Nakasendo (von Tokio nach Kioto auf historischen Poststrassen)
2. – 24.6.2015
Anreise: Schneller Check-in in Zürich. Reisepass einscannen. Auf der präsentierten virtuellen Tastatur „T“ für die Destination Tokio eingeben. Die Infos der beiden gebuchten Flüge erscheinen. Daten bestätigen und schon wird der Boarding Pass ausgedruckt. Auf dem Bildschirm wird angezeigt, an welchem Schalter man das Gepäck aufgeben kann. Alles in Minutenschnelle, da wir frühzeitig am Flughafen eintreffen und keine Kolonnen von Reisenden vor uns finden. Airbus A340-300 der SWISS, nicht vollständig ausgebucht; Flugzeit 11 Stunden 30 Minuten bis Tokio Narita.
Bei der Ankunft in Japan regnet es bei 22°C. Michiko hält an ihrem Plan fest, die Nihonbashi-Brücke zu besuchen. Diese Brücke ist die Station 0 von total 69 auf unserem Fussweg von Tokio über die historische Nakasendo-Wegstrecke über die Berge nach der alten Kaiserstadt Kioto (Naka=durch; sen=Berg; do=Weg). Die zehn Gehminuten vom Bahnhof Nihonbashi zur Brücke unter Nieselregen führen uns vor Augen, dass wir für Wanderstock, Kamera, Handtasche und Schirm ein Manko an Händen haben.
Um dem neuen Tag trotz Schlafdefizit etwas Positives abzugewinnen, besuchen wir Michikos beste Freundin. Sie wohnt in Urawa (#3) und somit direkt am Nakasendo. Da die Grossstadt Tokio die Stationen #1 und #2 längst eingemeindet hat, erreichen wir Urawa mit Metro und Bahn. Gross ist die Freude übers Wiedersehen. Der Regen, welcher am Nachmittag ein Einsehen hat, führt zu einem Temperatursturz von unerträglichen 35 Grad auf geradezu ideale 22°C. In den folgenden Tagen würden wir vom Nass von oben verschont, meldet Yuki zur Hebung der Stimmung. Sie wandert mit uns die historischen Überbleibsel des Nakasendo in ihrer Geburtsstadt ab. Dann fährt sie uns nach Oomia (#4), einer weiteren Poststation in heute urbanem Gebiet. Neben Stelen mit alten Inschriften fällt vor allem der prächtige Hikawa-Schrein auf. Doch es sind nicht die religiösen Kultstätten, die uns am Nakasendo in erster Linie interessieren, denn es ging dabei um den Verbindungsweg zwischen zwei Machtzentren, Edo, dem früheren Tokio und Kioto. Wir wollen die physische Herausforderung am eigenen Leib erfahren. Doch vorerst benutzen wir erneut den Zug und gleiten in Takasaki (#13) unter die Bettlaken im Wissen, dass der Fussmarsch erst am 4. Juni in Yokokawa losgeht.
4. Juni, APA-Hotel; Takasaki – Karuizawa; 33348 Schritte
Abfahrt 07.30 Uhr mit dem Zug nach Yokokawa. Ab acht Uhr beginnt dort unser Abenteuer; sanfter Anstieg durch das schöne Dorf Sakamoto (#17), am Fuss des Usui-Toge (Toge=Pass). Das Dorfbild beeindruckt mich, obwohl kein Mensch unsern Weg kreuzt. Die Durchgangsstrasse ist beiderseits von asphaltieren Trottoirs begleitet. Der Wasserlauf neben der Fahrbahn, früher Schüttstein und Wasserbecken der Bewohner in einem, wird offen geführt, so dass unzählige Zufahrten zu den Häusern mit Gitterrost-Elementen überbrückt werden müssen. Auch die sorgfältig gehegten und gepflegten Gärten zwischen den einzelnen Grundstücken erscheischen unsere Bewunderung.
Sobald wir den Aufstieg im Wald in Angriff nehmen, ist bis oben kein bewohntes Haus mehr am Wegrand zu sehen. Bald schreiten wir auf Laub und Nadelblättern durch eine hohle Gasse, bald wandern wir der Krete entlang. Wir erreichen die Passhöhe gegen 13 Uhr. Angenehme Temperaturen im Schatten von Nadel- und Laubbäumen. Myriaden von Grillen oder, wahrscheinlicher, Zikaden zirpen unaufhörlich, während Vögel die andern unsichtbaren Konzertanten sind. Eine gelegentliche Brise verhilft uns zu idealer Betriebstemperatur. Wir wandern gemeinsam mit einem japanischen Ehepaar. Dieses hat die Schweiz schon dreimal besucht und zeigt uns stolz das Warnglöcklein am Wanderstock, ein Souvenir aus Zermatt. Alle Japaner führen im Wald solche Accessoires mit sich, um Bären vorzuwarnen. Obwohl mich dies im Grunde amüsiert, sehe ich mich, mit ein paar Minuten Vorsprung unterwegs, unvermittelt einem unbekannten Tier auf zehn Meter gegenüber. Es starrt mich an, als wolle es mich fragen, wer von uns beiden das Weite suchen solle. Es ist keine Wildsau, obwohl es ihr am nächsten sieht. Wir beide verhalten uns wie in Schockstarre. Es handle sich um eine nur in Japan heimische Rotwildart, erklären uns die Mitwanderer, obwohl sie noch nie in freier Wildbahn einem solchen Tier begegnet seien.
Der Weg steigt bis auf 1200 Meter über Meer an, wo wir eine Gaststätte aufsuchen. Dort erzählt uns ein anderes japanisches Rentnerpaar von seinen Reisen in die Schweiz: Zermatt, Jungfraujoch, Genfersee, Luzern. Der Mann ist voll der Bewunderung für die kleine Schweiz, welche drei Firmen unter den Top 20 der Welt zähle, während Toyota, das grösste japanische Unternehmen, weit hinter diesen figuriere.
Der Pfad hinunter zur mondänen Sommerfrische Karuizawa (#18) ist in einwandfreiem Zustand und leicht zu begehen. Dass wir diese sechsstündige Wanderung ohne physische Probleme bewältigen, ist unserer intensiven Vorbereitung geschuldet. Gemäss Michikos Unterlagen gilt die erste Etappe als eine der Anspruchsvollsten. Weitere Bergstrecken werden folgen nach ein paar Flachstücken. Wieso gingen die Menschen früher nicht einfach entlang dem Meeresufer? Es gab in der Tat diese Alternative, für uns nicht attraktiv, da heutzutage praktisch überbaut. Es waren die fehlenden Brücken am Unterlauf von Gewässern, die den Meeresuferweg verteuerten, da Fährschiffe mit Flussquerungen ihren Tagelohn verdienten.
Der heutige Kaiser von Japan unterhält eine Residenz in Karuizawa. Das reicht, um viele Reiche und Schöne anzulocken. Das Ortsbild, wie wir es von oben kommend antreffen, ist eine einzige Ansammlung von Souvenirläden und Restaurants, belebt von Hunderten Urlaubern. Die Besitzer von Shops und Läden, aber auch von Firmen verleihen dem Ort Internationalität durch englische und französische Namensschilder.
Ein Etablissement führt den Schriftzug „Liebling“. Gross ist unser Erstaunen, als gegen sieben Uhr abends die meisten Restaurants geschlossen sind und sich die Strassen fast völlig entvölkert haben. Wir sind froh, uns in einen Italiener zu retten, wo wir uns mit einer feinen, dünnwandigen Riesenpizza mit japanischen Pilzen und italienischem Käse und Salsitzwurst stärken.
