Ohenro Shikoku, Japan: Auf tausendjährigem Pilgerpfad
Kommentare: 9 - Datum: Mai 10th, 2010 - Kategorien: Allgemein
Magst du die japanische Küche nicht,
bleib zu Hause, du bekommst nichts anderes zu Gesicht;
Falls die japanische Küche dir entspricht
Komm hierher, auch wenn man deine Sprache nicht spricht!
Seit ich erstmals vom Henro– oder Ohenro-michi, Pilgerweg, rund um die viertgrösste Insel Japans – Shikoku – gehört habe, und das ist mehr als ein Vierteljahrhundert her, bin ich fasziniert von der Idee, eines Tages dieser geheimnisvollen Spur zu folgen. Heute weiss ich, dass der tausendjährige Fussweg rund 1200 km lang ist und dass unterwegs 88 buddhistische Tempel wie an einer Perlenkette in unregelmässigen Abständen am Wegrand auf die Pilger warten. Inzwischen ist Shikoku durch Brücken mit der Hauptinsel Honshu verbunden. Damit ist diese als traditionell und eher rückständig gebrandmarkte Region der kumulierten Flächen der Kantone Waadt, Wallis, Tessin und Graubünden mehr und mehr hineingezogen in den hektischen japanischen Alltag. Das beschauliche Dasein ein paar umherziehender, weltfremder Exoten in Pilgerklamotten gehört daher wohl weitgehend der Vergangenheit an. Die meisten Japaner meistern den Henro-michi etappenweise und als organisierte Gruppen in Autobussen oder sonst wie motorisiert. Für Michiko und mich als Wanderer wird es wohl vor allem darum gehen, von solchen Light-Pilgern bei der Herberge-Suche unterwegs nicht benachteiligt zu werden.
25./26.2.2010
Anreise
Die B777-300ER der Emirates Airlines trägt mich von Zürich nach Dubai in sechs Stunden. Der dortige blitzblanke Flughafen gleicht im Passagierbereich einer einzigen Einkaufsstrasse mit 24 Stunden-Betrieb. Als Drehscheibe zwischen den Kontinenten Europa, Asien und Australien sind für den Reisenden Tag und Nacht kaum zu unterscheiden. Als eine weitere B777-300 ER gegen halb vier Uhr morgens Lokalzeit Richtung Osaka entschwebt, vergeht nur kurze Zeit, bis die Morgenröte die Flugrichtung anzeigt. Bei der Landung in Japan ist es gegen sechs Uhr abends und dunkelt schon. Ausgerechnet als wir Shikoku überfliegen, schüttelt es unsere Maschine ununterbrochen durch. Wir erblicken den Heim-Turf für die nächsten Wochen erst in Bodennähe. Die Ausländer werden in der Immigrationshalle durch einen Durchgang geschleust, der mit wärmempfindlichen Sensoren ausgerüstet ist. Beim Schalter der Einwanderungsbehörde wird jeder fotografiert und muss seine beiden Zeigfinger einscannen lassen. Unter der Kolonne Adresse in Japan schreibe ich Ohenro, was der Vorinspektor nicht versteht. Da er selber auf Shikoku lebt, ergeben sich ein karger Erklärungsversuch in seiner Sprache und daraus eine Kurzkonversation, die er dreimal neu aufnimmt, während ich in der Warteschlange stehe. Der Beamte am Schalter staunt, dass ich zwei Monate lang bleiben möchte, ohne eine feste Adresse. Schliesslich scheint er meinem Alter Respekt zu zollen und bohrt nicht weiter. Ob er verstanden und auch geglaubt hat, dass ich über tausend Kilometer zu Fuss unterwegs zu sein plane, ist nicht verbrieft. Am Ausgang erwartet mich meine Frau Michiko, und wir verbringen die Nacht in Flughafennähe.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
1 | 27.02.10 | Tabi no yado, Michishirube | 088-672-6171 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
20910 | 11 | 1,2,3,4,5 |
Dreistundenfahrt im Autobus vom Kansai-Flughafen nach Tokushima auf Shikoku. Kein Eldorado für Landschaftsmaler, denn wir durchmessen in Küstennähe eine wahre Industrie-Wüste mit qualmenden Kaminschloten, hässlichen Fabrikgebäuden, lose zusammen gehalten durch ein Netz sich kreuzender zwei- und mehrstöckiger Strassen mit den entsprechenden Auf- und Abfahrten. Quert man diesen Gürtel auf der Fernstrasse zuoberst, so entdeckt man geduckt zwischen den Strassenschluchten, wie Lego-Klötzchen hingepflanzt, schmucklose Einfamilienhäuser, welche die letzten möglichen Grünflächen vereiteln.
Dann setzt der Bus über die gigantische Akashi-Kaikyo Hängebrücke – mit zwei fast dreihundert Meter hohen Pfeilern und einer Stützweite von knapp 2 km – auf die Awaji Insel über und von dieser über die Naruto-Hängebrücke nach der Insel Shikoku. Von diesem zweiten Kunstbau aus bietet sich dem Besucher ein seltenes Naturschauspiel: In der Gezeitenabfolge bilden sich an der engsten Stelle zwischen dem Pazifischen Ozean und der so genannten Inlandsee meterhohe Wirbel durch jeweils ein- oder ausströmendes Wasser. Man kann diese von der ursprünglich für den Schienenverkehr vorgesehenen unteren Plattform der Brücke zu Fuss erreichen und aus der Nähe betrachten, heute eine gross vermarktete Touristenattraktion. Endstation unseres Busses aber ist Tokushima auf Shikoku. In einer halben Stunde erreichen wir von dort im Regionalzug den Ausgangspunkt zum Tempel Nr. 1 auf dem Pilgerweg.
Im dem Tempel angeschlossenen Shop kaufen wir die wichtigsten Utensilien eines Pilgers:
- den konischen Bast-Hut mit Plastiküberzug für den Regenfall
- ein weisses Pilgerhemd
- eine weisse Umhängetasche für wichtige Unterlagen
- ein Stempelbuch, um die Tempelbesuche dokumentieren zu lassen
- den Wanderstock aus Weichholz
So ausgestattet überzeugt unser Äusseres dermassen, dass kurz nach Beginn der Wanderschaft zu Tempel Nr. 2 ein Auto neben uns anhält, die Wagenfenster öffnet um uns zwei Stück Temaki – in Seetang gewickelte Häppchen aus Reis, Gemüse und Fleisch – zu überreichen. Man darf solche als Osettai bekannte Geschenke nicht abweisen, denn sie verkörpern die Verbundenheit der Bevölkerung mit den asketischen Pilgern. Tatsächlich sind wir froh um diese Wegzehrung auf der Suche nach den fünf Tempeln des ersten Tages. Vom reservierten Inn der ersten Nacht holt man uns im Wagen ab und bringt uns am nächsten Morgen an die Stelle zurück, wo wir die Pilgerschaft heute unterbrechen. Der 19-jährige Erik aus Alaska begleitet uns. Genau wie ich hat er sich die Kopfhaare kahl schoren lassen. Für den Weg rund um Shikoku hat er etwas weniger Tage als wir eingeplant. Bevor er sich wieder seinen universitären Studien hingibt, will er in Yokohama ein Konzert von Lady Gaga besuchen, für welches er ein Ticket für 250 $ ergattern konnte. Erik ist ohne Religion aufgewachsen. Der Fahrer und Inhaber der Pilgerherberge kann nicht verstehen, dass sich jemand auf den Henro-michi aufmacht, der nicht der Sekte des Gründers Kobo Daishi (774-835) angehört. Verwinkelte, enge Strassen führen durch Dörfer, in denen besonders die Häuser mit den charakteristischen, auf vier Seiten abfallenden Ziegeldächern auffallen, die an den Verbundkanten unten mit Vorliebe als Stupsnase auslaufen. Zwischen diesen den Tempeln nachempfundenen Bauten lindert oft ein kleiner Garten mit verschiedenen Nadel- und Laubbäumen das Auge. Schnittblumen haben darin keinen Platz, sind aber oft in unzählige Pflanzentöpfe aus Terrakotta vor das Haus verbannt. Da zurzeit keine Blumen blühen, geben die Töpfe ein eher unordentliches Gesamtbild ab. Der Wanderer aber freut sich, zwischendurch abseits des Durchgangsverkehrs zu gehen.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
2 | 28.2.10 | Sakura Ryokan, Yoshinogawa-City | 0883-24-3237 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
50099 | 26 | 6,7,8,9,10 |
Angesagt ist ein Regentag, doch die Vorhersagen können sich auch in Japan irren. Anfänglich recht frisch, im Verlaufe des Nachmittags Sonnenschein. Heute Sonntag befinden sich auch andere Pilger auf dem Weg. So etwa zehn junge Arbeitskollegen aus Osaka. Dann ein paar Pensionäre, die nur ein Tagespensum hinlegen, dabei ein paar Tempel besuchen und sich an einem JR Bahnhof verabschieden. Obwohl sie einen langen Tagesabschnitt mit andern Pilgern einhergehen, beobachten wir keinerlei verbale Kontakte untereinander. Wie am Vortag reisen viele Pilger im eigenen Wagen an. Die Beweggründe sind schwer auszumachen. Gerade die jungen Arbeitskollegen steuern jeweils behände auf das „Stempelbüro“ zu, wo sie die Bestätigung auf Papierrollen einholen und die Einträge mit bereit liegenden Föhnapparaten abtrocknen. Anschliessend vergessen sie indes nicht, am Haupttempel das Herz-Sutra laut herunter zu leiern. Einer wünscht unser Bild für seinen Blog.
Auf dem Weiterweg reihen sich wieder verschlafene Dörfer aneinander, die durch keine Namensschilder gekennzeichnet sind. Allen gemeinsam sind die engen Strassen, wo Autos nur eingeschränkt kreuzen können. Wir werden denn auch durch den motorisierten Verkehr kaum behindert, obwohl die ganze Strecke asphaltiert ist. Umso mehr erfreuen uns die gepflegten Häuser mit den gehegten Gärten.
Fünf Tempel besuchen wir heute. Nicht alle bleiben in Erinnerung. Tempel Nr. 10 jedoch muss durch 333 Treppenstufen erklommen werden, die auf dem Rückweg ein zweites Mal zu bewältigen sind. Wir erreichen unser Sakura-Ryokan in Kamojima mit brennenden Fusssohlen. In einem Kaffeehaus, wo wir kurz einkehren, läuft die ganze Zeit eine Tsunami-Warnung über den Bildschirm. Darin werden minutengenau die Ankunft der Flutwellen eines Erdbebens in Chile und deren Höhe in Zentimetern an den exponierten Küstenabschnitten Japans angegeben. Von den Gastgebern erhalten wir zusätzlich zum bestellten Kaffee unentgeltlich Gebäck und dürfen ausserdem je eine Dose Tee auf die Reise mitnehmen.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
3 | 01.03.10 | Nabeiwa-so, Myozai-gun | 088-677-0181 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
42709 | 23 | 11,12 |
Vom Tempel elf hinauf
führt ein Pfad ganz steil und stet
Man sagt, wer hier behält den Schnauf
Sorgenfrei auch weiter geht
Dieser Aufstieg hat es tatsächlich in sich. Bis Tempel Nr. 12 sind rund 700 Höhenmeter zu erdulden, unterbrochen durch zwischenzeitliche Abstiege und Gegensteigungen. Rutschpartien über Laub und Geröll inbegriffen, wenn man nicht mit festem Schuhwerk unterwegs ist. Hier sind nur noch standfeste Pilger zu Fuss unterwegs, obwohl der Pfad über weite Strecken in gutem Zustand durch die Gemischtwälder führt. Hier hole ich den 19-jährigen Erik ein, der uns gestern unvermittelt entschwunden ist. Er hatte in unserer Bleibe seinen Reiseführer vergessen. Der Inhaber des Inns, der nur unsere nächste Unterkunft kannte, erkundigte sich nach Eriks Verbleib. Er offerierte sogar, das Buch im Wagen nachzuliefern.
Nach Tempel Nr. 12 folgt der steile Abstieg nach Nabeiwa-so, wobei der Pfad mehrere Male die Strasse kreuzt, um eine Abkürzung zu machen. Wiederum Rutschterrain, hat es doch zu regnen begonnen.
Ich bin zwar nicht müde, doch mürbe. Nur nicht gleich morgen einen weiteren solchen Tag!
