abstieg erfolgt in engstem Zickzack; er enthält ein paar T3 Passagen (Vorwärtskommen unter Zuhilfenahme der Hände). Das furztrockene Laub tarnt nicht selten loses Geschiebe, was leicht zu gefährlichen Rutschpartien auf dem Hosenboden führt.

Zurück auf dem beweideten Hochplateau, begegnen wir einer Gruppe von über einhundert Schülerinnen und Schülern auf ihrer Schulreise vom Weissenstein nach Oensingen. Eine ganz beachtliche Marschleistung in uns entgegen gesetzter Richtung, wenn auch ohne die vom Juraweg Nr. 5 empfohlenen Exkurse auf den Grat.

Ober Balmberg rückt in unser Blickfeld. Der Seilpark leicht darüber  liegt bereits im Schatten. Ebenso das Tannenheim, unser Etappenziel. Hier wohnt meine Schwester Elisabeth mit ihrem Mann Ernst. Da das Haus momentan unbelegt ist, haben wir theoretisch 13 Zimmer und ein Massenlager als Nachtgemach zur Auswahl. Quirlige acht Alpakas äsen auf der Weide hinter dem Tannenheim; sie bemustern uns, jedes Tier entsprechend seinem Charakter. Elisabeth spricht sie zärtlich und mit Namen an. Die neugierigen, doch letztlich scheuen Tiere werden für kommerzielle Trekking-Touren in den Wäldern der Umgebung genutzt.

Neugierige Alpaka

Neugierige Alpaka

Das Nachtessen ist massgeschneidert zubereitet auf meine Wünsche und beim anschliessenden Kartenspiel Sidi-Barrani, Frauen gegen Mannen, teilen wir uns in die Anzahl Siege.

Zu Gast im Tannenheim: Elisabeth, Ernst, Michiko
Zu Gast im Tannenheim: Elisabeth, Ernst, Michiko

28. Oktober 2015

Balmberg – Weissenstein; 13402 Schritte

Der heutige Tag ist eigentlich die Vollendung der gestrigen Etappe, die wir durch die Übernachtung auf dem Balmberg abgekürzt haben. Da wir heute und morgen Abend zu Hause Termine wahrzunehmen haben, beschränken wir uns auf dieses zweistündige Miniteilstück, damit wir für den folgenden Tag wiederum im Fahrplan sind. Ausserdem ist für heute Regen angesagt, welcher allerdings bereits in der Nacht auf heute niedergegangen ist. Unsere Gastgeber haben vorgesehen, das Mittagessen auf dem Weissenstein einzunehmen und wir schliessen uns ihnen gerne an, bevor wir in die Innerschweiz zurückreisen. Vorgängig steigen wir auf den lokal bekannten Aussichtspunkt, die Röti, 1395 m ü. Meer, von wo sich uns – Föhn sei Dank – die gesamte Alpenkette offenbart.

30. Oktober 2015

Weissenstein – Plagne; 34292 Schritte

Gemäss Wetterbericht des Schweizer Fernsehens liegt die Nebel Obergrenze wie in den vergangenen Tagen bei rund 1000 m. Auf dem Weissenstein (1279 m ü. M.) gilt das heute nicht. Wir wandern anderthalb Stunden in der Nebelsuppe durch die Landschaft; auf den kahlen Baumskeletten kondensieren die aufziehenden Schwaden und fallen als Regentropfen auf das Bodenlaub. Wir streben auf einem Schotterweg dem Obergrenchenberg zu. Bald sucht ein mit Holzschwellen befestigter Höhenpfad den Grat, welcher uns die Sicht auf beide Hangseiten des Faltenjuras eröffnen sollte. Diese bietet sich uns jedoch erst nach anderthalb Stunden Marschzeit, auf dem breiten Jurarücken, kurz vor Obergrenchenberg. Das Mittelland versteckt sich unter einer dichten Watteschicht; den Alpenkranz dahinter erkennt man dank guter Fernsicht bis in die Einzelheiten. Die Juralandschaft westlich von uns ist vom Nebel gänzlich verschont geblieben. Im Weiler Obergrenchenberg halten wir Mittagsrast.

Das Mittelland im Nebel
Das Mittelland im Nebel

In der Folge verliert der Höhenweg an Attraktion. Der Jura geht in den Kanton Bern über, wirkt irgendwie behäbig. Aus dem Waldpfad wird ein Flurweg, dann eine Kiesstrasse, welche vor Plagne gar asphaltiert ist. Noch sind die ausgedehnten Weiden bestossen, einmal gar mit einer stattlichen Anzahl von Jungpferden. Man fühlt sich von der Landschaft aufgesogen, sie bietet keine Fernsicht mehr auf das Mittelland oder in die Alpen. Einzelne alleinstehende Gruppen von prächtigen Bäumen haben das Weidegras in weitem Umkreis mit Laub zugedeckt. Wochenendhäuschen haben sich entlang des Waldrandes angesiedelt. Wir sind noch geschätzte 800 m ü. Meer.