5. Juni, Karuizawa – Iwamurada; 31178 Schritte
In den Schrittzahlen inbegriffen sind unnötige Umwege, wie sie vorkommen, wenn kaum Markierungen vorhanden sind. Ein Teilstück ohne Steigungen. Auf den rund zwanzig Kilometern verlieren wir 200 Höhenmeter. Wie die Topografie, ist der Inhalt des Tages arm an Höhepunkten. Weshalb tun wir uns solche Übungen entlang der Route 19 an? Dem zähflüssigen Werktagsverkehr die Ehre zu erweisen, ist sinnlos und könnte nur noch bei Regen abartiger sein. Diese Höchststrafe bleibt uns erspart, ja, wir wandern sogar bei idealen Temperaturen zwischen 13 und 20 Grad bei spärlichem Sonnenschein. Man hat die Möglichkeit, auf Dorfstrassen auszuweichen, denn es liegen vier Dörfer am heutigen Nakasendo. Das erste, Kutsukake (#19), hat als einziges seinen historischen Namen abgeändert. Auf Naka Karuizawa, und das aus purem Selbstinteresse, weil es sich so besser vermarkten lässt. Und prompt reihen sich Schilder mit fremdländischem Schriftzug an der Durchgangsstrasse. Auf dem Weiterweg Richtung Oiwake (#20) sind wir voll dem Berufsverkehr ausgeliefert. Wir sind froh, bald ein Restaurant zu finden, das frühmorgens geöffnet hat, damit wir die knurrenden Mägen befriedigen können. Der Mann mit Künstlermiene hinter der Theke sowie die drei Massivholztische im Raum verschwinden fast hinter herumstehenden Antiquitäten und Trödelwaren. Pendeluhren stehen und hängen ein wenig überall und geben in diesem seltsamen Café mit Ticktack den akustischen Rahmen. Geduldig warten wir, bis der Wirt unser Frühstück zusammengestellt hat. Michiko äussert keine hygienischen Bedenken und so geniessen wir dieses Timeout, bevor wir, unter Fragen nach Alternativen, zur Hauptverkehrsader zurückkehren.
In Oiwake stossen wir auf einen Parcours, der in Schlangenlinien um ein Haus herum die Miniaturausgabe aller 69 Poststationen des Nakasendo nachstellt. Dort treffen wir auf einen Mann, der dabei ist, im Garten Bäume zu pflegen. Er freut sich an unserem Kommen und lockt uns als Besitzer des Museums ins Innere. Es zeigt sich, dass er der Autor des Buches ist, mit dem Michiko die gesamte Reise geplant hat. Auf zwei Stockwerken verteilt, hängen unzählige Artefakte über sämtliche Stationen, besonders aber Zeichnungen und Fotos. Die Privataudienz will kein Ende nehmen. Ich muss mir eingestehen, dass mir an der ganzen Historie im Grunde wenig liegt, auch weil am heutigen Tag einhundert Prozent Asphaltstrassen null Prozent Originalwege gegenüber stehen. Unter mehrmaligem Hinweis auf drohenden Regen gelingt es uns, das liebevoll aufgebaute Museum zu verlassen. ‚Gewöhnliche’ Besucher bezahlen für den Besuch Eintritt.
Wir weichen nach Möglichkeit auf Dorfstrassen aus. Diese sind blitzsauber, doch lässt sich kein Mensch blicken. Es gibt weder Restaurants noch Einkaufsmöglichkeiten. Gelegentlich huscht ein Kleinwagen vorbei: Durch Zubetonieren der Wasserläufe beidseits der Fahrbahn, konnte man diese verbreitern. Zwischen den niedrigen Holzhäusern säumen einfache bis kunstvoll gestaltete Gärten unsern Weg. Aufkommender Hunger zwingt uns zurück an die Nationalstrasse, wo sich leicht Restaurants und „Convini“ (Filialen von Läden mit Gütern des täglichen Gebrauchs) finden. Hier fahren vorab Hausfrauen in japanischen Kleinwagen vor. Diese Gefährte unterscheiden sich bis auf das Markenzeichen kaum, ob Suzuki, Honda, Nissan, Mazda, Subaru oder Daihatsu. Der Letztgenannte ist in Europa der Exotischste und hier vielleicht derjenige Kleinwagen mit gelben Kontrollschildern, der am häufigsten anzutreffen ist. Auch Michikos Freundin Yuki schwört auf ihr „Truckli“, das sie am liebsten in die Schweiz zurückführen möchte. Schmal und wendig im Innerortsverkehr, bietet es zusätzlich eine Reihe von Annehmlichkeiten: Der beachtlich grosse Bildschirm neben dem Steuerrad schaltet im Stau oder vor Rot automatisch auf das gewählte TV-Programm. Während der Fahrt bleibt der Ton des eingestellten Kanals, das Bild aber huscht von selbst auf das Navi, und beim Rückwärtsfahren und Einparken auf die Hinterkamera.
Mit einem typischen japanischen Nachtessen mit Fisch und panierten Schweinsschnitzeln mit allerhand Zutaten beenden wir den Abend in Iwamurada (#22). Der Blick durchs Fenster gilt dem ausgiebig niederprasselnden Regen, der erfreulicherweise unsere Ankunft abgewartet hat.
6. Juni, Iwamurada – Mochizuki; 21880 Schritte
Kurzetappe, da im darauffolgenden Dorf übers Internet keine Unterkunft zu finden war. Wir werden nach dem Frühstück mit Stil und auserlesener Freundlichkeit verabschiedet. Eine Frau im Kimono winkt uns mit einem Wimpel in der Hand und wünscht alles Gute auf der Weiterreise. Ideales Wanderwetter, obwohl eigentlich zu kühl für die Jahreszeit. Wir finden vermehrt Markierungspfähle mit den drei Kanji-Schriftzeichen für Nakasendo, oft zusätzlich Kilometerangaben zum nächsten Dorf. Wir wandern durch Shionada (#23) und bald darauf Yawata (#24), abseits der Route 19. Wir haben uns daran gewöhnt, dass keine Bewohner zu sehen sind. Was den Baustil der Häuser betrifft, so scheint ein Konsens darüber zu herrschen, wie ein japanisches Haus auszusehen hat. Die Gärten zwischen den Einfamilienhäusern bieten offenbar genügend Möglichkeiten, auf ein Wohlstandsgefälle mit dem Nachbarn hinzuweisen. Hier ist Japanland. Mit der Ausnahme eines Autofreaks, der einen VW-Käfer und einen Passat vor dem Haus stehen hat, zeigt sich über Stunden kein einziger Ausländerwagen.
Mochizuki (#25), besitzt ein paar hundert Meter Nakasendo im Originalzustand. Der Ort liegt auf hügeligem Gelände und wird von einem Fluss mittlerer Grösse geprägt. Wir übernachten im Minshuku Aokiso Mochizuki, das ein Ofuro (Bad) mit heissem Thermalwasser anbietet. Auf das reichhaltige Abendessen haben wir keinen Einfluss. Wer glaubt, unsere Wanderung sei eine Plackerei, irrt. Nach einem Ofuro mit dem Privileg, ohne schlechtes Gewissen ein Schwimmbad mit heissem Quellwasser allein für sich zu nutzen, erlöst von Rucksack und verschwitzten Klamotten durch ländliche Gegenden zu flanieren und die Leichtigkeit des Seins zu geniessen, wer kann dazu schon nein sagen?
7. Juni, Mochizuki – Wadajuku; 34213 Schritte
Das erste Dorf nach Mochizuki ist ein sogenanntes Zwischendorf. Allerdings eines der anmutigen Art. Vielleicht, weil es in hügeliges Gelände eingebettet liegt. In der Folge stehen wir vor dem 900 m hohen Kasatori-Toge. Dieser Pass mit einem Aufstieg von knapp zwei Kilometern Länge verläuft neben der Passstrasse und ist asphaltiert oder betoniert. Auf der Nationalstrasse kämen wir schneller voran, weil sie steil und kurvenarm angelegt ist. Doch wir folgen der Schlangenlinie der alten Strasse und treffen auf dem Abstieg auf Nagakubo (#27), ein Dorf am Abhang. Dort verlassen wir den Nakasendo, denn wir übernachten nicht am heutigen Zielort, sondern etwas abseits in einem Minshuku. Wir deponieren die Rucksäcke und gehen erleichtert dem Pièce de résistance von morgen entgegen. Der Wada-Toge ist mit 1600 m ü. Meer der höchste Übergang auf dem Nakasendo. In Wadajuku (#28), am Fuss des Passes angelangt, lassen wir uns von der Besitzerin des Minshuku im Auto abholen und anderntags wieder dorthin fahren. So wird die Tagessration etwas ‚humaner’ und die Besitzerin des Minshuku kann trotz ungünstiger geografischer Lage Gäste des Nakasendo empfangen und bewirten.