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
4 | 02.03.10 | Dainichiji Tempel Inn, Tokushima | 088-644-0069 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
34554 | 17 | 13 (Dainichiji) |
Zunächst ein paar hundert Höhenmeter steil hinauf, dann auf geteerter Strasse viele Kilometer hinunter ins Tal. Nach Überschreiten des Flusses kurzer Übergang ins nächste Tal und anschliessend nochmals so. Die restlichen Kilometer entlang der Hauptstrasse, rufen wiederum das Brennen der Fusssohlen hervor. Wir sind zu viert unterwegs, aber jeder schaut nur auf sein eigenes Lauftempo; an einem Pilgerrastplatz trifft man sich wieder. Dann sorge ich für einen angemessenen Marschrhythmus, so dass keiner auszubrechen wagt. Bis sie wieder auf einen Marschhalt drängen. Auf der monotonen Uferstrasse einigen wir uns auf eine Mittagsrast. Auf der weiteren Strecke laufen wir auf unseren Alaskaner Erik auf, der seine Version des Vortags erzählt. Diesen Ausländer kennen mittlerweile alle Pilger und man hat ihn in unserem Ryokan erwartet. Es gab aber anscheinend ein zweites Gasthaus im gleichen Dorf, wo er mit drei Japanerinnen, darunter einer bekannten Schauspielerin, nächtigte. In dieser Gesellschaft plant er auch die kommende Nacht zu verbringen, ein paar Tempel weiter als wir.
Mit Michiko übernachte ich erstmals in einem Tempel Inn, dem Dainichiji, Nr. 13. Dadurch werden wir voraussichtlich unsere bisherigen Reisebegleiter aus den Augen verlieren.
Ausser uns ist eine Pilgergruppe aus Sendai angemeldet. Vor dem Essen wird gemeinsam das Herz-Sutra geleiert. Es ist unvermeidlich, dass man wissen will, wo die Langnase herkommt. Der Tempelherr ist sichtlich beeindruckt und wiederholt ungläubig Suisu, Suisu. Ausserdem gibt er der Gruppe den Dispens, abends ein Bier zu trinken. Da die Gruppe per Bus reist, frage ich nach, ob das mit dem Bier auch für das Fussvolk gelte. Der ganze Saal applaudiert, als man erfährt, dass wir zu Fuss über die Berge gestiegen sind. Dafür wird mir ein Asahi-Bier spendiert. Und ein Osettai (Geschenk) darf ein Pilger niemals ablehnen…
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
5 | 03.03.10 | Tokushima Daiichi Hotel | 088-655-5151 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
28379 | 15 | 14,15,16,17 |
Morgenandacht um sechs Uhr früh in der Gebetshalle des Tempels mit dem ansässigen Mönch. Von einer einfachen hölzernen Decke hängen Ornamente mit ungleich langen, sich wiederholenden Sujets, welche den Überblick im Raum erschweren. Alle Pilger des Reisecars verharren auf ihren Fersen sitzend, nur uns hat man Stühle bereitgestellt. Die rituellen Handlungen des Geistlichen wirken etwas zeremoniell. Unter Klopfen mit einem metallenen Stab gegen ein Gefäss verrichtet er Gebete und Gesänge, während er einen Weihrauchstock im Stakkato mit Ingredienzien nährt. Die meisten Gläubigen sind mit Gebetsliteratur ausgerüstet und machen mit. Wir können nur das Herz-Sutra mitleiern.
Jeder Tempelbesuch soll mit einem bestimmten Ritus vollzogen werden, worunter das Beten des Herz-Sutra nur ein Element ist. Es gibt allerdings diesbezüglich keine soziale oder andersartige Kontrolle. Man kann durchaus direkt auf das Stempelbüro zusteuern und sich den kalligrafischen Eintrag ins Stempelbuch gegen Entgelt machen lassen. Michiko unternimmt die Pilgerreise auch im Andenken an ihre verstorbene Mutter, welche diese ihrerseits gerne selbst einmal unternommen hätte. Mit dem Bild ihrer Eltern in der Hand hält sie jeweils kurz vor den Altären inne. Ein Tempel ist eigentlich ein Tempelkomplex mit verschiedenen sakralen Bauten:
- Dem Haupttor, wo böse Geister von grimmig drein blickenden Figuren abgehalten werden
- Dem Waschbecken, bei dem beim Eintreten als Erstes die Hände gewaschen werden sollen
- Der Haupthalle, dem Hauptgott des Tempels geweiht
- Der Daishi-Halle, dem Gründer der Sekte geweiht
- Dem Glockenturm
- Dem Administrations-Büro für den Stempeleintrag
Die nachfolgenden Tempel liegen in regelmässigen Abständen innerhalb weniger Kilometer. Der Weg führt durch urbane Gegenden rund um die Stadt Tokushima. Dort teilen wir den Weg mit dem motorisierten Verkehr über schmale Durchgangsstrassen. Nach Tempel Nr. 17 führt der Weg zum nächsten Etappenziel durch die Stadt Tokushima selbst, wo wir die Reise für den Rest des Tages unterbrechen. Dort haben wir vor fünf Tagen mit dem Pilgerweg begonnen und inzwischen jene 17 Kultstätten abgeklopft, welche in der weiteren Umgebung dieser Stadt in Dörfern, Tälern, auf Bergen im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung errichtet worden sind. Für uns so was wie die Ouvertüre, ab morgen geht es los zur Wanderung um die Insel Shikoku.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
6 | 04.03.10 | Fureai no sato, Sakamoto, Katsuura-gun | 08854-4-2110 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
46784 | 26 | 18,19 |
Seit 3 Uhr früh zappt Michiko im Hotelzimmer durch die TV Kanäle und meldet nichts als Regen für den kommenden Tag. Bis Mittag hält er zurück, revanchiert sich dafür den ganzen Nachmittag. Es ist eine Zumutung, wie wir durch die peripheren Stadtgebiete navigieren müssen. Und nicht nur wir. Auch die Schulkinder auf ihren Fahrrädern schlängeln sich durch den morgendlichen Verkehr Stadt einwärts auf einer Spur zwischen stehenden Autos und nicht vorhandenem Trottoir, über Dolenroste, den aufgespannten Regenschirm in einer Hand. Niemand mit Helm. Und heute müssen sie auch noch auf uns aufpassen. Wir benötigen zwei Stunden, bis wir in etwas ländlichere Gefilde vorstossen. Da dort der Verkehr flüssig rollt, müssen wir bei jedem vorbei brausenden Laster unseren Pilgerhut schützen, damit er nicht davon fliegt. Wo möglich glaubt der Hintermann jeweils, ich grüsse ihn mit der Handbewegung. Der gute Erik aus Anchorage, dem wir auch heute wieder begegnen, hat das Problem auf pragmatische Weise gelöst, den Pilgerhut entsorgt und wieder seine Baseballmütze aufgesetzt. Auch sonst gibt er sich angepasst: Er will auf gewissen Teilstrecken von Bus oder Bahn aus grüssen.
Eine kurze Teilstrecke führt durch einen Bambuswald. Die nackten, beinharten Rohre klappern wie Störche Beifall, als eine leichte Brise unser Kommen ankündigt.
Dann werden wir heute dreimal beschenkt. Eine Frau steigt vom Fahrrad und entnimmt von ihrem Einkauf ein paar Mandarinen. Als wir an einer Patisserie Européenne vorbei marschieren, rennt uns eine Verkäuferin eilig hinterher und bringt Zwieback und ein weiteres Gebäck, manierlich verpackt. Da bei der Übergabe eines der Geschenke zu Boden fällt, huscht sie entschuldigend in den Laden zurück, um es umzutauschen. Später, als wir seit zwei Stunden durch massiven Regen gewatet sind, empfängt uns eine Ladenbesitzerin zu einem heissen Tee an der Wärme.
Um möglichst nahe an den Fuss des Berges zu gelangen, den wir morgen besteigen wollen, müssen wir eine weitere Stunde hinaus auf die nasskalte Strasse ohne Trottoir. Es ist den LKW-Fahrern hoch anzurechnen, dass wir von Wasserfontänen verschont bleiben. Im Dorf Kazura warten wir in einer öffentlichen Halle darauf, von einem uns empfohlenen Ryokan abgeholt zu werden. Dort findet zu Ehren des Mädchentages (3.3.) eine Puppenausstellung statt, die ich ohne zu zögern als die weltweit grösste ihrer Art einstufe. Man stelle sich eine Dreifachturnhalle vor und darin voll gestopft sicher zehntausend Puppen in allen Grössen und von erlesener Schönheit.
Die Einschätzung, dass unser Ryokan das schönste auf der ganzen Strecke sei, verdanken wir einer 79-jährigen Dame, die den Ohenro-michi seit fünfzehn Jahren jährlich einmal absolviert. Und diese Dame wartet vor derselben Halle und benützt denselben Abholdienst, der uns in die ehemalige Primarschule in ein Bergdorf bringt. Entsprechend geräumig sind die Zimmer, welche noch die Bezeichnung der früheren Klassen tragen. Noch im Bus fragt besagte Dame nach unserer Herkunft. Und doppelt sodann gleich nach:
„Kennt ihr den Roli Vogel aus Luzern?“
„Ja klar, der kam zu Michiko, um Japanisch zu lernen!“
Und auch Rolis Frau kennen wir, die Hiromi, sie hat von Michiko die Japanischklassen der Migros Klubschule in Luzern übernommen! Die Dame ist zwar nicht verwandt mit Hiromi, kennt sie aber als Nachbarin von Kindsbeinen an. Sie war auch schon einige Zeit bei ihr in Luzern.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
7 | 05.03.10 | Sazanka, Anan-City | 0884-36-3701 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
45525 | 21 | 20, 21 |
Ein Tag mit zwei Tempeln auf unserem Programm, die den Berggipfel als Standort ausgewählt haben. Nicht ganz überraschend einen unterschiedlichen. Wer die steilen Pfade wie wir in Angriff nimmt, kommt oben nicht um einen Tenuewechsel herum. Die ungewöhnlichen Steigungsprozente nagen am Durchhaltewillen. Um der Erosion entgegenzutreten, sind mancherorts Betonschwellen quer zum Pfad in den Boden gerammt worden. Diese lassen sich wegen ihrer Höhe und dem Abstand zur nächsten Schwelle in keinem vernünftigen Rhythmus begehen. Das ist sowohl beim Aufstieg als auch beim Abstieg mühsam und Kräfte raubend.
Davon sind die per Bus oder mit der Seilbahn eingetroffenen Pilgertruppen verschont geblieben und sie können ihre blitzsauberen Pilgertrachten vor den Tempeln spazieren führen. Dass es auch unsere 79-Jährige Asketin zu Fuss auf beide Tempel schafft, verbietet es uns, zu lamentieren.
Michikos sonst umsichtiger Routenplanung ist entgangen, dass zu Tempel Nr. 21 nochmals ein Gebirgskamm zu überwinden ist. Fazit: wir sind rekordverdächtige zehn Stunden unterwegs. Topografisch wie landschaftlich erleben wir eine Etappe, wie ich sie mir für Shikoku vorgestellt habe: Wir durchwandern enge Talschaften, wo kleine und kleinste Reisfelder im Terrassenanbau an den Abhängen kleben. Blühende Pflaumenhaine haben sich in windgeschützten Ecken angesiedelt. Bereits blühen die ersten Kirschbäume, während Mandarinenhaine voll der reifen, rotgelben Früchte prangen. Der Wald, der den Grossteil des Pfads umgibt, wechselt je nach Höhenmeter ziemlich abrupt von Gemischtwald zu hochstämmigen Koniferen. Dazwischen taucht für kurze Zeit dichter Bambuswald auf.