In Plagne, der ersten französisch sprechenden Gemeinde, entscheiden wir, dem Rat unserer Reisefibel Folge zu leisten und den Weg hinab nach Frinvillier aus dem Fenster des Postautos zu erleben. Es zeigt sich, dass in tieferen Lagen der goldene Herbst immer noch Urständ feiert. Die Wälder in geschützter Hanglage verbreiten eine spektakuläre Mischung von Farbmustern und Formen. Unser Autobus beschreibt eine von mir nicht nachvollziehbare Route und benötigt bis Frinvillier beinahe zwanzig Minuten. Dafür fährt er anschliessend direkt Biel zu, von wo wir via Bern in die Innerschweiz zurückkehren. Das spontane Besteigen des Autobusses konnten wir uns erlauben, weil wir seit heute im Besitze eines Generalabonnements der SBB sind, welches auch für die Postkurse Gültigkeit besitzt.

31. Oktober 2015

Frinvillier – Chasseral; 34399 Schritte

Der markige Aufstieg aus einer Basishöhe von 550 m ü. Meer in Frinvillier vollzieht sich auf einem schmalen, steilen, aber gut unterhaltenen Pfad inmitten eines bewaldeten Hangs. Laub, gefallen von einer Vielzahl von Baumarten, bedeckt den Boden; auf den Sträuchern und in den Kronen warten mehr bunte Blätter auf eine sanfte Landung. Der Weg führt schnell auf die Krete, von wo die Gratwanderung weiterhin aufwärts führt. Nach ein paar hundert Höhenmetern dringen wir ein in eine dichte Nebelwand. Die belebte Autobahn Transjurane unten im Tal sendet ihre Geräusche nach oben. Nach einer guten Stunde geht der Waldweg in eine Schotterstrasse über und auf etwa 1100 m ü. Meer entrinnen wir dem zähen Nebelband. Wir schützen uns vor dem grellen Sonnenlicht und erfreuen uns an angenehmen Temperaturen. Wie gewöhnlich folgt da und dort ein Zwischenabstieg, wie kämen wir sonst auf 1320 zu bewältigende Höhenmeter? Viel offenes und teilbewaldetes Gelände liegt vor uns; auf 1300 Metern sonnen sich weidende Viehherden.

Einige Stunden vergehen, bis wir den weit herum dominanten Kommunikationsturm auf dem Gipfel des Chasseral erblicken. Und er macht sich mitunter wieder rar. Es ist Samstag, daher räkeln sich Familien an der Herbstsonne oder beleben die Wanderwege. Auch Mountain Biker prüfen ihre Geschicklichkeit beim Ritt über Stock und Stein.

Weither sichtbar: Kommunikationsturm auf dem Chasseral
Weither sichtbar: Kommunikationsturm auf dem Chasseral

Am Ziel auf 1607 m ü. Meer muss ich eingestehen, es ist ein wirklicher Konditionstest gewesen! Da kommt dir der 120 Meter hohe Turm, der weithin die Kuppe des Chasseral verrät, näher und näher, doch stets schleicht sich ein Hindernis, ein Hügel dazwischen. Vom eher flachen Rücken des Aussichtsbergs, auf dem es sich zahlreiche Ausflügler in der ausgetrockneten, winterfertigen Graslandschaft gemütlich machen, fehlt noch eine Viertelstunde Marschzeit bis zum Hotel, wo wir übernachten. Eine Anbindung des Chasseral durch den öffentlichen Verkehr fehlt, daher bewegt sich am späten Nachmittag eine ellenlange Blechlawine dem Unterland zu.

1. November, Allerheiligen

Chasseral – Vue-des-Alpes; 32143 Schritte

Sonnenaufgang auf dem Chasseral
Sonnenaufgang auf dem Chasseral

Gutes Stichwort (Vue des Alpes = Sicht der Alpen): Wo ist diese wohl grandioser, als vom Fenster des Hotelzimmers auf dem Chasseral? Das Tausendzahngesicht der Schweizer Alpenkette zeigt sich frühmorgens blutrünstig in Erwartung der ersten Sonnenstrahlen. Doch im Minutentakt verflacht die Morgenröte zu einem Orangegelb. Darunter das wollige Nebelmeer, leicht gekräuselt, wie ein Weltmeer, das seine Wellen durch ein Foto eingefroren sieht. Kein Wölkchen darüber, die Schweiz an Allerheiligen, friedlich unter der Decke, bewacht vom messerscharf abgegrenzten Gebiss des Alpenkranzes. Und dann hat sie ihren Auftritt, um 7.15 Uhr, die Sonne als Alleinherrscherin am blauen Firmament; der Mond, nachts noch Halloween Schattenbilder werfend, hängt jetzt bleich im Zenit, die Sterne sind verblichen, es herrscht Sonne pur. Alphonse de Lamartine (1790-1869) hat 1817 treffend gedichtet:

»O temps, suspends ton vol! et vous, heures propices, suspendez votre cours !