8. Juni, Wadajuku – Shimosuwa über den Wada-Toge; 34381 Schritte
Im Honda werden wir für tausend Yen an den Fuss des Wada-Toge gefahren. Am Lenker der Mann der Eignerin des Minshuku; er erzählt von Erika Hess, deren begeisterter Anhänger er gewesen sei und die er mehr verehrte als Ingemar Stenmark. Dann müsse er aber ein gewisses Alter haben, ulke ich, denn er sieht mit seiner Beatlesmähne aus wie der Sohn der Besitzerin des Minshuku. Er sei 55 und seine beiden Kinder 7 und 10 Jahre alt. Dann heisse das Girl wohl Erika mutmasse ich. Nein, das nicht, aber seinem Hund habe den Langnamen Erikahess gegeben.
Nach dem Verlassen des Wagens gehen wir für kurze Zeit der Nationalstrasse entlang, bis der Nakasendo in einen Wald einbiegt. Hier folgen wir dem Originalpfad. Ich kann nicht umhin, diesen als Sentier des Champs Elysées zu benennen. Es ist ein prachtvoller Wanderweg. Durchwegs breit angelegt, bald begrast, bald belaubt, mit Felsenplatten bestückt, wo der Boden sumpfig ist. Er liesse sich fast durchgehend mit Allradfahrzeugen befahren. In weniger als drei Stunden erreichen wir unter unablässigem Beifall der Grillen den Pass auf 1600 m.
Der Abstieg ist von anderer Währung. Schmal und im Zickzack sucht er sich eine Fährte um Laubbäume herum. Bei Trockenheit gefahrlos zu begehen. Etwas jenseits der Passhöhe werden zurzeit seitliche Fuhrwege in den Steilhang gekerbt. Ein Stück dieses Weges geht parallel zu unserem Abstieg, so dass vielleicht in Zukunft etwas mehr Komfort vorhanden sein wird. So oder so mündet der Weg weiter unten in die belebte Schnellstrasse. Unterhalb von 1000 m ü. Meer, aber immer noch im engen, grünen Seitental pusten Abfallverbrennungsanlagen dicken Rauch in die heile Bergluft. Riesige Sattelschlepper karren das Brenngut heran, die Fahrer zeigen ihr Talent beim rückwärts Einbiegen in die Lücke mit der Aufnahmewanne. Etwas weiter unten siecht ein Tier-Friedhof dahin. Kein einziges Blümlein gedeiht auf den hunderten Steingräbern.
Unsere heutige Bleibe in Shimosuwa (#29) ist äusserlich ein ansehnliches Hotel, das zum Schrein daneben gehört.
Michiko entdeckt ihren Namen am Eingang aufgepinselt auf einer mannshohen Anzeigetafel, was bei Klöstern üblich ist. Das Zimmerchen ist dann ganze sechs Tatamimatten gross, plus Eingangsbereich. Es ist unsere inkl. Nachtessen und Frühstück mit Abstand günstigste Unterkunft. Wir sind jetzt fünf Tage ohne Regen durchgekommen und das während der Regenzeit. Demnächst ist vielleicht unser „Engels-Budget“ aufgezehrt, denn bereits heute früh hörte man auf allen TV-Kanälen ame, ame, ame (Regen) als häufigstes Wort bei der Wettervorhersage. Das Abendessen ist Sonderklasse. Elf Schälchen und Tässchen sollen es gewesen sein. Da benötigt man eine Anleitung, was mit was zu kombinieren oder würzen ist. Es scheint, dass, wer Bier zum Essen bestellt, anfänglich keinen Reis serviert haben will, ausser man wünscht ihn ausdrücklich zusammen mit der übrigen Kost. Während man speist, geht Meldung an die Kammerzofe, den Futon für das Nachtlager bereitzulegen.
Michikos Grund für die Wahl dieser Unterkunft ist der Onsen, das Gemeinschaftsbad mit heissen Quellen, welches hier zur Verfügung steht. Sie geht mehrmals hin, um sich beim Abschalten in der Schwerelosigkeit des Wasserbeckens für die Last des Rucksacks tagsüber zu belohnen.
9. Juni, Shimosuwa – Shiojiri; 26384 Schritte
Der Regen kommt, der Regen geht. Wie die Vorhersage berichtet, hellt es ab 9 Uhr auf. Und so nehmen wir die Sprinter-Etappe planmässig in Angriff. Heute stellt sich uns der Shiojiri-Toge in den Weg. Der Pfad hinauf ist steil und asphaltiert. Tenue- Wechsel auf der Passhöhe ist unabdingbar. Eine Aussichtstribüne offeriert einen Sonntagsblick zurück auf Shimosuwa mit seinem See. In der Ferne erahnbar, da auf einer Panoramakarte aufgeführt, der Fuji, höchster Berg Japans. Der Blick auf unser Tagesziel ist wenig spektakulär, Shiojiri (#30), von Wald eingerahmt.
Obschon sich der Tagesmarsch gänzlich auf asphaltierten Wegen bewegt, offeriert er neben dem Passübergang reizvolle Dörfer, deren Gärten Nadelbäume schmücken, die Äste in Formen aufweisen, wie vom Hausherrn in jahrelanger geduldiger Arbeit anerzogen. Ein ausgedehnter buddhistischer Tempelkomplex versteckt sich im Hang zwischen mächtigen Tannen. Kein Mensch ist in der Anlage zu sehen. Alte Hausfassaden haben den Charme früherer Tage bewahrt. Im Allgemeinen ist der Nakasendo in der Präfektur Nagano gut und einheitlich ausgeschildert. Aus unerfindlichen Gründen steht allerdings das Zeichen am Wegrand oft erst ein paar hundert Meter nach einer Kreuzung oder Wegscheide. Michiko fragt sich täglich Dutzende Male durch, wobei ich mich jeweils wundere, was die Leute alles in ihre Antwort packen.
Ein bisschen Wundernase kann zu interessanten Begegnungen führen. So gewahrt eine junge Dame meinen fragenden Blick nach einem am Strassenrand aufgehängten Gegenstand. Sie nimmt ihn zum Anlass, uns anzusprechen und uns in eine Sake-Degustation zu locken. Obwohl wir die einzigen Gäste und durchaus nicht kauffreudig des Weges gekommen sind, gibt sie sich alle Mühe, die Produkte der lokalen Fabrik zu erklären und uns degustieren zu lassen.
10. Juni, Shiojiri – Narai; 32591 Schritte
Eine Flachetappe zum Vergessen! Bis zur ersten Haltestelle in Seba (#31) fahren wir mit der Eisenbahn und lernen eine Lektion: Nicht überall funktioniert die Suica Karte. Diese Prepaid-Karte kann in Tokio und Umgebung für ein beliebiges öffentliches Verkehrsmittel ausser Taxis eingesetzt werden. Auch manche Kioske oder Getränkeautomaten akzeptieren sie. Am Bahnhof Shiojiri gelangen wir mit unserer Suica zwar durch die Eingangsschranke, werden aber beim Aussteigen an der nächsten Haltestelle eines Besseren belehrt. Noch sind nicht alle Bahnhöfe dafür ausgerüstet, was für Verunsicherung führt. Einmal eingelesen beim Durchschreiten der Schleuse, wartet die Karte auf die Bestätigung beim Aussteigen, damit die Belastung des Fahrpreises erfolgen kann. Mit andern Worten, wir können die Karte nicht mehr verwenden, bis der Knoten an einem grösseren Bahnhof gelöst wird. Unser Wandertag ist schnell erzählt. Wir betreten ein grünes Tal, recht breit an der Basis, bewaldet und hügelig an beiden Flanken. Tief hängende Wolken halten die Temperatur unter 20 Grad, ein Segen, denn heute sind bis 28° angekündigt. Der Nakasendo folgt grossteils der Hauptverkehrsader, wo wir ‚den Duft der grossen weiten Nationalstrasse’ geniessen, bzw. diesem ausgesetzt sind. Nur abschnittsweise bietet sich ein Abstecher in eine Dorfstrasse an, so in Hirasawa (Zwischendorf), unmittelbar vor Narai. Lackierte Holztassen und Teller sind die Spezialität der Bewohner von Hirasawa. Michiko lässt sich ohne Kaufabsichten eine von zahlreichen Werkstätten zeigen. Mann und Frau im Pensionsalter werkeln weiterhin an hölzernem Essgeschirr, sie beschäftigt sich ausserdem an einem antiken Webstuhl. Die Frau rühmt sich, hie und da Reisegruppen aus dem Ausland auf dem Rundgang zu begleiten. Erst ab Hirasawa lohnt sich der Nakasendo für Wanderer.