Nach aller Mühsal des Tages darf man sich wie immer auf ein japanisches Bad – Ofuro – am Abend freuen. Dazu eine Kurzanleitung: Ryokan ebenso wie die etwas einfacheren Minshuku haben Etagen-WC und ein Ofuro. Dort legt sich der Gast textilfrei in ein Becken heissen Wassers und lässt Körper, Seele und Gedanken baumeln, nachdem er sich zuvor ausserhalb der Wanne gründlich eingeseift und geduscht hat. Zu diesem Zweck stehen Kurpackungen von Flüssigseife und Shampoo zur Verfügung und man hockt während dem Zeremoniell auf einem Plastikschemel neben oder unter der Brause. In den traditionell kleinen Unterkünften meldet man sich, sobald man sein Bad genossen hat, damit der nächste Gast eintreten kann. Bei grösseren Herbergen oder öffentlichen Badeanstalten gibt es Platz für eine ganze Reihe von Menschen gleichzeitig, dann allerdings geschlechtlich getrennt. Immer aber benutzen mehrere bis viele Personen dasselbe Badewasser, weshalb der Hygiene ausserhalb des Wasserbeckens die grösste Bedeutung zukommt.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
8 | 06.03.10 | Yakuoji Tempel Inn, Kaifu-gun | 0884-77-0023 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
42146 | 17 | 22,23 |
Regentag, keine namhaften Steigungen. Trotzdem glaube ich der dem Shikoku Japan 88 Route Guide entnommenen Marschdistanz diesmal nicht ganz. Michikos Schrittzähler kommt auf rund 23 km, was vermutlich eine vernünftige Annäherung bedeutet. Mit dem heutigen Tag verlassen wir das Landesinnere und erreichen die Küste. Anfänglich ziehen wir uns noch etwas die ländliche Idylle hinein. Gerade im Dauerregen und wenn sich die tief hängenden Wolken mit den Bergwäldern vermählen, entsteht der Eindruck einer entlegenen, von der Ungeduld der Zivilisation abgekehrten Binnenwelt. Aber aufgepasst: kaum ein Ort, wo nicht hoch über dem Talgrund eine Hochspannungsleitung ihre Fäden spannt. Und kaum, dass wir uns einer Überlandstrasse nähern, breitet sich entlang eines Gewässers eine wilde Deponie von gebrauchten Fahrzeugreifen, Autowracks, Kühlschränken, Zivilisationskram eben, aus. Eine Weile folgen wir der Hauptstrasse, welche zwei Tunnel durchsticht. Im ersten ist unser Weg noch durch ein Geländer geschützt. Im zweiten sehen wir uns auf Gedeih und Verderben dem Goodwill der Fahrer ausgesetzt. Wenn ein Chrom-Monster im Tunnel auf aufsteigender Rampe die ganze Potenz ausschöpft, stellt sich für uns ein Krachen-und-Heulen-und-berstende-Nacht Szenario ein. Das Garacho endet erst, als wir unter den geöffneten Schleusen des Himmels wieder frei atmen können.
An der zerklüfteten Küste darf der Pilgerweg streckenweise sein eigenes Gelände beanspruchen. Aber gross mehrheitlich folgen wir einfach der Überlandstrasse. Solange dies in Bezug auf den Pilgerweg nicht ändert, rennen die Befürworter des Labels Weltkulturpilgerpfad ganz bestimmt vergeblich an bei der UNESCO.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
9 | 07.03.10 | Yuyu-nasa-fureai-no-yado, Kaifu-gun | 0884-73-0300 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
50090 | 27 | – |
Nachdem die ganze Nacht heftiger Regen gefallen ist, müssen erst Gedanken ausgeräumt werden, ob sich der Tag nicht angenehmer von einem Wagenfenster der JR (Japanischen Eisenbahnen) angehen liesse. Wie wir auf die Strasse treten, hören die Niederschläge auf. Wir folgen den ganzen Tag der Route 55, welche grössere Steigungen mit etlichen Tunneln umgeht. Sie bietet kaum grosse Abwechslung, da aber Tempel Nr. 24 in 75 Kilometer Entfernung liegt, geht es nur darum, diese Distanz möglichst schnell zu überwinden. Für heute hat sich Michiko ein besonderes Hotel einfallen lassen. Unser Balkon auf dem Kamm eines Hügels gibt freie Sicht auf die offene Meeresbucht. Die Morgensonne würde direkt in unserem Bett landen, wenn es denn je so etwas wie Morgensonne gäbe auf Shikoku. Auch das Gemeinschaftsbad lässt keine Wünsche offen. Wir benutzen es, obwohl unser Zimmer ebenfalls mit Bad und WC ausgerüstet ist. Pilger geniessen hier einen Preisnachlass von 20%, so dass sich die Nacht mit Nachtessen und Frühstück für rund 80 Franken pro Person preiswert anhört. In Japan fragt kaum ein Kellner: „…und zum Trinken?“ Man serviert gratis Grüntee und Wasser. Wer zum Essen Bier oder Sake wünscht, muss sich melden.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
10 | 08.03.10 | Lodge Ozaki | 0887-27-2065 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
56934 | 33 | – |
Ganztags auf der Route 55, welche hier die Küstenstrasse bildet. Nach fünf Kilometern Marsch erspäht mich die Gerantin eines Kaffeehauses und winkt mich mit viel Gestik zu sich hinein. Obwohl etwas kurz nach dem Frühstück, willige ich ein. Die Frau mit Vier-Länder-in-elf-Tagen– Erfahrung in Europa hat dabei auch die Schweiz besucht und weiss Positives zu berichten. Den besten Kaffeeröster weltweit will der Inhaber ihres Coffee-Shops in Baden gefunden haben, einen Herr Ferrari. Sie lädt nur ausländische Pilger zum Gratiskaffee ein. Am PC zeigt sie uns eine ellenlange Galerie von solchen Besuchern. Ich weiss nicht, seit wie vielen Jahren die Dame die Strasse nach Langnasen abäugt. Wir sind jedenfalls ihr neuester Zugang.
Die Wellen auf dem Ozean schlagen unaufhörlich gegen die Küste. An einer besonders exponierten Stelle warten Dutzende Wellenreiter auf eine abenteuerliche Trittbrettfahrt. Ob es an der Küste immer so faucht und zischt, kann ich nicht herausfinden.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
11 | 09.03.10 | Kongochoji Tempel Inn, Muroto-City | 0887-23-0026 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
49906 | 27 | 24,25,26 |
Wenn das Meer auf die Küste zum Angriff bläst
Und die Schiffe im Hafen der Mut verlässt
Stehn die Zeichen auf Sturm
Der Mensch harrt wie ein Wurm
Bis der Wind sanft La Ola verebben lässt
Unsere Lodge Ozaki liegt, nur durch die Route 55 getrennt, am Ozean. Wenn man in die schwarze Nacht hinaus horcht, gewahrt man, welche Urgewalt da in jeder Sekunde in Lärm umgewandelt wird. Lautstärke eines davon donnernden Riesenjets. Peitscht dir dazu der Wind Regen ins Gesicht, so ist das beileibe nicht des Pilgers Traum. Ame (Regen) ist das erste Wort aus dem Äther, als wir frühmorgens das TV einschalten. Ame, und das mit 99% Wahrscheinlichkeit. Was wohl in der Meteorologensprache heisst ‚zu hundert Prozent’. Regen und orkanartige Böen begleiten uns 15 km der Küste entlang. Da liegt man mit Pilgerhut vollends im Abseits. Das Meer kocht. Fontänen stieben zwanzig, dreissig Meter empor an einer Miniaturausgabe der Dolomiten an der felsigen Küste. Der Aufstieg zum Tempel Nr. 24 erfolgt im Schutz eines Mischwaldes. Michiko überlasse ich ihrem eigenen Tempo, das sie ihrerseits zwei japanischen Begleitern anpassen muss, welche in derselben Lodge nächtigten. Wir treffen durchaus auf Japaner, die wie wir den ganzen Pilgerweg zu Fuss zurücklegen. Sie gehen zuweilen wenige Meter hintereinander, ohne erkennbare Lust auf eine Konversation mit Gleichgesinnten. Michiko spielt dann die Eisbrecherrolle. Sie ist nach meiner Beobachtung bis heute die einzige Frau, welche ohne Abstriche zu Fuss unterwegs ist. Selbst unsere 79-jährige Heldin zieht es vor, die 75 km zwischen Tempel Nr. 23 und 24 mit der Bahn zu bewältigen.
Tempel Nr. 24 und 26 liegen auf Hügeln, so dass uns heute zwei Aufstiege auferlegt sind. Dafür geniessen wir vom vorzüglichen Inn bei Tempel Nr. 26 eine herrliche Sicht auf die entfernte Küstenregion.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
12 | 10.03.10 | Hamayoshi ya, Aki-gun | 0887-38-6589 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
46434 | 24 | – |
Heute können wir uns nicht über Regen aufregen. Dafür haben wir es mit einem unsichtbaren Widersacher zu tun: Ein orkanartiger Wind bläst uns die ganzen sechs, sieben Stunden direkt ins Gesicht. Wir wandern sozusagen mit Vorlage durch die Landschaft, den Pilgerhut als Windbrecher auf den Bauchnabel gepresst. Die Route 55 verläuft nach wie vor relativ flach zur Küste; für uns ist es beinahe wie Bergsteigen.
In einem Restaurant frage ich einen japanischen Pilger, weshalb es hier nur vereinzelt Windkraftwerke gebe. Er mutmasst, dass die Investition zu gross wäre. Als ich ihm dieses Argument nicht abkaufe, kontert er mit dem Lärm solcher Windmühlen. „Und das Meer?“ frage ich zurück. Das sei natürlich. „Aha, und der Strassenlärm ebenso!“, setze ich ihn schachmatt. Die Frage beschäftigt mich nach wie vor, doch später erfahren wir, dass Winde dieser Heftigkeit für die Region aussergewöhnlich seien. Das Meer gebärdet sich im Vergleich zu den Vortagen heute erstaunlich friedlich.
Etwas Platz für Interna muss sein: So teile ich seit dreissig Ehejahren die meiste Freizeit mit Michiko. Nicht so auf der Wanderschaft. Es ist bisher unmöglich, längere Zeit auf gleicher Höhe mit ihr zu gehen. Sie sucht Deckung hinter meinem Rücken und versteht mich jeweils nicht, wenn ich etwas sage. Lasse ich sie das Marschtempo bestimmen, so bleibt sie nach wenigen Minuten stehen und drängt mir die Führung wieder auf. Schaue ich dann eine Weile lang nicht zurück, ist sie womöglich bereits hinter einer Strassenecke ausser Sichtweite. Das war bereits auf dem Jakobsweg durch Spanien nicht anders. Ich deute das halt als Zeichen dafür, mein eigenes Tempo durchzuziehen und singe mich von A wie Adamo bis Z wie Zauberflöte querbeet durch alles, was sich mein Lebtag an Melodien angesammelt hat. Hier mit Meeresrauschen als Begleitmusik. Ob La Montanara oder Ein Schiff wird kommen, alles wird auf einen Marschrhythmus uminterpretiert und in dieser Kadenz kann ich stundenlang durch die Lande ziehen. Als mich heute nach rund zwanzig Kilometern auf einer Brücke der Orkan beinahe von den Beinen fegt, rette ich mich in ein Restaurant und setze mich an einen Tisch mit Sicht auf die Brücke. Irgendwann muss meine Frau auftauchen, ich weiss ja nicht, wo sie unser Nachtlager gebucht hat. Nach gut einer Stunde ist es so weit. Man rechne nach: Auf 20 km verliert sie 60 Minuten, macht auf 2 km 6 Minuten, auf 1 km 3 Minuten oder 180 Sekunden. 18 Sekunden auf 100 Meter! Ich weiss beim besten Willen nicht, wie ich hundert Meter achtzehn Sekunden langsamer gehen soll. Und das Interessante: Sie erscheint nicht etwa alleine. Unterwegs passt sie ihren Rhythmus einem andern Pilger an, oder drängt diesem ihren eigenen auf. Ihr heutiger Begleiter hat gar noch einen Aufstieg zum Tempel Nr. 27 und damit 632 Höhenmeter vor sich, denn er deponiert seinen Rucksack im selben Minshuku wie wir und kehrt nach drei Stunden zurück. Diesen Aufstieg sparen wir uns als Auftakt für den morgigen Tag.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
13 | 11.03.10 | Katori, Konan-City | 0887-55-3133 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
69349 | 38 | 27 |
Heute erwischt mich Michiko auf dem falschen Fuss. Der Aufstieg zum Tempel Nr. 27 ohne den im Minshuku deponierten Rucksack ist bei herrlichem Wetter weit einfacher als erwartet. Im Übermut beginnt sie daher, getätigte Zimmerreservationen zu annullieren, da sie sich dafür entscheidet, einen Tag zu gewinnen und weitere dreissig Kilometer zu den acht km hin und zurück zu Tempel Nr. 27, anzuhängen. Wir sind schliesslich 11 Stunden unterwegs. Michiko folgt meinem ‚Tempodiktat’ über weite Strecken problemlos. Wieder wandern wir entlang der Route 55, bis wir auf eine parallel geführte Cycling Road ausweichen. Für Michiko, die zugibt, die Schmerzen an den Füssen einfach zu ignorieren, ist dies die grösste körperliche Tagesleistung ihres Lebens. Sie findet, dass wehklagen ihr nicht zustehe, da es ihre Initiative gewesen sei, eine solche Distanz anzugehen. Im Grunde bereiten uns nur die Schmerzen an Fersen und Sohlen Probleme, zurückzuführen auf stundenlanges Gehen auf geteerten Belägen.