 Laissez-nous savourer les rapides délices des plus beaux de nos jours ! »

Von diesem auch topografischen Höhepunkt senkt sich der Weiterweg, im Schatten des Chasseral, hinab nach Pâquier, teils durch wilde Pfade. Wir kratzen an der Tausendmetergrenze, um bald erneut an Höhe zu gewinnen. In diesem Tal, fernab von Hast und Stress, leben starke Mannen. Der frühere Skirennfahrer Didier Cuche hat hier sein Metier gelernt. Auf Abstieg folgt Aufstieg. Auf dem nächsten Bergrücken erscheint wieder dieses Panorama, unbeschreiblich, auch hier. Die Nebeldecke, von der wir den ganzen Tag unbehelligt bleiben, bedeckt das gesamte schweizerische Mittelland und die Voralpen. Der Alpenkranz erscheint uns, je westlicher wir kommen, umso imposanter. Schon um halb drei Uhr treffen wir auf der Passstrasse Vue-des-Alpes ein. Die letzte Postautoverbindung ins Tal verlässt den Ort um 16.35 Uhr. Es ist zugleich die letzte Fahrt im laufenden Jahr. Uns bleibt nichts anderes übrig, wollen wir die Wanderung fortsetzen, als ein Zimmer zu beziehen. Ein Zimmer mit Blick auf die westlichen Alpen über dem Nebelmeer, nunmehr ausgewalzt wie Streichkäse auf einer Brotscheibe.

2. November 2015

Vue-des-Alpes – Noiraigue; 43048 Schritte

Punkt 07.20 Uhr geht die Sonne auf. Unser Aufbruch beginnt über einen holprigen Pfad übersät mit Wurzeln, Steinen und Laub. Er sucht den Grat. Windstille. Beinahe absolute Stille. Sogar die kommerziellen Jets, die tagsüber unentwegt phonetische Fingerabdrücke hinab senden, sind noch nicht erwacht. Rechterhand geht der Blick hinunter auf die Uhrenstädte La Chaux-de-Fonds und Le Locle, in völlig nebelfreier Lage, linkerhand in die Rebberge der Seegestade am Jurafuss. Nun, das mit den Rebbergen ist nicht wörtlich zu nehmen, da dichter Nebel die Spätlese seit Tagen vor höheren Öchslegraden bewahrt. Wir wandern über ausgedehnte, meist desertierte Juraweiden, worin Gruppen mächtiger Laubbäume im kalkhaltigen und trockenen Hochplateau verwurzelt sind, vielleicht als Schattenspender für das Vieh im Sommer, oder um sich winters gegenseitig warm zu geben. Im alten Juragehöft Grande Sagneule bezahle ich für einen Liter kalte Frischmilch acht Schweizerfranken. Es ist nur ein Gerücht, dass die Milch aus einer Tetrapackung der Migros stammt. Die Kühe sind längst ins Tal zurückgekehrt.