An unserem Zielort Narai (#34) staunen wir, denn es fehlen die anderswo allgegenwärtigen Stromleitungen über der Dorfstrasse. Auch Getränkeautomaten sind nirgends zu sehen. Und dieser Retro-Look macht den Charme und den touristischen Erfolg dieses Ortes aus. Lang ein Kilometer, breit zweihundert Meter, zweigeteilt durch die einzige Strasse, nach aussen begrenzt durch den Fluss und eine bewaldete Bergflanke. Die Holzhäuser sind zweistöckig und seitlich zusammengebaut. Was besonders auffällt: Das Dach des zweiten Stocks überragt jenes des ersten, was bei Regen etwas Schutz gewährt beim Flanieren durch das fast verkehrsfreie Dorf. Die Längsstrasse eignet sich zweifelsfrei als Kulisse für einschlägige Filme. Die Souvenirläden lassen sich hervorragend tarnen hinter der Holzfassade. Die schnurgerade Dorfstrasse erfährt ungefähr bei Hälfte eine S-Kurve; es ist überliefert, dass sie dadurch erhöhten Schutz und Tarnung vor Aggressoren bot. Bei schönstem Wetter verlieren sich recht wenige Touristen in der Fanmeile. Wir waren darauf gefasst, hier besonders vielen Ausländern zu begegnen, was auf heute nicht zutrifft.
Als wir um 17.30 Uhr unser Minshuku zum Nachtessen verlassen, finden wir bereits Friedhofsstille vor auf der Strasse. Die Restaurants, welche wir ausgelotet hatten, sind geschlossen. Wir geben nicht auf, holen Rat bei drei parlierenden Männern. Einer nennt uns eine Adresse und kommt gleich mit uns, klopft an Fenster und Türen, nichts zu machen. Michiko verschwindet in einem Hauskorridor und erscheint mit einem zweiten Mann. Alle suchen und …finden eine kleine Imbissbude mit drei Tischchen und einer Bar. Michiko lädt die um uns besorgten Einheimischen ein auf ein Bier. Wir erhalten unser Menü und prosten mit Bier.
Am Ende gelingt es Michiko nicht, die Zeche für die leutseligen Männer zu bezahlen, die vielleicht froh waren, ein Alibi für ihren Feierabendtrunk zu erhalten. Obwohl es nach dem Nachtessen noch taghell ist, tummelt sich niemand mehr auf der Strasse. Das Dorfbild ist erstarrt und eingefroren, ein museales Relikt aus vor zweihundert Jahren.
11. Juni, Narai – Kiso-Fukushima; 37828 Schritte
Abmarsch um acht Uhr, verwaistes Dorfbild, wie gestern Abend. Der Aufstieg zum Torii-Toge steht unmittelbar an. Der Pass ist 1197 m hoch. Der Pfad ist tadellos unterhalten. Oben treffen wir dieselben zwei Singapurgirls, die wir am Vortag baten, uns gemeinsam abzulichten. Die beiden haben den Aufstieg von der Gegenseite aus in Angriff genommen und sind auf dem Weg nach Shiojiri. Auf dem Abstieg begegnen wir einer Gruppe von etwa zwei Dutzend Ausländern. Im Gegensatz zu gestern werden sie das Dorfbild heute prägen, denn japanische Touristen reisen kaum während der Regenzeit. Wir aber haben noch keinen Regentropfen gespürt, seit wir unterwegs sind. Abends und nachts hat es gelegentlich geschüttet, noch nie, während wir wanderten.
Zur Bewältigung des Passes benötigen wir zwei Stunden. Einheimische hatten von drei Stunden gesprochen. Der Weiterweg nach Kiso-Fukushima (#37) ist kein Muss, aber wir sind nun mal per pedes unterwegs. Ein erheblicher Teil des Weges führt neben der Route 19, auf dem gegen den motorisierten Verkehr geschützten Rad- und Fussgängerweg. Bewaldete Hügelzüge weisen uns in die leicht abfallende Richtung. Wir folgen dem Flusslauf. Ein leichter Wind streichelt unser Gesicht, so dass wir unter den angesagten 29 Grad nicht besonders leiden. Wir sind bis 15.30 Uhr auf den Beinen, haben einen Pass hinter uns, trotzdem meldet sich die Müdigkeit nicht. Für uns zählen nicht die Kilometer, sondern die Anzahl Schritte, welche gewollte und ungewollte Alternativrouten einschliessen. Heute herrscht strahlender Sonnenschein über Fukushima, für morgen ist Regen angesagt. Wie gestern sind wir erneut die einzigen Gäste im gewählten Hotel. Nach einem kurzen Bad verlassen wir unsere Bleibe vor fünf Uhr nachmittags, um nicht wieder vor geschlossenen Restaurants zu stehen. Eines meldet um zehn vor Fünf, dass es bald schliesst und uns leider nicht mehr hereinlassen kann. Woanders haben wir mehr Glück, wenn auch die Auswahl derart beschränkt ist, dass ich mich für dasselbe einfache Menü wie am Vortag entschliesse.
12. Juni, Fukushima – Suhara; 29937 Schritte
Morgen um sechs Uhr regnet es ausgiebig. Durch das Hotelfenster grüsst der September-Blues. Nebelschlieren schieben sich vor die Baumkronen, die den steilen Hügel wie einen Wandteppich bedecken. Von der erhöhten Perspektive unseres Hotels aus könnte man im Talkessel die Schwarzweiss-Symphonie einer Ruinenstätte zusammenphantasieren. Ein solch morbides Gedankenspiel ergibt sich wohl aus dem Namen des Ortes, durchaus kein ungewöhnlicher in Japan. Unsere Bleibe in der gebirgigen Präfektur Nagano in Mitteljapan liegt fünfhundert Kilometer entfernt vom Atommeiler, der in der Präfektur Fukushima am Meer darbt.
Obschon ab Mittag Wetterbesserung vorausgesagt ist, starten wir um acht Uhr früh. Bis Agematsu (#38) bringen wir knapp die Hälfte der Tagesration hinter uns. Unsere Regenausrüstung besteht den Test. Dann erfolgt der Wechsel auf Sonnenbrille. Wir folgen mehr oder weniger dem Lauf des Kiso-Flusses, gleich bedeutend mit der Route 19. Je eine Seite der Fahrbahn birgt einen geschützten Bereich für Fussgänger oder Radfahrer, wobei wir nie solchen Zeitgenossen begegnen. Wir benützen nicht mehr jede Gelegenheit, Weiler anzupeilen, denn unser Tagesziel ist Suhara (#39). Ein Zug bedient dieselbe Strecke mehrmals täglich, als mögliche Alternative bei massivem Niederschlag. Es ist keine langweilige Wanderung, die uns der Flusslauf des Kiso bietet und den wir wiederholt queren. Wer allerdings nur an den Filetstücken des Nakasendo interessiert ist, sollte dieses Teilstück mit Vorteil per Bahn überbrücken.
13. Juni, Suhara – Tsumago; 28425 Schritte
Das Essen im gestrigen Minshuku war dermassen üppig, dass ein standesgemässes Bier nicht genügte. Trotzdem verzichtete ich auf ein zweites und büsste meine freiwillige Askese nachts mit stundenlangem Durst, den kein Tee bändigen kann. Sollte ich des Nachts ausreissen und am nahen Automaten eine Kola auftreiben? Da finde ich im Kühlschrank des Hauses eine Dose Bier und trotze den Protesten Michikos. Am Morgen beichtet Michiko meine Freveltat und will das klammheimlich entwendete Bier bezahlen.