Beim morgendlichen Abstieg von Tempel Nr. 27 sind wir übrigens wieder einmal unserem Pilgerkameraden der ersten Stunde, Erik, begegnet, der eigentlich weiter sein müsste. Überdies treffen wir auch im heutigen Ryokan wieder auf vertraute und vor allem verdutzte Gesichter, weil man Michikos Parforce-Leistung für unglaublich hält. Es braucht viel, bis sich Japaner mit Namen zu erkennen geben. Trotzdem grüsst man sich als Altbekannte. Nach unserer Schätzung gehört etwa ein halbes Dutzend in unserem Umkreis zu den ‚Durchdienern’.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
14 | 12.03.10 | Rainbow Hokusei, Kochi-City | 088-826-4680 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
52698 | 25 | 28,29,30,31 |
Es wäre vermessen zu behaupten, die gestrige Mammutstrecke sei spurlos an uns vorübergegangen. Erst am Nachmittag ist die gewohnte körperliche und geistige Fitness wieder hergestellt. Heute handelt es sich um eine Vorzeigeetappe, wenngleich ausschliesslich auf betonierter oder geteerter Unterlage. Der gut markierte Weg schlängelt sich durch kleine Dörfer in einer ausgedehnten Ebene. Vom Dorfausgang steuert er querfeldein durch die grossflächigen Reis- und Gemüseäcker. Diese sind zum Teil geflutet, aber noch nicht bestellt. Das ländliche, das überschaubare, vielleicht noch unschuldige Shikoku ist hier anzutreffen. Nichts von Shopping Centers, keine Autogaragen, nicht einmal Nachtbeleuchtung. Da links und rechts der engen Durchgangsstrasse Wassergräben an den zusammengebauten Häusern vorbeiführen, fragt man sich, ob nicht zuweilen ein angeheiterter Spätheimkehrer in einem Graben landet. Aber es gibt auch keine Bars hier, wo sich das Leben rund um Reis- und Gemüseanbau zu drehen scheint.
Die Strassen und Flurwege haben gerade genügend Breite für die allgegenwärtigen, geländegängigen Kleinlaster, die Daihatsu, Honda, Mitsubishi und wie sie alle heissen. Sie werden wie selbstverständlich auch von Frauen im aktiven Alter gelenkt. Für Tempel Nr. 31 müssen wir gut hundert Höhenmeter überwinden. Der Tempelkomplex wird etwas verdrängt vom Botanischen Garten, der gegenwärtig einer riesigen Baustelle gleicht. Wieder einmal hat Michiko eine Bleibe gefunden, wo wir die Rucksäcke deponieren dürfen und von wo wir auf Abruf abgeholt und tags darauf an die selbe Stelle zurückgefahren werden, damit wir den Weg nahtlos fortsetzen können.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
15 | 13.03.10 | Tokumarukan, Kochi-City | 088-841-3074 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
46950 | 24 | 32,33,34 |
Der Tag fängt damit an, dass der Hausherr nach dem Frühstück Michiko unvermittelt zu begrabschen beginnt. An den Waden, den Oberschenkeln, dem Schlüsselbein. An jeder Stelle erwartet er den Kommentar, dass die Berührung schmerzt, was Michiko bestätigt. Dann bittet er sie dreimal Arigato gozaimasu, Danke vielmals, zu sagen, was sie tut. Und siehe da, bei der nächsten Berührung oder Massage an derselben Stelle bleibt der Schmerz aus. Ich kann der Konversation nicht folgen, aber was er demonstriert, nennt er Kidojutsu, siehe http://www.kazu.ch/Kidojutsu/kidojutsu.htm
und der Hausherr unterhält eine Praxis in der Unterkunft. Wir seien oft zu wenig dankbar unseren Körperteilen gegenüber, was die Schmerzen hervorrufe. Dann fährt uns seine Frau an die vereinbarte Stelle zurück, macht aber einen Umweg durch die Stadt Kochi und zeigt uns fliegend die wesentlichen Sehenswürdigkeiten der Innenstadt. Unser Weg führt nun entlang der Bucht und über die 300 Meter lange Urato Bogenbrücke. Von dort machen wir einen Abstecher nach Katsurahama, ein viel besuchter Strand, weil in seiner Nähe ein berühmter Sohn der Stadt Kochi des 19. Jahrhunderts geboren wurde. Sein historischer Beitrag zur Öffnung Japans wurde kürzlich verfilmt, was die Attraktivität des Ortes bei den Besuchern massgeblich steigert. Für mich ist es eher ein etwas unappetitlicher Tag, weil ich mehrmals, auch an unpassenden Stellen, austreten muss. Entsprechend angeschlagen ersehne ich das Tagesziel, Tempel Nr. 34, wo wir vom gebuchten Inn abgeholt und erlöst werden. Diese Abhol- und Bringdienste sind unentgeltlich, aber für die betreffenden Herbergen die einzige Möglichkeit, an die Fusspilger heranzukommen.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
16 | 14.03.10 | Kokumin-shukusha, Tosa-City | 088-856-2451 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
47800 | 23 | 35,36 |
Heute schmerzt mich von Beginn her der kleine Zeh. Weshalb erwähnen? Wenn etwas nicht stimmt, bringt das Unruhe ins Getriebe. Man ist abgelenkt, versucht es mit einer andern Schrittlänge, mit Krümmen des Zehs, statt sich auf die Umgebung zu konzentrieren. Auf dieser Teilstrecke haben grosse strassenbauliche Veränderungen stattgefunden. Und auf Neubaustrecken fehlen oft die Hinweiskleber. Tempel Nr. 35 wurde, nicht ganz unüblich, in einen Hang hineingebaut, so dass wir nach einer Flachetappe einige hundert Höhenmeter ansteigen müssen.
Dafür ersparen wir uns am Nachmittag den beschilderten Parcours über einen Hügelzug, indem wir einen kilometerlangen Autotunnel benützen. In einem Café erholen wir uns vom Pilgern in frühlingswarmem Wetter. Wer in Japan Café Crème bestellt, muss länger warten als in der Schweiz, denn das Getränk wird oft noch ohne Tastendruck auf eine Maschine erstellt. Hier mit dem Resultat, dass wir einen vorzüglichen Kaffee vorgesetzt erhalten. Und die Hausherrin gibt uns darüber hinaus ein paar Sushi Amuse-bouches. Solche Nettigkeiten machen Mut für den Rest des Tagesprogramms. Heute hat sich Michiko ein Hotel auf dem Kamm des Berges ausgesucht, an dessen Fuss Tempel Nr. 36 von Kirschblüten geschmückt auf die Besucher wartet. Wir überblicken den Pazifik um die Tosabucht von unserem Zimmer aus. Das Gemeinschaftsbad befindet im Freien. Sich im vierzig Grad heissen Ofuro hoch über allen Problemen der Welt wohl fühlen zu lassen, das muss man erleben. Vergessen die stundenlangen, quälenden Schritte auf beinharten Belägen. Sich für den langen Tag zu belohnen, bewusst das Glück wahrzunehmen, hier und jetzt im Wasser zu treiben, Beine und Füsse der Schwerelosigkeit zu übergeben, das geniesst man doppelt, wenn man es verdient zu haben glaubt.
Dann das Nachtessen mit dieser Reichhaltigkeit, die à la carte Essen vergessen macht. Und weil der Getränkeautomat an der Rezeption Häagen-Dazs Eis anbietet, toppe ich das Ganze mit einem Becher dieser dänischen Nobelmarke.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
17 | 15.03.10 | Fukuya Ryokan, Takaoka-gun | 0889-52-2958 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
39118 | 21 | – |
Wenn es montags regnet, so kann es nur noch besser kommen. Von der paradiesischen Lodge lassen wir uns vom jungen Manager belehren, dass der Mönch Kukai vor mehr als tausend Jahren unsere heutige Etappe ebenfalls zum Teil per Schiff bewältigt habe, da es eine Uferstrasse nicht gab. Wir glauben ihm und tuckern die ersten zehn Kilometer im Kahn. Michiko wittert die Möglichkeit, einen weiteren Tag zu ‚stehlen’ und zwanzig Kilometer mehr als vorgesehen anzuhängen. Zwei Stunden verbringen wir auf dem Original-Pilgerweg bei ansprechenden Verhältnissen.
Regen ist angesagt. Und dieser ‚beglückt’ uns am Nachmittag in einem Ausmass, dass Sinnesfragen je länger desto akuter werden. Ich kann sie Michiko nicht stellen, denn sie führt mit einer bisher ungesehenen Kadenz. Um Zeit zu sparen verlassen wir den rechten Pfad und folgen der Überlandstrasse, die der Topografie durch unterschiedlich lange Tunnel ein Schnippchen schlägt. In diesen Löchern vertreiben wir den Teufel mit Belzebub, denn die röhrenden Chrom-Monster verfehlen uns oft nur um Dezimeter. Wieder draussen, staut sich das Regenwasser just ausserhalb des weissen Begrenzungsstreifens der Fahrbahn, welches unsere Zone ist. Doch längst ist die Brille mit Dunst beschlagen, wir verachten Pfützen und ignorieren Schilder. Im nächsten Dorf angelangt, fragt sich Michiko durch, bis wir unser Ryokan finden. Wer einen solchen Tag wie meine Frau wegsteckt, den wird nichts aufhalten auf dem Weiterweg.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
18 | 16.03.10 | Iwamotoji Tempel Inn, Takaoka-gun | 0880-22-0376 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
38677 | 21 | 37 |
Problemlose Überführungsetappe mit Schlafen im Tempel Inn.
Zuerst zwei Stunden aufwärts, den Rest des Tages hinunter oder geradeaus. Wie wir einchecken, wird uns ein Brief überreicht, und zwar von der 79-jährigen Frau, die wir vor längerem getroffen haben, die an diesem Ort zwei Tage vor uns nächtigte und zufällig mitgehört haben muss, als Michiko hier telefonisch ein Zimmer reservierte. Auch sonst treffen wir wieder auf vertraute Gesichter. Als ich heute in der ersten Steigung auf der Route 56 drei Pilger nach und nach überhole, ist die Vorderste eine Frau, die alle 88 Tempel schon einmal im Bus reisend besucht hat und jetzt die Wanderung nachholt. Sie besucht auch die sog. Bangai-Tempel, welche nicht zu den 88 Sakralbauten des Henro-michi zählen, aber wichtige Nebentempel sind. Es ist keineswegs so, dass wir auf unserem Weg nur ‚unsere’ Tempel antreffen. Shikoku ist äusserst reich gesegnet an Tempeln und Schreinen. Auch die wahrlich unzähligen Friedhöfe allüberall lassen uns immer wieder staunen, wie verbunden die Menschen hier mit ihren Ahnen sind und waren. Da findet sich mitten in einem gefluteten Reisfeld, leicht erhöht, ein Mini-Grabmahl mit vielleicht einem halben Dutzend Steinen. Oder dann ausgedehnte Felder mit längst bemoosten Säulen und Gedenksteinen. Erstaunlicherweise handelt es sich nicht um Openair Museen, denn manche Gräber werden nach wie vor mit Schnittblumen geschmückt, aber auch mit Mandarinen und dergleichen versorgt. Esswaren auf Gräbern haben Tradition in Japan.
Unser Ziel sind aber ausschliesslich die offiziellen 88 Tempel der Shingon-Sekte des Buddhismus.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
19 | 17.03.10 | Minshuku Hinode, Hata-gun | 0880-44-1483 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
54864 | 30 | – |
Eine Alternative zu den heutigen 30 km gibt es nicht, weil sich unterwegs keine andere Unterkunftsmöglichkeit anbietet. So gesehen ist uns der strahlend schöne Tag ohne grosse Wärme willkommen. Willkommen auch die Mandarinen, welche uns von einem Wagen gereicht werden, der mit vier Pilgern besetzt ist. Sie ahnen wohl, was unser Vorhaben ist, liegt doch der nächste Tempel fast hundert Kilometer nach dem letzten. Etwas später hält eine Frau und beschenkt uns mit einem Pfund frisch gepflückter Erdbeeren. Von ein paar Pfaden im Wald abgesehen schlagen unsere Sohlen wieder fünfzigtausend Mal auf den harten Asphalt, was ab dem 20. km Schmerzen auslöst.
Auch heute begegnen wir wieder demselben Dutzend Pilger unterwegs wie seit Tagen. Man überholt, wird überholt und abends findet man sich bei Tisch. Oft gibt es Alternativen bei den Unterkünften, aber tagsüber trifft man sich auf dem Pilgerweg. Michiko ist nicht nur die einzige Frau, sie pflegt auch mit allen Herren der Schöpfung den verbalen Kontakt und erfährt dabei immer wieder Neues und Nützliches.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
20 | 18.03.10 | Anshuku, Tosashimizu-City | 0880-84-0567 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
46593 | 26 | – |
Da der nächste Tempel nicht in einem Tag zu Fuss erreicht werden kann, hat Michiko den Weg so aufgeteilt, dass die Distanz zu ihm auf zwei ungefähr gleiche Teilstücke fällt. Unsere bisherigen Weggefährten machen das anders. Sie hängen noch einige Kilometer an und übernachten dort zweimal. Denn der Tempel Nr. 38, Kongofukuji, liegt im äussersten Kap Ashizurimisaki und diesen Tempel besuchen sie morgen und kehren gleichentags in ihr Inn zurück. Die Rucksäcke können sie so in der gewählten Unterkunft belassen. Wir lassen unsere Ranzen ebenfalls im heutigen Inn, übernachten aber morgen in Tempelnähe und kehren erst am Folgetag zu unseren Rucksäcken zurück. Wir verlieren so einen Tag auf die bisherigen Weggefährten und werden neue Bekanntschaften schliessen.