Nebeleinbruch ins Val-de-Travers
Nebeleinbruch ins Val-de-Travers

Am Tagesziel in Noiraigue und keine Freude mag aufkommen! Was die letzten zweieinhalb Stunden abging, verdirbt mir den ganzen Tag. Der Weg ist nicht etwa gefährlich, er existiert abschnittweise einfach nicht! Ein letzter Wegweiser mit der grünen 5 sendet uns in Richtung eines hohen Felsbandes. Vor dem Abgrund angekommen, löst sich der Pfad bald mehr oder weniger auf. Ein paar Sonnenhungrige geniessen die Novembersonne über dem Val-de-Travers, in welchem Nebelschwaden auf und abrollen. Ein Pfad, der diesen Namen verdient, ist nicht auszumachen. Doch eine Alternative zum sich Vorantasten im Gehölz, parallel zum Felsband, gibt es nicht, ein Einstieg in die Wand bleibt undenkbar. Mitunter findet sich ein Baumstamm mit einer aufgepinselten gelben Raute, Beweis dafür, dass wir uns auf einem Wanderweg befinden. Doch diese Hilfe wird immer spärlicher. Und wir wissen, dass uns noch mehr als zwei Stunden und über vierhundert Höhenmeter Gefälle erwarten. Trotzdem türmen sich immer wieder Hindernisse vor uns auf, die schweisstreibend zu erklimmen sind. Eine Dame bittet mich um Rat, da sie fürchtet, den Weg zu verlieren. Ich schicke sie auf den Rückweg und sie wünscht mir viel Courage. Ab und zu glaube ich, eine Fährte zu entdecken, auf vertretenem Laub etwa, das den Waldboden grossflächig bedeckt. Mit Sperberaugen suche ich nach den gelben Rhomben an Buchenstämmen. Sie bestärken mich jeweils für einen Augenblick im Glauben, dass wir uns wenigstens auf erschlossenem Gebiet vorantasten. Es gilt auch, keine Unsicherheit gegenüber Michiko erkennen zu lassen, welche mir stets auf hundert oder mehr Meter Distanz folgt. So kann sie meine Flüche Richtung aller Heiligen nicht vernehmen (und das am Allerseelentag). Wer ist – Herrgott nochmals – zuständig für dieses Teilstück eines Internationalen Fernwanderweges? Eine Fernsehantenne auf 1119 m ü. Meer versichert uns nach gefühlten Stunden negativer Gedankengänge, dass wir, obwohl noch kaum an Höhe verloren, auf dem Weg ans Tagesziel Noiraigue sind, welches in 45 Minuten zu schaffen ist. Dort erreichen wir rechtzeitig den Zug Richtung Neuchâtel und Innerschweiz. Wir hätten uns einen versöhnlicheren Unterbruch des Jura-Höhenweges gegönnt.

6. November 2015

Noiraigue – Les Rochat, 27248 Schritte (inkl. Anreise)

Um 09.01 Uhr trifft der Zug fahrplanmässig in Noiraigue ein und um zwölf Uhr halten wir Mittagsrast am Rand des Creux du Van. Uns kommt entgegen, dass der Aufstieg sich um diese Jahreszeit im Schatten vollzieht. Uns ist keine besondere Eile geboten, denn wir können das zehnte Teilstück, welches gemäss unserem Paperback Reiseführer bis Sainte-Croix geht, um diese Jahreszeit unmöglich bei Tageslicht bewältigen; deshalb übernachten wir auf halber Distanz in Les Rochat und ziehen zwei durchschnittliche Wandertage ein. Der Creux du Van stellt den ungekrönten Höhepunkt des heutigen Tages dar. Man steht dieser Schweizer Antwort auf den Crand Canyon erst gegenüber, wenn man die letzte der 14 (teils nummerierten) Kurven des Aufstiegs hinter sich gebracht hat: Ein Erosionsloch, 1200 m breit, zwei Kilometer lang, 200 m tief. Die Gesteinsschichten liegen in der Horizontalen, so dass am seitlichen Rand Felstrapeze über den Abgrund hinausragen, von Mutigen rege benutzt für Posen über dem Nichts. Der ungünstige Sonnenstand verhindert spektakuläre Schnappschüsse. Ich beobachte einen einsamen älteren Mann (damit ist jeder gemeint, der in meinen Augen älter als ich ist…), wie er vor dem Naturwunder steht, mit geschlossenen Augen und bebenden (oder betenden?) Lippen. Ob er sich sprungbereit macht?

Creux-du-Van für Schwindelfreie
Creux-du-Van für Schwindelfreie

Le Soliat (1463 m ü. Meer) liegt am oberen Rand des ovalen Kraters; dort hat sich eine Ansammlung von Tagestouristen gebildet. Wir verabschieden uns von der grössten Natursehenswürdigkeit, die der Jura zu bieten hat. Die Hochebene öffnet den Weitblick in die Westalpen und die nebelfreien Kantone Neuenburg und Waadt. Der Weg führt nun mehr oder weniger stetig talwärts durch ausgedehnte Juraweiden.

Creux-du-Van (Poster)
Creux-du-Van (Poster)

Das Restaurant Les Rochat, immer noch auf 1164 m ü. Meer, empfängt uns in einer relativ ebenen Landschaft, die im Winter zahlreiche Langlauf-Loipen durchziehen. Unser Schlafsaal zählt zwanzig enge Pritschen, wir sind alleine, bis ein älterer Herr sich in einer andern Ecke sein Plätzchen aussucht. Das Restaurant Les Rochat scheint eine beliebte Ausflugsbeiz zu sein. Schon am Nachmittag sind viele der rund fünfzig Stühle im Speisesaal belegt und als wir uns zum Nachtessen einfinden, sind sämtliche Tische reserviert. Es ist Wildbretsaison, unserem Essenswunsch nach einem Käsefondue Mauler (ein lokaler Schaumwein) kann aus Geruchsgründen nicht entsprochen werden. Der gemischte Salat scheint in der industriellen Sauce des Nachmittags zu schwimmen. Aber der Hirschpfeffer mundet Michiko ausgezeichnet.