„Dieses Bier ist gratis zu eurem Leinwand-Hochzeitstag!“ bringt mich die Dame lauthals zum Lachen. Ein Grund mehr, seit 35 Jahren zusammen geblieben zu sein…
Ein heisser Tag kündigt sich an, als wir die nächste Etappe unter die Füsse nehmen. Wieder zur Hälfte entlang der Route 19, oder auf gekennzeichneten Abzweigungen in Dörfer im Tal des Kiso. In Nagiso finden wir eine Essensmöglichkeit. Da Samstag ist, drängen sich auch japanische Wanderer zu Tisch. Auf den abschliessenden drei Kilometern bis Tsumago (#42) treffen wir auf eine Gruppe Japaner, die aus der Gegenrichtung unterwegs ist.
Tsumago ist ein Bijou vergleichbar mit Narai. Auf der Hauptstrasse tummeln sich flanierende Touristen, darunter ein paar Ausländer. Unser Minshuku liegt mitten im Ort, unser Zimmer ist 2×8 Tatamimatten gross.
„Tsumago, das Herz Japans“, prangt auf Seite 1 eines Touristenprospektes. Bereits 1968 wurde entschieden, dass die historischen Gebäude und Strukturen erhalten werden sollen. Das Resultat: Keine Stromleitungen, Telefonstangen oder TV-Antennen sind sichtbar. Der museale Dorfcharakter bleibt bestehen, obwohl hinter den Holzfassaden in der Mehrzahl Souvenirläden Einzug gehalten haben. Tsumago war bis vor gut hundert Jahren eine wichtige Poststation auf der Handelsroute zwischen Tokio und Kioto. Das änderte sich schlagartig, als 1911 die Eisenbahn Einzug hielt. Tsumago ist kleiner, dichter, abwechslungsreicher als Narai, mit welchem es gern verglichen wird. Vielleicht erwarten uns noch weitere Überraschungen in den kommenden Tagen.
Was tun die Japaner nach 18 Uhr? Nach meinen Beobachtungen gibt es weit und breit kein Kino, Theater oder Sportstadion in den ländlichen Regionen. Allerdings laufen ganztags genügend Fernseher und davor lässt sich friedlich dösen, wie das Beispiel unserer Wirtin von gestern bewiesen hat, welche in ihrem Schlafgemach das TV-Gerät für das ganze Stockwerk hörbar laufen liess, während sie im Lehnstuhl eingenickt war. Wo vor Jahrzehnten Pachinko-Spielhallen an allen strategisch günstigen Strassenecken die gelangweilte Bevölkerung zum Spielen abholten, sind heute nur noch wenige solche Dinosaurier erkennbar. Spielen mit iPhones hat die Spielsucht längst individualisiert. Ob das Thema damit abschliessend behandelt ist, kann ich nicht beantworten. Uns gelingt es jedenfalls nicht, von sieben oder acht Uhr abends bis um sechs Uhr morgens durchzuschlafen.
14. Juni, Tsumago – Ohi (Ena City); 28813 Schritte
Den Nakasendo von Tsumago bis Magome (#43) kann man als Muss erklären. Wunderschön im ansteigenden Wald eingebettet, führt der Weg vorbei an zwei Wasserfällen, hinauf zum 801 m hohen Magome-Toge. Tsumago liegt etwa 400 Höhenmeter tiefer und schläft noch, als wir den Ort verlassen. Bald begegnet uns ein erster Wanderer, ein Ausländer, wie wir in der Folge noch mehrere kreuzen. Mit Erleichterung bemerken wir den ersten Getränkeautomaten, just auf der Passhöhe. Er ist nicht im Betrieb. Ein Mann erklärt mir, dass ich in seinem Laden kühle Getränke kaufen könne, was ich gleich mehrfach tue, weil im ganzen Dorf Tsumago kein einziger dieser sonst üppig vorhandenen Energiespender das Dorfbild bekleckert. Zu meinem Entsetzen belehrt mich der Verkäufer anhand von Hinweisen auf Englisch, dass er die dort erstandenen und an Ort und Stelle leer getrunkenen Pet-Flaschen nicht zurücknehme, dass ich sie gefälligst im Tal entsorgen solle. Irgendjemand hat noch hingekritzelt, „Wenn du die Flasche nicht mitnehmen willst, dann kaufe nicht!“
Bis Magome hinab sind es zweihundert Höhenmeter. Der Nakasendo teilt dort auf dem steilen Abstieg eine Parade von Souvenirläden und Imbissbuden. Ein Dorfcharakter ist nicht auszumachen. Wir sind die einzigen Rucksacktouristen.
Gegen Mittag erklimmen Tagesausflügler die Stufen dieses Besuchermagnets. Vor über zehn Jahren wurden wir selbst von Freunden aus über 100 Kilometer Entfernung hierher gefahren. Die vielen Besucher aus dem In- und Ausland sind auch damit zu erklären, dass heute Sonntag ist. Knapp unterhalb der Busparkplätze tauchen wir wieder in die Anonymität des Nakasendo ein. Eine halbe Stunde vergeht, bis ein Auto unseres Weges kommt. Hier verblasst das Interesse der Leute zu Unrecht, denn bald folgt eine der längsten Wegstrecken im Originalzustand. Der Boden ist mit Felsscherben unterschiedlicher Fläche mosaikartig tapeziert. Bis vor etwas mehr als einem Jahrhundert war es noch ein belebter Verkehrsweg, seither überwachsen Moose und Flechten den waldfeuchten Belag. Darauf folgt Ochiai (#44). Unser Tagesziel liegt zwei Haltestellen hinter der ersten grösseren Stadt seit langem. In unerwartet steilen Aufstiegen und nachfolgenden Abstiegen wird unsere Kondition getestet. Momo, ein siebzehnjähriges Mädchen, nach dem Weg zum Bahnhof gefragt, nimmt uns gleich in ihr Schlepptau, denn es hat sich dort verabredet. Momo wird demnächst ein Auslandjahr in Kanada antreten. Michiko versteht sich auf Anhieb glänzend mit der jungen Dame und tauscht die E-Mail- Adresse mit ihr. Am Bahnhof Nakatsugawa (#45) können wir unsere Suica-Karten wieder verwenden, nachdem sie am Schalter fit gemacht worden sind. Wir waren vor Tagen damit durch die Eingangsschranke eines grösseren Bahnhofs gegangen, fanden aber auf einer Regionallinie beim Aussteigen keine Ausgangsschranke, die den Preis für die Fahrt hätte auf der Karte belasten können. In Nakatsugawa besteigen wir den Zug Richtung Nagoya und schenken uns die flache Wegstrecke zweier Haltestellen bis Ohi (#46) in Ena City.
15. Juni, Ohi (Ena City) – Hosokute; 31620 Schritte
E-Mail nach Hause und Eintrag in ein Log-Buch unterwegs:
Noch ufe, noch abe, noch rächts, noch links / zom Glöck git’s gnueg Automate mit Drinks
Um sechs Uhr früh verlassen wir unser Business Hotel. Bald darauf öffnet der Convini beim Bahnhof. Wir essen uns satt an Onigiri und mischen kalte Milch mit Espresso von Starbucks, denn heute steht eine Monsteretappe an mit 13 Toge und kaum Aussicht auf Getränkeautomaten und Imbissbuden unterwegs. Die ersten zehn Kilometer verlaufen mehrheitlich im Wald, was dem bislang heissesten Tag die Speerspitze bricht. Null Prozent Regenwahrscheinlichkeit darf erwartet werden. Wir queren ländliche Gegenden unter hügeligem Auf und Ab. Geflutete Reisfelder schmiegen sich terrassenförmig an Waldlichtungen, spärliche Siedlungen am Wegrand, der mitunter auf Originalbelag verläuft.
Wir ziehen diese Idylle in uns hinein, glücklich, dass wir das alles erleben dürfen, können, wollen. Stundenlang ziehen wir so durch die Gegend, ohne dass sich die Müdigkeit meldet. Erstaunlich, wie rasch sich der Körper auf sieben und mehr Stunden Wandern mit Rucksack einstellt!
Bis Ohkute (#47) gestaltet sich der Weg abwechslungsreich, oft im Wald, wo meist kleinere Steigungen ‚eingebaut’ sind. Was uns auffällt: Das Grillenkonzert früherer Tage entfällt. Gegen halb zwölf marschieren wir ein im einzigen Dorf des Tages. Im Dorfladen besorgen wir uns Cup Noodles und verzehren sie gleich vor der Besitzerin, die alsbald eine ganze Menge von uns weiss, wie das so üblich ist, wenn Michiko Smalltalk betreibt. Die Dame gibt uns zu bedenken, dass auf den nächsten sechs Kilometern ein hoher Pass, der Biwa-Toge, unsere Kondition testen wird.