Wir sind vom Wetter begünstigt. Ein 1620 Meter langer Tunnel ist das Highlight heute. Er sieht viel kürzer aus, weil man beim Eintreten schon das Ende des Tunnels gewahrt. Die Begehung in 25 Minuten ist völlig problemlos, da die Fahrbahn vom überhöhten Trottoir abgetrennt ist und zudem wenig Verkehr herrscht.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
21 | 19.03.10 | Ashizuri Youth Hostel, Tosashimizu | 0880-88-0324 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
43372 | 24 | 38 |
Einer der schönsten Tempel, eingebettet in den von Laubwald umgebenen Berghang, mit Teichen, umrandet von verschiedenfarbigen Felsblöcken. Ashizurimisaki heisst der Ort, gleich lautend wie das Kap. Dieses bildet, neben dem Tempel, eine der Hauptattraktionen auf Shikoku. Der Weg entlang der pazifischen Küste gehört zu den malerischsten, ist aber halt wieder durchgehend geteert. Wir werden denselben Weg morgen in der Gegenrichtung nochmals abwandern, vielleicht nicht mehr unter demselben strahlend blauen Himmel.
Erwartungsgemäss treffen wir auf einige Bekannte die sich auf dem Rückweg befinden. Selbst ohne Rucksack ist ihnen ein Vierzigkilometer-Programm gewiss. Wir beziehen ein Einzelzimmer in der Jugendherberge des Orts und hängen weitere vier Kilometer an, um die Klippen des Kaps zu bewundern. Ein riesiges Felsloch gibt den Blick auf den heute ruhigen Stillen Ozean frei. Je nach Blickwinkel verändert das Loch seine Form in ein Herz. Von Baumkronen getarnte Wanderwege führen um die schönsten Klippen herum zum Leuchtturm. Man könnte den Spaziergang auf die Gegenseite des Kaps ausdehnen, aber wir gönnen unsern Füssen etwas Erholung.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
22 | 20.03.10 | Anshuku, Tosashimizu-City | 0880-84-0567 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
41543 | 23 | – |
Zurück in das Ryokan von vorgestern. Wind und später Regen sind angesagt. Auf der letzten Wegstrecke erreichen uns ein paar Brisen. Einmal fliegt mein Pilgerhut davon und ich beim nach ihm Hechten beinahe in einen Graben.
Die tägliche Schrittzahl ist jeweils jene von Michiko, die zu 55 cm eingestellt die Anzahl gewanderter Kilometer ergibt. Auf dem Rückweg folgen wir ohne Ausnahme der Küstenstrasse und nicht mehr wie am Vortag den durchaus vorhandenen Abzweigungen ans Meeresufer. Auf dem Hinweg haben wir auf einer solchen Ausweichstrecke den ganzen Ramsch ansehen müssen, den das Meer auskotzt, vor allem leere Flaschen aus Plastik oder Aluminium, ferner von der Brandung tausendfach zerschundene Baumstämme und Wurzelstöcke. Das Entsorgen der Getränkeflaschen stellt in Japan ein Riesenproblem dar. Seit ein paar Idioten in der Umgebung von Grossstädten Bomben in den früher millionenfach vorhandenen Abfalleimern gezündet haben, sind praktisch über Nacht die allermeisten Abfallkübel aus dem Alltag verschwunden. Der wohl erzogene Japaner sieht sich seither mit einem Wohin-mit-dem-Abfall – Problem belastet. Er nimmt in aller Regel alles mit sich. Wie es aber durch die Augen der Pilger, die viele hundert Kilometer durch die Lande ziehen, aussieht, ist die Versuchung für manche Autofahrer gross, das Wagenfenster zu öffnen um den Müll der Landstrasse zu übergeben.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
23 | 21.03.10 | Minshuku Shima-ya, Sukumo-City | 0880-66-0835 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
56186 | 31 | 39 |
Nachdem es die ganze Nacht wie aus Kübeln gegossen hat, sind für heute Wind, aber keine zusätzlichen Niederschläge zu erwarten. Der Weg zum Tempel Nr. 39 führt vom Meer weg in das Herz von Shikoku zurück. Er schlängelt sich im Windschatten eines Waldes durch hügeliges Gelände. Der Wind hat die Waldstrasse bereits getrocknet und mit abgerissenen Palmwedeln tapeziert. Angebracht für den heutigen Frühlingsanfang, der in Japan als Feiertag gilt. Da heute Sonntag ist, gilt der Montag ebenfalls als arbeitsfrei. Das erklärt den bescheidenen Schwerverkehr, der an anderen Wochenendtagen nicht reglementiert zu sein scheint.
Der Blick in das Bergpanorama mit hinter einander geschichteten Gebirgszügen mit immer schwächeren Konturen erinnert etwas an primitive chinesische Landschaftsbilder. Hier und heute sind es nicht Dunst oder Nebel, die das Bild verklären, sondern Sandstürme aus dem Reich der Mitte. Der Sturmwind, der uns auf den mehr als 30 Kilometern immer wieder ‚aufstellt’, wenn wir den Wald verlassen, er macht Schlagzeilen vom nördlichen Hokkaido bis ins subtropische Okinawa. Seiner Herausforderung stellen wir uns sehr viel lieber als dem Regen. Für Michiko ist der Höhepunkt des Tages eine Allee von Kirschbäumen in schönster Blütenpracht. Der Wind zerzaust zwar die vergängliche Blütenschau, aber der Grossteil der eben erst geöffneten Blütenblätter scheint resistent gegen den Spielverderber.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
24 | 22.03.10 | B.H. Plaza Misho, Minamiuwa-gun | 0895-73-1826 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
49248 | 27 | 40 |
Seit langem wieder ein echter Ohenro-michi (Pilgerweg) verbunden mit einem dem Bürgenstock vergleichbaren Berg. Einige im Inn entscheiden sich für die längere Route 56 mit Tunnel. Man kann aber nicht ständig über geteerte Beläge meckern und dann solche Pfade meiden. Nur die letzten 1700 Meter zur Passhöhe steigen so richtig. Mit Erreichen der Wasserscheide sind wir in der dritten von vier Präfekturen angelangt, in Ehime. Was sogleich als Neuerung auffällt, die häufige Beschilderung mit Angabe der Restdistanz zum nächsten Tempel. Und erstmalig auch auf Englisch!
Wie fast immer macht uns der letzte Kilometer des Tages am meisten Mühe. Die Füsse arbeiten nur noch unter Protest. Der Schmerz wirkt wie chronisch. Anhalten bedeutet zusätzliche Pein beim Weiterlatschen. Erreicht man endlich das Tagesziel, so heisst es nochmals auf die Zähne beissen. Im Ryokan muss man die Schuhe ausziehen, bevor man eine Stufe höher treten und sich in zu kleine Schlüpfer zwängen darf, der zweite Fuss noch im Strassenschuh. Wie den zweiten Schuh ausziehen, wenn der erste schon oben ist? Ja dann halt auf die Schlüpfer verzichten! Und wenn es zufällig den ganzen Tag geregnet hat und die Socken pflotschnass sind? Dann halt auf Zeitungspapier stehen. Oder irgendeinen Kompromiss finden, wenn die Inhaberin nicht gleich mit Argusaugen auf den besonders beargwöhnten Ausländer blickt. Doch das anschliessende Ofuro lässt bald alle Unbill vergessen. Und am nächsten Tag freut man sich auf schmerzfreies Gehen auf ein neues Ziel zu.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
25 | 23.03.10 | B.H. Airin, Uwajima-City | 0895-20-8211 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
51587 | 28 | – |
Regentag, aber erträglich, da ohne Wind. Selbst der Ozean hat Waffenstillstand geschlossen mit der monotonen Küstenlinie. Wir folgen ganztags der Route 56. Eine Abzweigung über das Gebirge wird witterungshalber verworfen. Zwei Tunnel helfen Höhenmeter sparen. Der 900 Meter lange und vier Meter breite grössere der beiden ist Fussgängern und Radfahrern vorbehalten. Und heute ausschliesslich uns beiden; das Licht schaltet durch Bewegungsmelder auf taghell, als wir eintreten. Die Wände sind weiss; hier und dort schimmern übermalte Graffiti durch. Was kann man als Pilger bei Regen mehr wünschen als einen persönlichen, dazu videoüberwachten Tunnel?
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
26 | 24.03.10 | M. Toube-ya, Uwajima-City | 0895-58-2382 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
54574 | 30 | 41,42 |
Ein komplett verregneter Tag! Daran gibt es nichts zu beschönigen. Die einzigen zwanzig Minuten ohne Nass von oben schwitzen wir im 1720 Meter langen Matsuo-Tunnel, worauf der erste Tenuewechsel fällig ist. Irgendeinen Aufsteller müssen wir in der Tatsache suchen, dass wir durch diese Erschwernis an unserer Entschlossenheit nicht zu zweifeln beginnen, die Reise wie begonnen fortzusetzen. Selbst die bisher in der Präfektur Ehime gerühmte Wegsignalisierung fällt durch. In der Stadt Uwajima kleben zwar alle paar Meter Ohenro-Pfeile. Doch sie führen den Pilger in den Aussenquartieren herum, die oft keine Trottoirs aufweisen. Anhaltende Richtungsänderungen entlarven die übereifrigen oder überforderten Wegplaner. Weshalb nicht auf dem kürzesten Weg die Stadt queren, wenn doch der nächste Tempel erst in ein paar Stunden Marschdistanz liegt?
Diesen Tempel Nr. 41 finden wir erst nach mehrmaligem Durchfragen. Im Umkreis von Baustellen, oder wo kürzlich eine neue Strasse gebaut wurde, fehlen oft die Hinweis-Kleber.
Ein Stück echten Ohenro – Pfad im Wald besteht zwischen Tempel Nr. 41 und 42, allerdings wegen der Niederschläge sehr mühsam zu begehen.
Um doch noch mit etwas Erfreulichem den Tagesbericht zu schliessen: Wir bestellten das Frühstück in einem Restaurant der Joyfull-Kette, und es gab ein Set für 399 Yen. Darin inbegriffen waren Café Latte, Cappuccino, Café Macchiato nach Belieben; Softdrinks nach Belieben; ein Teller mit grünem Salat, 2 Spiegeleiern, einem Würstchen, einem warmen Brötchen mit Butter! Auch Eis-Kaffee anstelle der erwähnten Variationen konnte am Getränkebuffet gewählt werden, eine durstlöschende Spezialität der Japaner, die man in der Schweiz kaum kennt: Kaffeewasser mit Eiswürfel, Versüsser-Sirup und Rahm. Und das alles für ca. Fr 4.50!
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
27 | 25.03.10 | B.H. Daiichi, Ozu-City | 0893-24-5156 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
59080 | 32 | 43 |
Den ganzen Morgen Regen, nachmittags Aufhellungen. Genau so, wie von den Wetterfröschen prognostiziert. Auf sie ist Verlass. Dafür wieder grosser Frust beim Auffinden von Tempel Nr. 43. Da erreicht man endlich das Dorf und schon hören die Kleber mit den Pfeilen auf oder führen in einen Hinterhof. Die tausendjährigen buddhistischen Sakralbauten des Ohenro belieben an Abhängen angesiedelt zu sein. Es gibt hier zwei Bergflanken. Also halten wir Ausschau nach Einheimischen, aber die hat der Regen von der Strasse geholt.
Endlich am heiligen Ort eingetroffen, bleibt mein Groll bestehen und ich verlange geradewegs den Erinnerungsstempel und verzichte auf kurze Reflexion oder gar das Beten des Herz-Sutra. Da ich bereits den zweiten Tenuewechsel vollziehe und vor Kälte schlottere, schenkt mir Michiko eine leichte weisse Windjacke vom Tempel-Shop mit der Aufschrift OHENROSAN, wofür ich fortan von etlichen japanischen Pilgern beneidet werde. Gleich am Morgen nach sieben Uhr hatte Michiko den Weg über einen Bergpass gewählt, statt der möglichen Tunnelvariante. Wir mussten umständehalber viel Vorsicht walten lassen, durften dafür wieder einmal ein Stück originalgetreuen Ohenro-michi begehen.