Restaurant Les Rochat
Restaurant Les Rochat

7. November 2015

Les Rochat – Sainte-Croix; 32663 Schritte

Die zweite Teiletappe kennt einen massiven Höhepunkt, den Chasseron, mit 1706 m genau gleich hoch, wie sein Fast-Namensvetter Chasseral. Der Weg senkt sich nie unter die Tausendmetergrenze. Er führt über Stock und Stein, abgeweidete Graslandschaften, lichte Gemischtwälder. Letztere gehen ab 1400 m ü. Meer fast vollständig in Nadelwälder über. Eine spezielle Laune der Natur, denn die immergrünen Koniferen müssen im Winter die ganze Schneelast tragen, während die zu Skeletten reduzierten Laubbäume vorgesorgt haben.

Sicht vom Chasseron (1607 m ü. M.)
Sicht vom Chasseron (1607 m ü. M.)

Der Gipfel des Chasseron gleicht nur ganz oben einem Gipfel. Weitläufige Weiden begleiten ihn bis wenig Dutzend Meter vor den Triangulationspunkt. Trotzdem: Dieses Panorama! Die ganze Länge des Neuenburgersees am Fusse des östlichen Juras, dahinter die ausgedehnten Flächen des Waadtlandes, gefolgt von der Alpenkette, dominiert vom Mont Blanc. Der Weg hinab nach Sainte-Croix sucht weiterhin die Krete, während die Westflanke schroff, weglos abfällt und auf die bescheideneren benachbarten Juraausläufer blickt. Dörfer, Weiler, viel Wald und überraschend grüne Wiesen, sodann Landschaften, die irgendwo die Grenze nach Frankreich überschreiten.

Wir erreichen Sainte-Croix, das Eldorado für Musikdosen (z.B. Reuge), mit genügend Zeit für ein Bier, bevor wir mit dem Lokalzug via Yverdon-les-bains in die Innerschweiz zurückkehren. Um die beiden „Halbetappen“ gebührend zu würdigen, müssen wir wohl gewisse Werte zusammenzählen: Länge: 31.8 km, Aufstieg: 1715 m, Abstieg: 1380 m, Anzahl Schritte: 59911.

8. November 2015

Sainte-Croix – Vallorbe; 41811 Schritte

Ausgehend vom Bahnhof Sainte-Croix im Unterdorf macht man mit der Steilheit des Dorfes Bekanntschaft, denn der Wanderweg nach Vallorbe verlässt das Bergdorf in den oberen Quartieren. Ein dünner Pfad windet sich hoch und führt in einen Forst- und später Wiesenweg. So gewinnen wir sachte an Höhe, während längerer Zeit auch auf einer asphaltierten Schmalstrasse mit wenig Verkehr. Das primäre Ziel ist der 1588 m hohe Suchet, der fünfthöchste Juraberg. Der eigentliche Aufstieg ist happig. Der Weg ist steinig und von Fichtenwurzeln durchwoben, was den Aufstieg gleichzeitig sichert. Mountain Biker stossen ihre Maschinen an uns vorbei. Die Sicht auf der flachen Kuppe lässt keine Wünsche offen. Vom Neuenburgersee ganz links streift der Blick über Städte und Dörfer, welche sich inmitten von Acker- oder Wiesenkulturen installiert haben. Verzettelte Waldzungen besetzen Abhänge. Aber von unserer Perspektive, welche die eines startenden oder landenden Flugzeugs ist, verschwinden Hügelzüge im Waadtland zu einer grossflächigen Ebene. Rechterhand erstreckt sich der Genfersee, teilweise unter einer zarten Dunstschicht. Abgeschlossen wird das Panorama, wie an den Vortagen, durch den Alpenfirn, dominiert durch das Montblanc-Massiv.

Sicht vom Suchet (1588 m ü. M.)
Sicht vom Suchet (1588 m ü. M.)