Der Anstieg beginnt etwa ein Kilometer hinter Ohkute auf Original-Nakasendo-Belag. Zu unserer Überraschung ist die Passhöhe nach zirka fünfzig Höhenmetern erreicht. Gesamthaft kann ich mich an vielleicht fünf nennenswerte Steigungen erinnern, wo sind wohl die andern acht geblieben? Sicher ist, dass die Erwartungshaltung bei 13 gemeldeten Pässen eine andere ist, als wenn es ständig rauf und runtergeht, obwohl eine Flachetappe erwartet wird. Die Hitze setzt Michiko mehr zu als mir. Sie klagt ausserdem über ein tränendes Auge. Flüssigkeiten haben wir genug dabei, wir können uns ausserdem bei der Mittagsrast neu damit versorgen. Unser heutiges Minshuku in Hosokute (#48) soll 175 Jahre alt sein, hat also die Shogun-Ära voll erlebt. Von Brandmeldern ist nichts zu sehen. Die Holzkonstruktion würde wohl wie Zunder brennen. Der Gang vom Obergeschoss zur Toilette im Erdgeschoss vollzieht sich über eine steile Treppe, die wie eine Leiter zu begehen ist. Die Toilette in top Zustand, wie nicht anders zu erwarten in Japan. Erstmals kein Fernsehgerät im Zimmer. Noch vor Einbruch der Dunkelheit sowie im Morgengrauen krabbelt es auf dem Dachboden. Nachtaktive Nager üben ihr Wohnrecht aus. Das Abendmenü hinkt dem anderer Minshuku deutlich hintennach. Im Logbuch rühmen frühere ausländische Besucher besonders den Karpfenfisch, den wir ebenfalls loben, vielleicht als einzige Speise im Angebot. Nehmen wir die Gastgeber in Schutz, die möglicherweise dem Alter des Gebäudes und der damaligen Zeit gedenken, wenn sie das Essen zubereiten.
16. Juni, Hosokute – Mino-Ota; 28316 Schritte
Vorläufig letzte Etappe zu Fuss. Auf dem Weg nach Kioto werden wir noch einige sehenswerte Orte mit öffentlichen Verkehrsmitteln aufsuchen. Im Kontrast zu gestern erwarten wir heute einen sanften Abstieg Richtung Mitake. Das Gegenteil trifft ein. Die langen und saftigen Steigungen sind offenbar in der verfügbaren Literatur nicht erwähnt. Sie verstecken sich in bewaldeten Zonen, was angesichts der gesättigten Luft ein Glücksfall ist. Die ersten zwölf Kilometer führen durch Gemischtwälder, wo zwischendurch auch Bambushaine nicht fehlen, welche den Belag mit Laub tapezieren. Wo der Nakasendo dem Waldrand entlang führt, überblicken wir geflutete Reisfelder in Terrassenform. Wieder einmal längere Strecken über Originalbelag. Auf den letzten flachen Kilometern fallen Regentropfen. Wir widerstehen der Versuchung, unsere Pelerinen auszupacken, die weit unten im Rucksack verstaut sind.
Der Bahnhof Mitake (#49) ist nicht der zentrale Punkt des Ortes. Auch Restaurants gibt es eher entlang der Nationalstrasse. Für einmal meldet der Getränkeautomat an der Bahnstation, dass er keine leere Gebinde zurücknimmt; üblicherweise stehen dort Behälter für diesen Zweck. Ein eingleisiger Lokalzug führt nach Kani. Dort steigen wir um in den Zug nach Mino-Ota (#51). Eine Haltestelle vor unserem Tagesziel steigen wir aus; wir wollen nämlich die Brücke über den nunmehr mächtigen Kiso zu Fuss überqueren. Ein Kamerateam ist dabei, die historische Übersetzung in einem Boot mit Paddeln von der Brücke aus filmisch nachzustellen. Der Regen hat sich verzogen, er war der Grund, dass wir über die langweiligen Strecken entlang der Nationalstrasse auf die Bahn umgestiegen sind. Zuerst schauen wir uns die Altstadt Mino-Ota an. Befremdlich, auch hier schliessen die Restaurants nach vier Uhr Nachmittags. Wir versuchen es im grössten Hotel des Ortes, wo ein Bierfest im 8. Stockwerk Hoffnung schürt. Ausgerechnet heute, Wirtesonntag! Hungrig durch die Strassen flanierend, finden wir schliesslich ein koreanisches Restaurant, welches gerade um 17 Uhr öffnet. So kommen wir zu einem Wunschmenü, nach zwei Wochen Garküchen und billigen Nudelgerichten – mal abgesehen von den reichhaltigen Nachtessen in Minshuku, über deren Menüwahl wir jeweils keinen Einfluss hatten.
Es ist höchste Zeit, Michikos Augenmass in der Planung der Etappen zu loben. Wo spärliche Infos über zu bewältigende Höhenmeter vorliegen, wo im Internet nicht für alle möglichen Tagesziele Unterkünfte zu finden sind, wo das Wetter und Alternativen via Bahn und Bus zu berücksichtigen sind, da hat sie in wochenlangen Vorbereitungen zu Hause das Beste herausgeholt. Natürlich begünstigt unterwegs durch optimale Wetterverhältnisse und keine unvorsehbaren Vorkommnisse.
17. Juni, Mino-Ota – Shirakawa-Go; 12582
Sightseeing-Tag, abseits des Nakasendo. Mehrstündige Bahnfahrt nach Takayama, ein Tourismus-Magnet erster Güte. Bei einem früheren Besuch wurden wir herumgeschubst von den Besuchermassen. Nichts dergleichen heute. Übereinstimmend glauben wir uns nicht im richtigen Film. Sicher setzen wir strengere Massstäbe seit Narai, Tsumago und Magome. Ob wir die kurze verfügbare Zeit falsch investiert haben?
Denn wir besteigen den Bus nach Shirakawa-Go, eine gute Fahrstunde von Takayama. Es ist eine Fahrt durch eine Abfolge von Strassentunneln und Brücken über das jeweils nächste Seitental. Der längste Tunnel ist über zehn Kilometer lang, aber dann fahren wir in ein Dorf von traumhafter Schönheit. Die Häuser in diesem Talkessel sind hier errichtet worden, meist mit Strohdach bedeckt, was Shirakawa-Go die Ehre eines UNESCO Weltkulturerbes einbrachte. Von drei Seiten geschützt durch bewaldete Bergflanken, wechseln sich Holzhäuser mit kleinen Reisfeldern ab, Sujets für unzählige Schnappschüsse. Schätzungsweise die Hälfte der Besucher sind Chinesen. Wir deponieren unsere Rucksäcke im schönsten Ryokan des Orts und gehen auf die Pirsch rund um das Dorf und auf eine Aussichtskanzel. Ein Highlight, dieses Shirakawa-Go! Erst als wir uns in das Ryokan zurückziehen, erwischt uns auf den letzten fünfzig Metern ein Sommerregen. Wir sind auch hier vom Wetterglück verwöhnt, denn bereits bei der Anfahrt im Bus hat es geregnet, nicht aber nachdem wir diesen Ort betreten.
E-Mail nach Hause:
30 Tausend Schritt
Und das im Schnitt
Alle Tage
Vierzehn Tage
Da ist es uns zu gönnen
Dass wir einmal abschalten können
Im Schönsten Ryokan
In ganz Japan
In Shirakawa-Go
Dem Ballenberg hoch zwo
Das Nachtessen ist ein wahrer Schmaus für Augen und Gaumen. Es scheint, wir werden entschädigt für geschlossene Restaurants und billige Nudelgerichte, die das eine oder andere Mal unser Los waren. Hier stimmen Qualität und das Drum und Dran. Vielleicht gereicht ein Foto zur Illustration des Ambientes.
Der Onsen ist ausgelegt für ein Dutzend Badende gleichzeitig. Er besitzt ein Sprudelbad und eine Sauna, dazu ein Aussenbecken.