Ein Einheimischer zeigt uns nach dem Besuch des verwünschten Tempels Nr. 43 ein weiteres Stück Originalweg, diesmal breit und mit dürren Palmwedeln bedeckt. Eine Wohltat für unsere Füsse. Anschliessend folgen zwanzig Kilometer Route 56. Bis zum nächsten Tempel sind 67 km zu bewältigen. Genügend Zeit, mich wieder zu fassen und künftighin einem buddhistischen Heiligtum den gebührenden Respekt zu zollen.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
28 | 26.03.10 | M. Kiraku, Kita-gun, Uchiko Town | 0893-47-0635 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
45445 | 25 | – |
Selbst wenn wir vergleichsweise wenig Tagesleistung einplanen, der letzte Kilometer nagt immer an den Kräften. Heute geht es stetig hinauf, unmerklich zwar, aber der junge Fluss, der uns entgegenkommt, tut dies in jugendlicher Frische.
Kenzaburo Oe, Nobel-Laureat in Literatur, hat weit oben in einem längs gezogenen, zwischen Fluss und Bergwald eingenisteten Dorf seine Wiege und vermutlich auch Inspiration gefunden. Nochmals weiter Fluss aufwärts findet Michiko unser heutiges Minshuku. Abgeschieden braucht nicht hinterwäldlerisch oder gar primitiv zu heissen: Das Licht im Gang reagiert auf Bewegungsmelder; die beheizte WC-Brille setzt den Ventilator in Betrieb, wenn sich jemand auf den Closomat setzt.
Unweit weiter oben hat man den Berg durchbohrt und eine Brücke über den Fluss gezogen. Das topografisch recht anspruchsvolle Shikoku wird in horrendem Tempo erschlossen. Darunter sind auch gebührenpflichtige Expressstrassen, die sich kühn über dem Talgrund über Brücken schwingen, um durch Tunnel den nächsten Tal-Einschnitt zu erreichen. Dabei müssen die Strassenbauer auf erdbebensicheres Bauen achten.
Halten wir einmal inne und vergewissern wir uns, was der Ohenro-michi früher war. Es gab keine Strassen, keine Tunnel, nur eine bewaldete, von Hügeln und Bergen sowie reissenden Flüssen geformte Landschaft. Und diese Insel wurde vom Mönch Kobo Daishi vor zwölfhundert Jahren mit Tempeln versehen, deren Besuch Ziel unserer Wanderschaft ist. Wandermönche zogen durch die Jahrhunderte zu diesen Orten in Ausübung religiöser Riten. Und heute sind alle Tempel erschlossen und können mit privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden. Die Konsequenz dieser Entwicklung: Wer wie wir zu Fuss unterwegs ist, findet zu 80% betonierte oder geteerte Strassen und Wege. Wir reservieren unser Nachtlager telefonisch, bedienen uns an tausend Getränkeautomaten, wählen die Tunnelvariante, wo die Alternative über das Gebirge uns überfordert. Welche Gedanken wälzten jene Ur-Pilger unterwegs im Gegensatz zu uns? Wir fluchen, wenn uns die Schilder und Hinweispfeile nicht lückenlos zum Ziel führen. Und trotzdem: Würden etwa die Pilgerscharen der früheren Jahrhunderte nicht auch Strassen und Tunnel bevorzugt haben, wenn sie die Wahl gehabt hätten? Der Japaner hat die Eigenschaft, äussere Einflüsse ohne Widerstand zu assimilieren. So geschehen mit der Schrift, aus dem Chinesischen, dem Buddhismus, von ebendort, mit der Umwandlung der Gesellschaft in eine moderne Industrienation nach westlichem Muster. Nach meiner Einschätzung macht sich kaum jemand Sorgen darum, dass der Ohenro-michi in immer ‚verwässerter’ Form daherkommt. Wer pilgert, muckst nicht auf, er stellt sich den Herausforderungen so, wie sie gerade auf ihn zukommen. Ganz wie früher.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
29 | 27.03.10 | M. Ichiriki, Kuma-kogen | 0892-21-0505 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
45328 | 25 | 44 |
Heute geht das Steigen munter weiter. Bis auf 800 m ü. M., wo noch Schneereste liegen. Nachdem die Nacht bitterkalt gewesen ist, klebt während der ersten Marschstunde noch Raureif an den Bäumen und Leitplanken. Insgesamt ein wunderbarer Wandertag. Zwei Pässe bewältigen wir auf richtigen Ohenro-Pfaden. Das Wandergebiet erinnert entfernt an Landschaften zwischen Napf und Eigenthal. Beeindruckend sind die Bergkirschbäume, bei welchen erst das Blütenweiss geschossen ist, was Japaner besonders schätzen. Wir erfahren unterwegs, dass vor vierzehn Tagen an einigen Stellen soviel Schnee fiel, dass der morgige Tempel nicht erreichbar war.
Heute besuchen wir Tempel Nr. 44, und damit ist die Hälfte von insgesamt 88 geschafft. Auf die Distanz bezogen, bewegen wir uns schon länger in der 2. Halbzeit. Ein weiterer Markstein ist das Datum: Wir sind genau ein Monat älter als beim Start. Ob wir wie erwünscht abgespeckt haben, können wir erst verifizieren, wenn wir in einem Badehaus eine zuverlässige elektronische Waage finden.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
30 | 28.03.10 | Yasuragi-no-yado Denko, Kuma-kogen | 0892-21-0092 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
46856 | 26 | 45 |
Palmsonntag. Unsere heutige Teilstrecke ist ein Ausflug zu Tempel Nr. 45 und die Rückkehr in die gleiche Unterkunft. Ob hier Luftlinie gemessen wurde? Item, wir lassen die Rucksäcke im Inn, weil wir dieser Variante den Vorzug vor andern Möglichkeiten geben. Tempel Nr. 45 liegt hinter zwei Höhenzügen. Den ersten unterqueren wir in einem alten Tunnel ohne jeden Schutz für die Fussgänger. Beim zweiten steigen wir auf 785 Meter auf, was Balsam für unsere Füsse bedeutet, denn der Pfad ist mit Laub und Palmwedel tapeziert. Allmählich kommt uns der Weg etwas lang vor, bis er endlich jäh abfällt und zwischen enorm hohen und mächtigen Tannen die ersten zur Nr. 45 gehörigen Statuen und Sakralbauten auftauchen. Der Tempelkomplex ist ebenso einmalig wie Furcht einflössend. Wie das Wildkirchli im Appenzellerland kleben die Steinbauten unter einer überhängenden Felswand. Ein Erdbeben in der Umgebung bedeutet für den Tempel grösste Gefahr. Mutige können über eine bewegliche Leiter auf eine Plattform klettern und den Adlerblick über die Anlage geniessen. Dieser Versuch bedeutete für einen sechzigjährigen Pilger vor zwei Tagen den Tod, wie die TV-Kanäle zu berichten wussten. Vielleicht wagen sich heute gerade deshalb besonders viele auf die Kanzel und lassen sich ablichten. Sie alle hatten vorher 800 Meter vom Parkplatz aus über hunderte Treppen zu überwinden, die zu diesem einzigartigen Ort hinauf führen.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
31 | 29.03.10 | H. Nigitatsu Kaika, Dogo Onsen | 089-941-3939 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
54977 | 30 | 46,47,48,49,50,51 |
Ein anstrengender Tag. Wir sind zufrieden, dass das Wetter mitspielt. Morgen schneit es gar etwas und bleibt kalt, bis die Sonne beginnt, etwas Wärme zu spenden, als wir von Tempel zu Tempel ziehen.
Ein junger New Yorker überholt uns beim langen Abstieg Richtung Matsuyama. Er ist der erste Nicht-Japaner seit Erik, dem Alaskaner, von welchem wir nichts mehr gehört haben. Der sportliche Ami scheint kein Problem damit zu haben, alleine durch die Lande zu ziehen. Er gibt an, etwas Chinesisch zu beherrschen, wodurch er auch die japanischen Schriftzeichen dem Sinn nach versteht. Um Reservationen zu machen, spricht er Leute an, die dies für ihn tun. Er ist einige Tage nach uns eingestiegen und geht sein forsches Tempo, setzt dafür gelegentlich einen Tag aus. Im vergangenen Jahr hat er den Jakobsweg gemacht. Wir teilen seine Ansicht, dass der Ohenro-michi in mancherlei Hinsicht anstrengender ist, als der spanische Camino. Auf Shikoku kommt man nicht darum herum, sein Nachtlager telefonisch zu reservieren, wo auf dem Camino frühes Eintreffen am Etappenziel genügt. Natürlich sind die Übernachtungen in Japan um ein Vielfaches teurer und der Weg ist über weite Strecken dem motorisierten Verkehr ausgesetzt. Und dann halt die geteerten Strassen.
Die sechs Tempel um die Stadt Matsuyama befinden sich ein bis sechs Kilometer voneinander. Keiner hat sich auf einen Hügel geflüchtet, so dass wir nach einem ‚normalen Arbeitstag’ von achteinhalb Stunden in unser Hotel ziehen können. Ein Mann, der nach einer Brücke seinen Wagen geparkt und auf uns gewartet hat, verteilt Dosengetränke und Bonbons. Er sagt, wir könnten uns glücklich schätzen, zur schönsten Kirschblütenzeit in Matsuyama einzutreffen.
Erstmals beziehen wir ein Hotel mit Thermalbad. Pilger geniessen einen Vorzugspreis. Die Aufmerksamkeit des Personals ist exemplarisch. Als die beiden Angestellten an der Rezeption merken, dass ein Ehepaar am Internet übt, während ich darauf warte, mein Mail abzurufen, bitten sie die Herrschaften, ihren Platz abzugeben. Gleichzeitig fällt der Dame auf, dass die hoteleigenen Schlüpfer mir zu klein sind und bringt mir ein grösseres Paar. Mir wurde auch schon ein längerer Bademantel gereicht, da die Exemplare in den Zimmern eher für die kleingewachsenen Japaner bestimmt sind.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
32 | 30.03.10 | Guesthouse Ai, Dogo Onsen | 089-934-0228 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
25941 | 14 | Ruhetag Matsuyama |
Nach dem Frühstücks-Büffet mit westlichen und japanischen Speisen im Angebot gehen wir auf Sightseeing in Matsuyama. Mit der ältesten Strassenbahn in ganz Japan, heute natürlich touristisch genutzt, rattern wir durch das Stadtzentrum. Dann steigen wir auf zum berühmten Schloss, das zu keiner Jahreszeit anziehender ist, denn die Kirschbäume im Schlosspark trotzen in Vollblüte der relativen Kühle im gleissenden Sonnenlicht. Bei einem ausgedehnten Stadtbummel verbringen wir die restliche Zeit. Gegen Abend mischen wir uns unters Volk, das unter den Kirschbäumen im Stadtpark Hanami, Blütenschau, zelebriert. Auf blauen oder braunen Plastikplanen gruppieren sich Familien, Freunde, Arbeitskollegen, die Schuhe an den Rand der Decke gestellt und geniessen bei Grilladen, Sake und Bier das jährlich wiederkehrende, kurzlebige Spektakel der Kirschblütenzeit. Die Jüngsten tollen sich derweilen im Park herum. Alles verläuft friedlich, niemand verstünde es, wenn es hier der polizeilichen Präsenz bedürfte.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
33 | 31.03.10 | Hojosuigun Youth Hostel, Hojo | 089-992-4150 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
49940 | 26 | 52,53 |
Ein schwieriger Neuanfang. Mit dem Gefühl, mich übergeben zu müssen ging ich zu Bett und nicht anders ist mir, als wir um halb sieben auf der Strasse stehen, noch ohne Frühstück. Mit einem halben Liter kalter Milch versuche ich, den Magen ruhig zu stellen, dann marschieren wir los. Und merken nach zwanzig Minuten, dass ich den Stock im Laden vergessen habe. Die Ehrenrunde schwächt mich zusätzlich. Ich schleppe mich mit bisher nicht gekannter Müdigkeit durch die Gegend. Eine alte Erfahrung lehrt mich, in solchen Fällen den Magen mit einem kalten Bier zu schocken, obwohl dieses Getränk nie so grässlich mundet, wie wenn man es ohne Lust und Appetit hinunterwürgt. Aber woher die Probleme? Michiko wollte unbedingt das Hanami-Feeling im Park auskosten, und sie holte sich Esswaren von einer Frau, die einen Stand aufgestellt hatte. Vermutlich war der beigefügte Senf das Corpus delicti, sonst hätte Michiko am Vorabend ebenfalls Probleme aufgelesen.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
34 | 01.04.10 | R. Shofuku, Imabari City | 0898-32-0020 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
52332 | 29 | 54,55 |
Regentag mit Unterbrüchen. Obwohl der Tag lang ist, Bemerkenswertes hat er nicht aufzuweisen. Wir verbringen die Nacht im wohl originellsten Inn auf dem gesamten Ohenro-michi. Der quirlige, 47-jährige Alleinherrscher der Jugendherberge hat sich ein kleines ‚Biotop’ aufgebaut, dem er als Mädchen für alles vorsteht. Alle Räume sind buchstäblich von Apparaten, Maschinen, Möbeln voll gestopft. Unser Schlag duldet neben dem Kajütenbett ein kleines Tischlein, vorauf ein überdimensionaler Flachbildschirm jede weitere Verwendung verbietet. Der Küchentisch hat einen Holzaufbau in der Mitte, wo selbst gebrannte Töpfe und Kacheln herumstehen. Man setzt sich vorsichtig an den Esstisch, da jede falsche Bewegung im Rücken einen Dominoeffekt auslösen könnte. Der überaus freundliche, es allen recht zu machen bemühte Hausherr huscht hyperaktiv in den Gängen herum und trägt Speisen auf, die er als Büffet zur Selbstbedienung auf den Tisch stellt, da der Zugang zu den Gästen verstopft ist. Alles hat er selber gekocht, Tassen und Teller auch selber gebrannt, ein weiteres Hobby von ihm. Ich greife gezielt auf meine Lieblingsspeisen zu und ertränke die verbleibenden Magenprobleme mit zwei Flaschen Bier.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
35 | 02.04.10 | Kuniyasu, Saijo-City | 0898-66-3853 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
48193 | 27 | 56,57,58,59 |
Die ganze Nacht Regen, dafür kein Tropfen auf unserer heutigen Teilstrecke. Seit unserem Timeout in Matsuyama schmerzen die Füsse nicht mehr unter tags. Während der Nacht allerdings bleibt das unangenehme Gefühl der Gefühllosigkeit in den Fersen und einigen Zehen. Am Morgen erwähnt Michiko kurz, dass am nächsten Donnerstag schon der letzte Tag des Ohenro sei. Sie irrt sich zwar um eine Woche, aber wir bekämpfen schon etwas den Eindruck in uns, dass der restliche Weg nur eine Zeitfrage sei. Immerhin steht noch die Etappe mit der höchsten Erhebung an.