Was nach den 760 Metern Aufstieg und dem Ausblick folgt, ist der Abstieg vom Suchet auf einem andern Pfad. Man kommt auch dort bloss in Einerkolonne voran. Wie ist es möglich, dass Michiko dabei verloren geht? Sie muss unterwegs einer Abbiegung gefolgt sein. Alles Warten und Rufen bringt nichts, als ich ihr Fehlen bemerke. Ich laufe wieder hoch, ein paar Wanderer hören meine Stimme und bestätigen, dass eine Frau nach ihrem Mann sucht. In der von den Augenzeugen angegebenen Richtung finde ich sie nicht. Wieder zurück am Fuss des Suchet, berichtet ein anderes Paar von einer englisch sprechenden Dame, die ihren Begleiter vermisst. Es bietet an, sich an der Suche zu beteiligen, was ich dankend ablehne. Wider jede Logik laufe ich zurück in Richtung Sainte-Croix und siehe da, hinter der ersten Kurve sehe ich ihre Silhouette auf mich zukommen. Ich wende sofort und mache mich auf die stundenlange Wanderung nach dem Tagesziel Vallorbe. Insgesamt 1035 Höhenmeter verteilen sich auf relativ flache Flur- oder Waldwege. Michiko halte ich stets auf Blickdistanz. So meistern wir die Wegstrecke wortlos bis nach Sonnenuntergang und erreichen in Vallorbe in der Dämmerung den Zug nach Lausanne, abfahrtbereit, mit wenig Zeitreserve.

9. November 2015

Vallorbe – Le Pont; 22129 Schritte

Der Martini-Sommer geht weiter. Man kann über eine ganze Reihe von Tagen planen. So gesehen würde ich heute daran glauben, dass wir den Jura-Höhenweg noch im laufenden Jahr abschliessen können. Heute steht eine Kurzetappe an: 12,8 km; 810 m hinauf; 595 m hinunter. Hauptattraktion ist die Dent de Vaulion (1482 m ü. Meer). Folgt man der grünen 5, so führt der Aufstieg mehrheitlich über eine Forststrasse, die für die letzten hundert Höhenmeter übergeht in einen recht anspruchsvollen Steilpfad. Hat man den geschafft, ist man erst in Sur le Voué (1154 m ü. Meer). Die gut dreihundert fehlenden Höhenmeter bis zur Dent de Vaulion erfolgen auf Weideland. Man ist fast geneigt, mit Vergnügen auf die schwarzen Wolken zu schielen, welche von Westen her aufkreuzen, denn sie neutralisieren die brennende Novembersonne. Auf den finalen fünfzig Metern Steigung ist man allerdings froh, dass diese Regenboten ohne Niederschlag vorübergehen und die Kletterei über Lehm und Stein nicht zur Rutschpartie wird.

Vaulion, die 5 auf grünem Grund ist unser Kompass
Vaulion (1482 m ü. M.) die 5 auf grünem Grund ist unser Kompass

Welche Überraschung, als knapp nach mir das Ehepaar beim Vermessungspunkt auftaucht, welches vor dem Bahnhof Vallorbe dieselbe Infotafel konsultiert hat wie ich. Diesmal reden wir uns an. Die britischen Rentner haben einen einfacheren Aufstieg gewählt. Auch sie sind im zürcherischen Dielsdorf aufgebrochen, allerdings schon im Frühjahr. Sie machen immer ein paar Etappen aufs Mal und hoffen, bald vor ihrer eigenen Haustür in Nyon das Trekking erfolgreich zu beenden.

Sicht vom Vaulion auf den Lac de Joux (1004 m ü. M.)
Sicht vom Vaulion  (1482 m ü. M.) auf den Lac de Joux (1004 m ü. M.)

Die Sicht auf der Dent de Vaulion ist gegenüber früheren Bergeshöhen um eine Attraktion reicher: Der Lac de Joux beeindruckt durch seine Ausdehnung zwischen zwei Jurawällen. Auf der Südseite gleisst ein Teil des Genfersees zu uns hinauf, heute ohne Dunstfilm. Die Ortschaft Le Pont, am Endpunkt des Abstiegs, liegt just am Joux-See und hat sich mit einer Strandpromenade zu einem Urlaubsort gemausert. Da die Hochebene auf 1000 m ü. Meer im Winter oft in einem Kaltluftsee liegt, kann die Seefläche über lange Wochen für sportliche Aktivitäten genutzt werden.

Am Telefon erfahre ich leider, dass die morgige Etappe von Le Pont auf den Marchairuz-Pass vertagt werden muss, da das Hotel oben nur samstags und sonntags geöffnet hat. Mit einer Übernachtung auf dem Pass hätten wir die morgige und die zweitletzte vom Col du Marchairuz nach St-Cergue elegant im Duopack in Angriff nehmen können.