18. Juni, Shirakawa-Go – Hikone; 14524 Schritte
Auf dem Weg nach Hikone fahren wir zunächst zurück nach Takayama. Diesmal zähle ich mit: Mindestens 13 Strassentunnels, der längste über zehntausend Meter, 9 über tausend Meter Länge; insgesamt sind wir über 27 km in einem Loch. In Takayama verbleiben uns drei Stunden bis zur Weiterfahrt. Wir nutzen die Zeit, um diesmal wirklich die historisch interessanten Stadtteile aufzusuchen. Sie sind eingebettet in ganz ‚normale’ Strassen und enge Gassen. Mit mehr Musse können wir uns jetzt an das Déjà vu erinnern und möchten Takayama eindeutig als besuchenswerten Ort bezeichnen. Man soll sich mit einem guten Stadtplan anfreunden. Im Unterschied zu den beschaulichen Narai und Tsumago sind hier die Dimensionen viel grösser. Diesmal bevölkern weniger Touristen die Quartiere als bei unserem Besuch vor Jahren. Hunderte Gebäude sind ‚ausgehölt’, enthalten im Innern ein riesiges Angebot an omiage (Souvenirs). Das kümmert die Besucher wenig. In der Mehrheit sind es Chinesen, nicht-asiatische Gesichter bilden eine auffällige Minderheit. Ein paar Regentropfen machen uns unsicher, doch bleiben die Strassen trocken bis wir abreisen.
Unser Bus trägt uns in 3 Stunden und zehn Minuten nach Gifu, der Hauptstadt der gleichnamigen Präfektur. Ich kann nur staunen, wie die japanische Ingenieurskunst die gut 130 km gemeistert hat. Der grösste Teil der Strecke führt über richtungsgetrennte Autobahnen, was mit hunderten von Tunnels erkauft wurde. Nur selten führt das Trassee ebenerdig. Ein Atemzug genügt oft, um ein Tal über eine Brücke zu queren, bevor wir im nächsten Tunnel verschwinden. Keine Frage, wir durchstossen eine hügelige und bergige Topografie. Doch mit einem Male kommt man in Gifu an und gewahrt eine Ebene, wie sie in der Schweiz punkto Fläche nirgends denkbar ist. So weit das Auge reicht monotone Einfamilienhäuser, dicht aneinander gedrängt. Mit all den Ampeln und dem Feierabendverkehr verstreicht die Zeit. Uns wird bange, ob wir den Anschlusszug erreichen. Ein Mutsprung ist nötig, damit wir in letzter Sekunde Einlass finden, bevor seine Guillotine zuschnellt. Es folgt eine zehnminütige Fahrt bis zum nächsten Umsteigevorgang. Auch den schaffen wir und sitzen eine gute halbe Stunde, bis wir ein letztes Mal umsteigen müssen, für die restlichen fünf Minuten Fahrt nach Hikone. Ich staune, wie Michiko all diese Verbindungen auf die Reihe kriegt, obwohl sie noch nie hier war. Ein paar Regenspritzer beschleunigen unsere Schritte in das ungefähr zehn Minuten entfernte Hikone Castle Resort Spa. Dieses Hotel hält, was es verspricht. Gratisdrinks im Anschluss an das Bad im Onsen mit Blick auf das angestrahlte Schloss Hikone. Gratisbier zum Nachtessen. Morgenessen mit Selbstbedienung vom Buffet. Wir sind hierher gekommen, erklärt Michiko, weil die Grossstadt Gifu nichts bietet und wir uns zwei Tage vor Kioto, unserem Endziel, befinden. Aha!
19. Juni, Hikone – Otsu, letzte der 69 Stationen; 21826 Schritte
Heute regnet es. Na und? Das Tagesprogramm sieht eine Bahnfahrt nach Otsu (#69) vor, der letzten Station vor Kioto. Bei schönem Wetter war geplant, ein paar Bahnstationen vor Otsu auszusteigen und den Weg bis dort auf dem Nakasendo zu erwandern. Zuerst steht aber der Besuch des Hikone-Schlosses bevor, welches wir von unserem Hotelzimmer unter Nachtbeleuchtung angehimmelt haben.
Wir besuchen die erste Sehenswürdigkeit des Ortes und einige Quartiere mit Regenschirmen, die das Hotel zur Verfügung stellt. Das hilfsbereite Personal lässt es sich anschliessend nicht nehmen, uns zum Bahnhof zu fahren. Einstündige Bahnfahrt durch eine ausgedehnte Ebene, bestückt mit gefluteten Reisfeldern und dazu passenden Häusern.
In Otsu deponieren wir unsere Sachen im Hotel Blue Lake und hoffen auf einen ausgedehnten Spaziergang entlang der Gestade des Biwako, des grössten Sees in Japan. Zuerst stärken wir uns in einem hawaiianischen Restaurant mit für japanische Verhältnisse exotischen Spare Rips. Nachdem nicht mit entscheidend besserem Wetter zu rechnen ist, springen wir als Letzte auf einen abfahrtbereiten Mississippi-Raddampfer, für eine achtzigminütige Rundfahrt auf dem See. Wie üblich in Japan, läuft ausserhalb der Feriensaison und der Wochenenden nicht viel. Kaum fünfzig Personen verteilen sich auf vier Etagen des Touristenbootes. Auf einer Leinwand zeigt man Bilder von See- und Uferlandschaften aus aller Welt. Gross ist unser Staunen, als periodisch der Raddampfer „Stadt Luzern“, sowie die Häuserfront rechterhand der Kapellbrücke in Luzern auftauchen. Kurzes Gestürm im Fadenkörbli: Sind wir in Michigan, wie der Name des Dampfers suggeriert, oder etwa in East Lansing, woher eine der Hostessen stammt, und wo Michiko und ich uns an der dortigen MSU kennengelernt haben, oder gar in Luzern, vielleicht aber noch in Japan? Von der Uferzone des Biwa-Sees nehmen wir wegen des regentrunkenen Himmels nicht viel mehr wahr, als vom 6. Stock des Hotels Blue Lake.
Morgen steht unsere allerletzte Etappe auf dem Nakasendo an, der sich hier mit dem pazifischen Tokaido (Ostseeweg) vereint hat. In Kioto werden wir bei Keiko zu Gast sein, einer distinguierten Dame, die wir im Jahre 2010 auf unserer Pilgerwanderung auf Shikoku kennengelernt (http://joe.tyberis.com/ohenro) und ein Jahr später in Luzern erneut getroffen haben. Sie ist die Dame, die damals auf der Seebrücke in Luzern ihrer Kollegin den weissen Schirm hielt, damit diese die Kapellbrücke trotz Regen auf ihr Malbuch skizzieren konnte, was ich fotografisch festhielt und damit an einem Fotowettbewerb meine jetzige Kameraausrüstung gewann. Für unsern Besuch, schätze ich, macht es sich gut, eine einigermassen anständige Falle zu machen. Das ist fraglich mit meinem seit Reiseantritt nicht mehr gepflegten Bart. Unvermittelt entdecke ich abends noch einen Barbier bei der Arbeit. Er lässt mich drei Minuten warten, um seinen vorletzten Kunden zu bedienen, und nimmt sich dann meiner an. Michiko führt etwas Smalltalk. Er nimmt sich die Zeit, stutzt auch überflüssige Nasen- und Ohrenhaare. Am Schluss zückt der Figaro die Kamera und lichtet Michiko und mich ab. Für seinen Blog, wo wir uns noch am gleichen Abend im Hotel entdecken (aquarius.blog.eonet.jp). Geld für seine Dienstleistung akzeptiert der Hobby-Marathonläufer nicht.
20. Juni, Otsu – Kioto (Sanjo-oohashi); 26676 Schritte
Das letzte Teilstück erhält keinen Schönheitspreis. Wir folgen der Route 1 und überwinden zuerst etwa hundert Höhenmeter. Dann suchen wir unsern Weg bereits durch die Agglomeration von Kioto. Einziges Highlight ist eine Art Wienercafé, aber der Eigner scheint nicht recht zu unterscheiden zwischen Österreich, Deutschland und der Schweiz (http://www.swiss-rhone.com). Da baumeln Kuhglocken, der Name des Cafés ist Rhone und innen hängen Pendeluhren und Schnickschnack aus allen drei Alpenländern.