Die heutigen Teilziele liegen in rhythmischen Abständen von ein paar Kilometern. Tempel Nr. 58 jedoch thront auf einem Hügel mit 255 Höhenmetern. Dafür erstrahlt Tempel Nr. 59 inmitten eines Meeres von Kirschblüten in herrlicher Entfaltung.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
36 | 03.04.10 | Bizinesu Ryokan, Saijo-City Komatsu | 0898-72-5881 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
29002 | 16 | 61,62,63 |
Da Tempel Nr. 60 auf einem Berg liegt, hat Michiko die heutige Kurzetappe am Fuss des Aufstiegs enden lassen, womit wir eine Monsteretappe zweiteilen und zweimal im selben Ryokan übernachten. Somit können wir morgen ohne Rucksäcke aufsteigen. Das Wetter scheint uns hold gesinnt.
Tempel Nr. 61 ist einzigartig. Die moderne Architektur könnte auch einen Konzertsaal beherbergen. Und im Innern sind die Besucher eingeladen, hinter dem Altar in Konzertbestuhlung Platz zu nehmen, statt wie üblich auf den Fersen sitzend. Die drei heutigen Tempel umgibt ein Meer von Kirschblüten, für die Fotografen ein Festtag. Wir geniessen einen freien Nachmittag, den Michiko dazu nutzt, die restlichen Unterkünfte zu reservieren.
Zu unserem heutigen Ryokan gehört eine Metzgerei. Und dies verspürt der Gast beim Nachtessen. Je zwei Gäste sitzen um einen Gaskocher mit Bouillon und einem Überangebot an frischem Rindfleisch zum Kochen oder Rohessen, mit verschiedenem Gemüse und Pilzen als Zutaten. Natürlich wie immer im Preis der Übernachtung eingeschlossen. Morgen besteht die Möglichkeit, den Kalorienvorschuss am 745 m hohen Berg abzutragen, von welchem Tempel Nr. 60 grüsst.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
37 | 04.04.10 | Bizinesu Ryokan, Saijo-City Komatsu | 0898-72-5881 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
54597 | 30 | 60,64 |
Unser Ostermarsch dauert neun Stunden. Vorgesehen waren 16 km, hin und zurück zum Tempel Nr. 60 auf 745 m. Aber ohne Rucksäcke wird Michiko schon mal übermütig und sucht einen andern Abstieg. Der Ostersonntag bietet Traumwetter. Auf der Zusatzschlaufe geniessen wir die Vogelperspektive eines mehrarmigen tiefblauen Stausees umrahmt von bewaldeten Berghängen. Auf der Strasse, die uns allmählich dem Talgrund näher bringt, intoniert Michiko immer wieder Haendels Halleluja, da es andere Osterlieder scheinbar nicht gibt. Auf unserem solitären Marsch löst das keine Verwunderung aus.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
38 | 05.04.10 | B.H. Misora, Niihama | 0897-41-7822 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
39775 | 22 | – |
Zwischen Tempel Nr. 45 und 46 liegen 45 km, zuviel für einen einzigen Wandertag. Die Unterteilung in zwei Etappen ist durch die Unterkunft mitbestimmt, diesmal ein Business Hotel. Bis dort ziehen wir fünf Stunden den Feinstaub der Route 11 in uns hinein, verursacht durch einen nimmer enden wollenden Werktagsschwerverkehr. Zuweilen besteht die Möglichkeit, auf eine Parallelstrasse auszuweichen, die zwar eng, aber nicht verkehrsfrei ist. Auf der Hauptstrasse kann man sich immerhin auf diejenige Strassenseite hangeln, wo eine Sicherheitslinie, wenn nicht gar ein Trottoir vorhanden ist. Im Übrigen sind wir unentgeltlich Augenzeugen sämtlicher japanischen Autofirmen, Mineralölgesellschaften, Autozubehörlieferanten, Shopping Centers, Convenience Stores und zur Erholung Imbissbuden und Cafés zwischen Spielhöllen. Da diese Leistungsschau der japanischen Gesellschaft durch ausreichende Parkflächen voneinander abgetrennt geboten wird, hat man keineswegs das Gefühl, von all den Fassaden und Reklameschildern erschlagen zu werden.
Convenience Stores sind die japanische Version unserer Tante-Emma-Läden. Es sind kleine, einstöckige Verkaufsflächen, welche Artikel des täglichen Gebrauchs anbieten und 24 Stunden geöffnet sind. Dort kann man aber beispielsweise auch sein Handy aufladen, ein Paket aufgeben, die Toilette aufsuchen oder ein telefonisch bestelltes Flugbillet bezahlen. Aber natürlich sind Einkäufe von Getränken und Esswaren neben Toilettenartikeln trotz beschränkter Auswahl die Haupteinnahmequelle dieser Convini, wie sie genannt werden, welche als Kettenläden unter verschiedenen Labels tausendfach in ländlichen Gebieten und Aussenquartieren zur Versorgung der Bevölkerung beitragen. Ich bin mir sicher, dass die Schweizerische Post gut beraten wäre, in diesen Zukunftsmarkt einzusteigen. Es gäbe kein Poststellensterben mehr auf dem Lande.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
39 | 06.04.10 | R. Onaru-so, Shikoku-Chuo City | 0896-24-5096 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
42431 | 23 | – |
Fortsetzung von gestern. Nach Möglichkeit weichen wir auf Parallelstrassen aus. Diese führen durch wohlhabende Quartiere. Man merkt den Wohlstand besonders an den Gärten. Die Japaner sind Meister im ‚Dressieren’ von Nadelbäumen. Sie zwingen die Äste mit Gewichten und Drähten in die gewünschte Richtung. Jeder Ast darf dann sein Bündel an buschigen Zweigen mit Nadeln um sich scharen, so dass der Baum aussieht wie ein mehrarmiger Leuchter. Vermutlich kommt gelegentlich ein Baumscherer vorbei und verpasst den Nadelkissen den nötigen Schnitt. Zwischen diesen hoch gezüchteten Koniferen wechseln sich oft Felsblöcke ab. Schnittblumen sind im Schatten dieser dominanten Gartengestalten kaum je zu sehen. Halbhohe Steinmauern begrenzen das Grundstück gegen die Strasse oder Nachbarschaft.
Heute setzt es einen wunderschönen Frühlingstag ab. Nachmittags kann man bereits vom ersten Hitzetag reden. Was uns vorrangig interessiert, ist das Wetter der kommenden zwei Tage. Es steht das auf 910 m liegende Dach der Tour an. Morgen geht es bereits auf 333 m, aber diese werden vermutlich im munteren Auf und Ab wieder ‚geopfert’.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
40 | 07.04.10 | M. Okada, Miyoshi City | 0883-74-1001 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
36464 | 20 | 65 |
Dieser Tag führt uns an den Fuss des Berges Unpenji heran. Tempel Nr. 65 ist in zwei Marschstunden erreicht. Dann führt eine geteerte, jedoch kaum befahrene Strasse in ein Seitental. Von dort wandern wir wieder bergan entlang der vom Schwerverkehr emsig genutzten Route 192, bis ein fast 900 langer Tunnel ins nächste Tal hinab führt. Vor Wochen bereits hat Michiko das dortige Minshuku reserviert, denn Alternativen dazu gibt es nicht. Und wir werden denn auch vom Parkgolf spielenden Grossvater erkannt und gleich mit Namen angesprochen. Klar, auch hier sieht man nicht alle Tage Ausländer. Aber als Überraschung wartet erneut eine schriftliche Nachricht von der 79-jährigen Pilgerin von vor vielen Wochen.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
41 | 08.04.10 | Kanpo-no-Yado Kan-onji-so, Kan-onji | 0875-27-6161 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
41524 | 23 | 66,67 |
Ein Aufstieg, steil und wunderschön, führt zum Tempel Nr. 66 auf 910 m ü. M. Höher liegt keiner. Strahlend blauer Himmel. Der Kälteeinbruch hat sein Gutes, denn man kommt ganz schön ins Schwitzen. Wir könnten den Unpenji-Berg und den Besuch des gleichnamigen Tempels als Höhepunkt des Shikoku-Pilgerweges betrachten, aber wir suchen keine Rangliste.
Es folgt ein langer Abstieg zu Tempel Nr. 67 und als Dessert die Übernachtung in einem Onsen. 8-9 Kilo weniger bringe ich dort auf die elektronische Personenwaage, als noch bei Tempel Nr. 1! Das Hotel Kanpo-no-yado Kan-onji-so verdient trotz des langen Namens erwähnt zu werden. Es liegt auf einem kleinen Hügel und gewährt eine prachtvolle Rundsicht auf die Stadt Kan-onji, ein paar Wasser-Rückhaltebecken für die Kulturen in der Umgebung, eine Allee blühender Kirschbäume als Schattenspender für den Gästeparkplatz. In der Ferne zwischen sanft gewellten Hügelzügen erkennt man die Inlandsee. Die mächtigste Erhebung ist der Unpenji, den wir ja heute von seiner Rückseite her bestiegen und auf der uns zugewandten Flanke wieder verlassen haben. Kaum zu glauben, was man imstande ist, an Distanzen an einem Tag zu bewältigen!
Ein Onsen unterscheidet sich von einem Ofuro im Prinzip dadurch, dass man in Thermalwasser badet. In aller Regel ist ein Onsen auch mit einem grösseren Wasserbecken ausgestattet, wo beim Ofuro oft eine Badewanne ausreicht. Obwohl wir Pilgerrabatt erhalten, ist dies mit Abstand die teuerste Übernachtung auf dem ganzen Pilgerweg. Wir erwarten deshalb ein besonders reichhaltiges Nachtessen, während das Frühstücksbüffet sowieso keine Wünsche offen lässt.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
42 | 09.04.10 | R. Monsakiya, Zentsuji City | 0877-62-2337 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
51312 | 28 | 68,69,70,71,72,73 |
Eine Rekordzahl besuchter Tempel bringt uns dem Endziel, 88, einen bedeutenden Schritt näher. Wir dürfen uns glücklich schätzen, denn angesagt ist Regen, aber die ganzen acht Stunden fällt kein Tropfen. Da nimmt man den starken Wind über weite Strecken gerne in Kauf. Tempel Nr. 68 und 69 sind vermählt, befinden sich in ein und demselben Tempelbezirk. Man stempelt und kalligrafisiert unser Buch praktischerweise für beide und verlangt den doppelten Betrag.