15. November 2015

Le Pont – Col du Marchairuz; 38579 Schritte

1010 m Steigung, 570 m Gefälle, 19,9 km Länge, so die Kurzversion dieses Tages. Das Höhenprofil zeigt moderate Steigungen bis zum Mont Tendre, mit 1679 m ü. Meer die höchste Erhebung im schweizerischen Jura. Im Feldversuch gestaltet sich der Tagesablauf etwas komplizierter. Die erste Wanderstunde ist ein déjà vu vom Ende der Etappe vom 9. November (Vallorbe – Le Pont). Möglicherweise haben wir den richtigen Anmarsch verpasst, bestimmt führen mehrere Wege zum Mont Tendre. An einer Wegscheide zeigen die ominösen grünen Fünfer gar in drei Richtungen. Wir wählen den pragmatischen Weg, in dem wir demjenigen Wegweiser folgen, der unsere heutigen Zwischen- und Tagesziele anzeigt. Dafür nehmen wir in Kauf, dass die gelben Rauten oder andere Orientierungshilfen Mangelware sind. Prompt verlaufen wir uns irgendwo im Wald und müssen umkehren. Kurz vor dem Mittagshalt finden wir auf den offiziellen Jura-Höhenweg (chemin des crêtes auf Französisch) zurück. Er führt uns mählich und ohne anstrengende Steckenführung auf den topografischen Höhepunkt der ganzen Jurawanderung. Der Mont Tendre hat keine eigentliche Gipfelform. Dafür böte er einen Rundblick der Sonderklasse, heute leider beeinträchtigt durch starken Dunst. Eine kilometerlange Trockenmauer erklimmt die Anhöhe und folgt der Krete über alle Bodenwellen, ein Anblick, wie ich ihn zuletzt von der Chinesischen Mauer in Erinnerung habe. Der Genfersee breitet sich aus wie ein bleicher, plattgedrückter Croissant vor dem Dunstschild, der die Alpenkette dahinter verschleiert.

Mont Tendre, 1679 m ü. Meer, höchste Erhebung des Juras
Mont Tendre, 1679 m ü. Meer, höchste Erhebung des Juras

Der Weiterweg zum Col du Marchairuz sieht im Schema einem steten Abstieg gleich, aber in Wirklichkeit stellen sich uns immer wieder Dreissig- bis Fünfzigmeter-Gegensteigungen in den Weg. Im Ganzen dürfen wir trotzdem von einer eher leichten Strecke berichten, es gibt nirgends heikle Passagen. Wir treffen denn auch zur vorgesehenen Zeit auf dem Marchairuz-Pass ein und verbringen die Nacht im Hotel gleichen Namens.

Käse-Fondue im Hotel Du Marchairuz
Käse-Fondue im Hotel Du Marchairuz

16. November 2015

Col du Marchairuz – St-Cergue; 28702 Schritte

Die relative Flachetappe wird in unserem Wanderführer mit dem Schwierigkeitsgrad ‚mittel’ benotet, davon gibt es bloss zwei. Alle übrigen erhalten das Prädikat ‚schwer’. Der überwiegende Teil des Tagespensums spielt sich in einer Schneise zwischen nicht allzu dichtem Fichtenwald ab. Die Wiesen sind sommers derart intensiv beweidet worden, dass die einzelnen Pflänzchen kahl rasiert auf dem Boden kauern. Selbst der Heilige Rasen von Wimbledon wäre beeindruckt von der Qualität des Schnitts! Die Flora wartet auf den ersten Schnee. Nach einer Sennhütte mit dem Namen Planet, sucht der Pfad Waldpassagen mit recht steilen, laubbedeckten Stellen. Der Genfersee rückt zwar physisch immer näher, doch zu Gesicht bekommen wir ihn nur kurz in einer Waldlichtung. Es ist eine insgesamt angenehme Etappe bei beinahe milden Temperaturen für Mitte November.

Hinweisschilder wollen unterhalten sein. Merci madame.
Hinweisschilder wollen unterhalten sein. Merci madame.

Da kurz nach unserem Eintreffen im Bahnhof St-Cergue der Zug Richtung Nyon einrollt, haben wir nicht lange Zeit zum Überlegen, ob wir vor Ort eine Unterkunft suchen sollen. Wir verschieben den Entscheid bis Nyon, wo sich aber zeigt, dass Hotels in vernünftiger Preislage einen höheren Suchaufwand erfordern, als wir betreiben mögen. Wir besteigen den nächsten Zug Richtung Lausanne und  Zentralschweiz. Da es sich bei der allerletzten Etappe von St-Cergue über das lokale Wahrzeichen La Dôle nach Nyon um die zweitlängste Tagesration handelt, einigen wir uns darauf, dass ich diese alleine bestreiten werde, denn es ist illusorisch, dass wir zusammen das Endziel vor dem Eindunkeln erreichen würden, weil der früheste Zug aus der Innerschweiz erst um 09.30 Uhr in St-Cergue eintrifft. Schön, dass wenigstens das Wetter meinem Unterfangen keinen bösen Streich spielen will.