Die Auswahl an Leckereien ist beachtlich, denn der Bäcker-Konditor-Confiseur hat sein Metier ein Jahr lang bei Richemont in Luzern gelernt. In Österreich habe er zehn Jahre gearbeitet, berichtet der Mann mit der weißen Bäckermütze, der sich zu uns setzt. Freie Flächen an den Wänden im Obergeschoss sind mit den Namen europäischer Besucher überkritzelt. Auch mir hält er eine Farbdose hin, damit ich Namen mit Adresse und Datum an die Wand pinsele. Aus den Daten der Einträge abgeleitet, haben sich wohl nur wenige Besucher aus den drei Alpenländern in diese Oase verirrt in den letzten sieben Jahren. Bevor wir am vereinbarten Treffpunkt mit Keikosan eintreffen, besuchen wir einen historischen Aquädukt, der noch heute Wasser führt. Der berühmte Heian-Schrein liegt ebenfalls noch im Umkreis des Sanjo-oohashi, dem Ort, wo der Nakasendo endet.
Dort klatschen wir uns ab, ohne viele Emotionen. Es ist schwül und heiß, der Preis dafür, dass sich der Regen trotz maximaler Luftfeuchtigkeit zurückhält. Keikosan führt uns durch ein schmales Quartier mit Dutzenden wenn nicht Hunderten Restaurants für jedes Budget. Wir sind in der Großstadt Kioto, es quillt nur so von Menschen an diesem Samstagnachmittag. Unser Nachtessen findet bei Keikosan statt, ein Sukiyaki, das keine Wünsche offen lässt.
21. Juni, Kioto; 36507 Schritte
Ganztagesmarathon. Unglaublich, was Keikosan an Kondition mitbringt. Beim Mehrzweckstadion in der Nähe ihrer Eigentumswohnung wärmen wir uns auf. Dort beginnt jeweils der Kioto-Marathon. Hunderte Kids scheren sich keinen Deut um den Regen, der seit sechs Uhr morgens niederprasselt, sie haben nur ihren Team-Wettbewerb im Sinn. Dem Schirm bleiben wir den ganzen Tag treu, bald aber als Sonnenschutz, denn es wird heiß, als wir ganztags durch die Außenquartiere der Stadt wandern. Entlang des Katsura-Flusses, entlang der Hügel, welche die Ausweitung des Stadtgebietes einschränken. Überall gibt es Schreine und Tempel zu besichtigen.
Bald für die Gottheit von Sake-Reisschnaps, bald für die Bambus-Gottheit, oder jene für Paare mit Kinderwunsch. Dort stehen übrigens am meisten junge Leute in der Schlange. Ich folge Keikosan und Michiko, die meist in intensive Gespräche verwickelt sind, mit mehr oder weniger Motivation, fordere ab und zu eine Trinkpause. Nach weiteren langen Kilometern entlang des Katsura-Flusses erreichen wir die berühmte Togetsu-kyo Brücke in Arashiyama und schlängeln uns durch das Volk von Sonntagsbesuchern. Wichtige Tempel und Schreine wechseln in bunter Reihefolge. Überall Eintritt zu entrichten, scheint meinen beiden Damen nicht mehr zu behagen. Aber erst, als sie vor dem geschlossenen Eingang eines weiteren Tempelbezirks stehen, beschließen sie sich für den Heimweg. Nicht zu spät, denn gleich darauf klatscht erneut Regen über Kioto.
22. Juni, Kioto; 26992 Schritte
Mit einer 500-Yen-Tageskarte für die öffentlichen Verkehrsmittel das Maximum herausgeholt. Ein Schrein erkennt der Laie am Torii, das vor der eigentlichen Kultstätte steht. Ein Torii ist ein freistehendes Tor mit einem Querbalken darüber. Das Gegenstück beim Tempel ist die dickwandige Glocke, welche mit einem Holzsparren an einer Aufhängung zu dumpfen Tönen animiert werden kann. Was aber, wenn im Hoheitsgebiet eines Schreins mehrere Torii stehen, zum Beispiel zehn oder gar zehntausend? Im letzteren Fall ist das eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges, derer sich weder Japaner noch Chinesen entziehen können. Der Fujimi inari Schrein wurde 2014 und auch heuer wieder zur größten Attraktion der Touristen gekürt. Die orange bemalten Konstruktionen stehen entweder sehr eng, oder aber in gewissen Abständen hintereinander. Einer sinnvollen Deutung entziehen sich die Kolonnen von Torii, die sich bis auf den Gipfel der Bergflanke erstrecken, 233 Höhenmeter über dem unteren Eingang des Schreinbezirks. Der Weg unter den Torii verästelt sich, sogar Keikosan muss mehrmals nach dem richtigen Ast zum Gipfel fragen. Die allermeisten Besucher tun sich den ganzen Aufstieg nicht an, wir schon.
Dann ist unser Kioto-Soll erfüllt, wir erstehen Fahrkarten für die Rückfahrt Richtung Tokio, zum Flughafen Narita. Der Rest des Tages ist Zugabe; schnell auf den Kyoto-Tower, dann Einsteigen in einen Citybus, der uns zu bereits in früheren Jahren besuchten Tempeln bringt, wie Sangendo, Kiymizu, Ginkakuji. Nach der Rückfahrt ins Stadtzentrum besuchen wir als Letztes den Yasaka-Schrein. Dann kehren wir für die letzte Nacht zurück in Keikosans Eigentumswohnung. Es ist eine moderne Wohnung in einem neueren Wohnblock. Beim Drücken auf den Liftknopf sieht man auf einem Außenbildschirm, ob sich sonst noch wer im Fahrstuhl befindet. Die Lampen in den Zimmern lassen sich einzeln mit Fernbedienung steuern, die Autos der Bewohner können zum Platzsparen übereinander gestapelt werden. Als alleinstehende Frau schätzt Keikosan die Nähe zur U-Bahnstation.
23. Juni, Kioto – Narita; 12032 Schritte
Im Nozomi, dem schnellsten Shinkansen, rasen wir Tokio zu. Ich komme neben einen jungen, unrasierten Mann zu sitzen, den ich vielleicht überleben werde, obwohl ein halbes Jahrhundert älter. Eine volle Stunde lang hackt er mit allen Fingern auf seinen alten Panasonic-Computer ein, Window 7, selten benützte Tasten sind brandschwarz vor Schmutz. Ich bezweifle, ob er mich überhaupt wahrnimmt. Sein Blick stiert aus gebückter Haltung auf den zerkratzten Schirm, der kaum noch Farben anzeigt. Er schuftet vermutlich schon seit Osaka. Zwischendurch bearbeitet er sein Handy, um endlich, nach Nagoya, den Bildschirm zuzuklappen und augenblicklich einzunicken.
Die gut zwei Stunden bis Shinagawa (Tokio) fühlen sich seltsam mühsam an, irgendwie absurd, sich vorzustellen, dass wir diese Distanz über Hügel und Berge zu guten Teilen zu Fuß geschafft haben. Von Shinagawa dann nochmals eine Stunde Fahrzeit bis Narita, wo wir im Hotel Gateway übernachten. Ein Gratis-Zubringerdienst führt uns dorthin. Ein weiterer unentgeltlicher Kundendienst ist ein Gratisbus ins Aeon, eine Shopping Mall, die es besonders den Chinesen antut. Sie schleppen Kartonschachteln und loses Gebinde ins Hotel zurück, und das in solchen Mengen, dass man sich fragt, ob sie am Ende noch wissen, was wem gehört. Auch Michiko hält sich am freien Nachmittag keineswegs zurück. Ein neuer Koffer muss her. Dieser wird bis zum Rand gefüllt mit Ingredienzien für die Küche. Der Kaufrausch der Ausreisenden, schreibt die heutige englischsprachige China Daily, wird ausgelöst durch die geschickte Politik Japans, die die Mehrwertsteuer von 8% für ausländische Reisepässe erlässt. Am Abend blitzt und donnert es. Und es regnet wieder einmal. Wie so oft, wenn es uns egal war, weil wir nicht gerade per pedes unterwegs waren.
Zusammenstellung der Unterkünfte:
Copyright 2015 by Josef Bucheli