17. November 2015

St-Cergue – Nyon (Borex); 26360 Schritte

Tout est bien qui finit bien, sagen die Welschen. Ende gut alles gut. Nur, ganz ohne Emotionen geht der Jura-Höhenweg am letzten Tag nicht vorüber.

Um 09.30 Uhr steige ich in St-Cergue als einziger Passagier aus dem Lokalzug von Nyon. Die Windjacke bereits leger um die Lenden geknotet, marschiere ich sogleich zu den Info-Tafeln. Der Aufstieg zum La Dôle beginnt unmittelbar beim Dorfzentrum. Bis auf ein paar Abkürzungen im Hang folgt die Route einer Waldstrasse. Ich gewinne rasch an Höhe. Vielleicht versäume ich dabei irgendwo den Einstieg in den Pfad, der direkt zum La Dôle führt. Egal, auf einem Zwischenboden bleibt das Tagesziel sichtbar, auch wenn es über einen Zwischenabstieg erreicht werden will. Unterdessen küssen Nebelschwaden die Krete um den La Dôle, mit 1677 m ü. Meer die zweithöchste Erhebung auf dem Jura-Höhenweg. Aus der oben erwarteten Kaiser-Aussicht auf den Genfersee und die Savoyeralpen wird nichts. Zum Glück habe ich den Genfer jet d’eau bereits auf dem Aufstieg entdeckt; ohne diese 140 Meter hohe Wasserfontäne wäre die Rhonestadt nicht zu lokalisieren gewesen.

La Dôle, 1677 m ü. Meer, zweithöchster Berg im Jura
La Dôle, 1677 m ü. Meer, zweithöchster Berg im Jura

Der Abstieg in Richtung Nyon ist zuoberst etwas erschwert, da Nebelnetzen die Steine und Unterlage auf dem Weg glitschig macht. Später durchkämme ich stundenlang Wald. Feine Wanderwege lassen ein vergnügliches Auslaufen erwarten.

Kein Baum zu alt, um nützlich zu sein
Kein Baum zu alt, um nützlich zu sein

Bis zu der Stelle, wo die Strecke infolge Holzschlages rigoros abgesperrt ist. Alles Diskutieren mit den Waldarbeitern bringt nichts. Ich muss mit einer asphaltierten Umfahrungsstrasse Vorlieb nehmen. Dadurch gehen sämtliche Wegweiser verloren. Wir sind noch über eintausend Meter über Meer und man kann sich ausrechnen, wie lange ich den Serpentinen folgen muss, bis sie im Tal angelangt sind. Verkehr hat es keinen; an einer Ecke weisst ein Schild nach dem La Dôle, das andere in ‚Alle anderen Richtungen’. Die Wahl fällt leicht. Ein paar gefühlte Kilometer weiter unten folgt eine Gabelung, links Lausanne, rechts Genf. Alternativen wie Paris und Moskau hätten mir gleichviel geholfen. Ich wähle Genf, weil diese Strasse etwas steiler abfällt. Ein paar Kurven später erblicke ich eine Hinweistafel für die Abtei Notre-Dame de Bonmont. Die Zufahrt zu den Ruinen des ersten Zisterzienserklosters in der Schweiz folgt wenig weiter unten. Die grüne 5 am Strassenrand taucht auf, ich weiss mich wieder auf dem richtigen Weg. Allerdings fehlen bis Nyon noch mehr als zwei Marschstunden im Flachen. Ich entdecke auf demselben Schild das Dorf Borex, erreichbar in 35 Minuten. Dort besteige ich den Postbus nach Nyon und verrechne die Irrungen im Wald mit den unnötigen Kilometern auf der Ebene vor Nyon.

Eine innere Befriedigung übertönt bald den Albtraum wegen der Umleitung. Dass ich den gesamten Höhenweg von Dielsdorf bis an den Genfersee noch im laufenden Jahr abschliessen kann, ist dem Jahrhundert-Martinisommer geschuldet. Es wäre aber ein Trugschluss, daraus zu schliessen, dass das letzte Quartal des Jahres die ideale Jahreszeit für Jurawanderungen ist. Das frühe Einnachten ist bloss ein Nachteil, andere sind geschlossene Wirtschaften und Hotels und ausgedünnte oder gar eingestellte Winterfahrpläne der Postautos.

Streckenprofil Jura-Höhenwanderung (aus erwähntem Wanderbuch
Streckenprofil Jura-Höhenwanderung (aus benutztem Wanderbuch)

 

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