Tempel Nr. 71 ist der ‚nahrhafteste’, denn er versteckt sich in einer Bergflanke. Wir sind nur selten über die Topografie der Strecke im Bild. Als wir endlich im Tempelbezirk eintreffen, finden wir noch ein paar hundert Treppenstufen vor uns. Dafür entschädigt uns ein Bambuswald auf dem Folgepfad nach Tempel Nr. 71.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
43 | 10.04.10 | Zentsuji Tempel Inn, Zentsuji City | 0877-62-2337 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
46844 | 26 | 74,75; Konpira Schrein |
Wunderbarer Frühlingstag. Vorgesehen ist der Besuch zweier Tempel innerhalb weniger Kilometer. Tempel Nr. 76 ist der Geburtsort des Gründers der Shingon-Sekte des Buddhismus. Kobo Daishi oder Kukai erblickte das Licht der Welt vor ungefähr 1200 Jahren. 31 jährig, segelte er nach China und holte sich dort das Wissen um die Sekte, die er alsdann auf ganz Shikoku verbreitete. Er gründete die meisten der besuchten Tempel, auch die Nr. 76, Zentsuji, dessen Sakralbauten in einem Park von 45000 m2 angelegt sind. Wir übernachten im Tempel Inn. Von hier aus brechen wir auf, um das knapp zehn Kilometer entfernte Konpira zu besuchen. Es ist dies der grösste Schrein auf Shikoku. Wir begeben uns sozusagen in ‚Feindesland’, denn Schreine gehören zur urjapanischen Shinto- Religion. Nicht immer vertrugen sich Buddhisten und Shintoisten nebeneinander, denn der Shintoismus war eine zeitlang offizielle Staatsreligion mit dem Kaiser als göttliches Wesen.
Mit unserer Ohenro-Tracht sind wir in Konpira ziemliche Specie rara. Erstmals befinden wir uns in einer Reisegruppe französisch sprechender Touristen. Die ersten 500 Meter Richtung Torí – Eingangstor mit Querbalken und Symbol eines Schreins – sind von Souvenirläden und Imbissbuden gesäumt. Auf der stetig ansteigenden Route bis zum obersten Gebäude dieses religiösen Zentrums sind 1368 Treppenstufen zu bewältigen! Wir gehören zu den relativ wenigen Besuchern, die alle schaffen. Wir werden belohnt mit einem wunderbaren Rundblick auf die Ebene, zu welcher auch die Stadt Konpira gehört. Die grossräumig mit niederen Häusern urbanisierte Fläche ist begrenzt durch ein paar Hügelzüge, während man in der Ferne Konturen der gigantischen Hängebrücke nach Honshu erblickt. Da Samstag und warmes Wetter ist, seufzen Tausende Besucher die Treppen hinauf; einige lassen sich in Sänften hoch tragen.
Mein Eindruck ist, dass dieses Publikum mehrheitlich Sightseeing betreibt. Selten sind Anzeichen religiöser Motivation zu erkennen. In der grossen Halle, dem markantesten Gebäude, wird gerade eine Darbietung von Tänzerinnen im Kimono abgedreht.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
44 | 11.04.10 | Ebisu-ya Ryokan, Takamatsu City | 087-874-0567 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
51158 | 28 | 76,77,78,79,80 |
Da wir im Inn des Tempels Nr. 75 übernachten, sind wir eingeladen, um sechs Uhr früh der Morgenandacht beizuwohnen. Sie wird durch fünf Geistliche oder Tempelgehilfen gestaltet. Am längsten gerät die Ansprache, welche ich nicht beurteilen kann. Trotzdem glaube ich, dass die meisten Pilger froh sind, an den Frühstücktisch entlassen zu werden. Vorgängig werden wir durch ein stockfinsteres unterirdisches Labyrinth geschleust; man kann sich lediglich mit den Händen die Wände entlang orientieren, um in einen Raum zu gelangen, wo angeblich die Stimme von Kukai zu hören ist.
Die fünf Tempel des Tages stehen in regelmässigen Abständen, ohne nennenswerte Steigungen. Wir setzen alles daran, das Ziel vor dem angesagten Regen zu erreichen, was uns gelingt. Es scheint, dass die restlichen acht Tempel nicht mehr in der topografischen Langeweile zu finden sind.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
45 | 12.04.10 | B.H. East Park Ritsurin, Takamatsu | 087-861-5252 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
59182 | 33 | 81,82,83 |
Ganztags Regen. Es ist, als wolle eine höhere Macht nach bester Zauberflöten-Manier uns noch ein paar Prüfungen in den Weg legen um herauszufinden, ob wir den Ohenro-michi verdientermassen erfolgreich beenden können. Die heutige Prüfung erkläre ich als bestanden. Zwei Tempel erwarteten uns in den Bergen. Das heisst steile Aufstiege und ebenso unangenehm abfallende Pfade. Da ich diese Waldwege wegen ihrer Abgeschiedenheit von Lärm und Abgasen liebe, will ich die zusätzliche Erschwernis durch Regen nicht besonders hervorheben. Dennoch sind entgegenkommende Bächlein und stehende Tümpel kein Schleck. Den dritten Tempel des Tages finden wir nach einem 12 km langen Abstieg und stundenlangem Kurven um Aussenquartiere der Stadt Takamatsu. Unser Business Hotel liegt im Stadtzentrum, weitere fünf km schnurgerade entlang einer belebten, richtungsgetrennten Stadt-Strasse mit breiten Trottoirs. Alles unter Dauerregen.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
46 | 13.04.10 | Sakae-so, Sanuki City | 087-894-0029 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
52594 | 29 | 84,85 |
Am zweitletzten Tag versucht der Wind sein Spiel mit uns. Wir verwenden ihn als Luftkühlung in den zwei nahrhaften Aufstiegen mit 21 – 27 Steigungsprozenten. Der Abstieg von Tempel Nr. 84 gilt als glitschig nach dem Dauerregen des Vortags. Mit etwa zwei Kilometer Umweg wäre er zu umgehen, aber Michiko mutet uns den Versuch zu. Wir bewegen uns am Limit. Dafür wandern wir vom zweiten Berg in unsere Bleibe weiter als nötig, weil ein Einheimischer behauptet, er kenne den Weg ganz genau. Aber er zeigt uns bloss die drei Kilometer längere Strasse für Autos, wie wir bald feststellen. Wir trösten uns damit, dass wir sonst wieder mit einem regennassen Pfad hätten Vorlieb nehmen müssen.
Frühmorgens vor Antritt des Tagespensums haben wir den Ritsurin-Park von Takamatsu besucht. Ein wahres Bijou, worin man sich leicht eine Stunde lang die Füsse vertreten, ja, wie geschehen, sogar aus den Augen verlieren kann. Viele der sechs Weiher und dreizehn von Menschenhand gebauten Hügel sind miteinander durch Nadelbäume zu einem Ganzen verwoben, so dass man sich zu jeder Jahreszeit mit einer Kamera bewaffnen sollte.
Zum zweitletzten Mal kann ich im Ofuro meinen täglichen Refrain singen: „THAT’S WHAT WE ARE DOING THIS FOR…“ Alle körperliche Mühsal des Tages im heissen Bad ertränken, es als Belohnung einzuheimsen.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
47 | 14.04.10 | Sakae-so, Sanuki City | 087-894-0029 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
43297 | 24 | 86,87,88 |
Geschafft!
In einem eigens für Pilger eingerichteten Center vor der letzten Hürde zu Tempel Nr. 88 werden wir herzlich empfangen. Dort dürfen wir auch eine Urkunde als Botschafter des Ohenro-michi in Empfang nehmen. In einer Ecke des Centers sind Gefässe angebracht, in welche die Pilger ihren Namen nach politischen Bezirken des Landes getrennt, einwerfen können. Wir benützen die Ablage ‚International’ und finden zuoberst den Zettel von Erik aus Alaska, der hier eine Woche früher eingetroffen ist.
Danach folgt der knifflige Übergang über den 774 m hohen Bergkamm, der zum Teil auf allen Vieren bewältigt werden will. Trotzdem muss ich einmal zu Boden, zum Glück ohne Konsequenzen. Aber wir dürfen uns erst in die Arme fallen, nachdem wir auch den letzten Meter des Abstiegs zum finalen Tempel Nr. 88 geschafft haben. Der Tempel selber bietet ausser der Emotion nichts Besonderes. Eher mürrisch, verbietet sich der Kalligraf ein Erinnerungsfoto während des letzten Eintrags in unser Stempelbuch. Der Gemeindebus bringt uns für 200 Yen zum Bahnhof, von wo wir in wenigen Minuten das Ryokan des Vortags erreichen. Zum Schluss eine Geschichte, wie sie vielleicht nur der Ohenro-michi schreibt: Als wir heute Morgen seit gut einer Stunde zu Fuss unterwegs sind, hält ein Wagen neben uns, ein Herr steigt aus, entschuldigt sich für seine gestrige Behauptung, den richtigen Weg zu Tempel Nr. 87 zu kennen. Seinetwegen hätten wir einen grösseren Umweg in Kauf nehmen müssen. Mit einem Osettai, Gebäck und Candys, verabschiedet er sich, wendet seinen Wagen und fährt von dannen!
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
48 | 15.04.10 | Toyoko Inn, Osaka Nanba | 06-4397-1045 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
21463 | 12 | 01, Otsuka Museum, Osaka |
Seit wir Shikoku im Autobus verlassen haben, d.h. die ganze Fahrtdauer von dreieinhalb Stunden haben wir keinen einzigen Tempel erblickt. Von Kobe bis Osaka queren wir eine einzige urbane Megalopolis.
Vor dem Verlassen der Insel Shikoku besuchen wir noch das Otsuka Museum of Art. Ein Haus der Superlative! Auf acht Etagen, worunter fünf unterirdischen, sind ausgewählte westliche Meisterwerke auf Keramikziegel reproduziert. Das sind über tausend Bilder aus 25 Ländern. Die Kunstwerke sollen auf diese Weise für die nächsten 2000 Jahre unverändert erhalten bleiben. Darunter finde ich Hodler, Segantini und Klee aus Schweizer Museen, selbstverständlich die Mona Lisa, Guernica, usw. sowie exakte Rekonstruktionen der Sixtinischen Kapelle und Wandmalereien anderer rekonstruierter Bauwerke. Das Museum ist von einem ansässigen Pharmaunternehmen gebaut worden und ist einmalig, indem es die grössten und einflussreichsten Meisterwerke des Abendlandes an einem Ort vereinigt. Leonardo Da Vincis Abendmahl ist gar in zweifacher Ausführung auf einander gegenüber liegenden Wänden dargestellt: Vor und nach der mehrjährigen Restauration durch den italienischen Staat. Der Besuch ist jeden der 3150 Yen Eintrittsgeldes wert. Weiteres auf: http://www.o-museum.or.jp/english/
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
49 | 16.04.10 | Koyasan Youth Hostel | 0736-56-3889 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
25345 | 14 | Koyasan |
Koyasan liegt auf Honshu und kann auch als das Rom der Shingon-Sekte bezeichnet werden. Man erreicht es von Osaka in rund zwei Bahnstunden, wobei die letzte Teilstrecke mit einer Standseilbahn bewältigt wird. Koyasan liegt auf knapp 1000 m ü. M. Hier sollen 4000 Einwohner inmitten von über hundert Tempeln und anderen Sakralbauten leben. Viele bieten Unterkünfte für Besucher an. Es sind weniger die Tempel und Souvenirläden, die uns beeindrucken, als der Waldweg nach dem ranghöchsten Tempel, ein kilometerlanger Weg, links und rechts übersät mit Grabmählern jeder Grösse, welche sich zwischen riesige Tannen zwängen. Viele der Steine mögen Jahrhunderte alt sein, sind längst bemoost und vegetieren in einer zeitlosen Symbiose mit der Natur. Dass Koyasan zum UNESCO Weltkulturgut gehört, ist natürlich, denn was sich da in 1200 Jahren angehäuft hat, ist beispiellos. Dass auch heutige Firmen wie Komatsu und Nissan Grabmähler für ihre Angestellten unterhalten, beweist, dass es kein ausschliessliches Museum ist.
Viele Pilger des Ohenro-michi aus Shikoku komplettieren ihren Marsch mit einem Besuch auf Koyasan.
Tag | Datum | Unterkunft | Tel# |
---|---|---|---|
50 | 17.04.10 | Toyoko Inn, Osaka Nanba | 06-4397-1045 |
Schrittzahl | km | Besuchte Orte / Tempel Nr. | |
43090 | 14 | Koyasan, Osaka |
Auf Koyasan, wo wir in der Jugendherberge übernachten, regnet es vom späten Nachmittag an bis in die halbe Nacht zum Teil stark. Auf dem Bildschirm melden sie erstmals seit Jahrzehnten Schnee in Tokio um diese Jahreszeit. Auf 1000 Meter ist es frühmorgens hell bei 1.3 ° Celsius. Wir entscheiden uns, den Weg ins Tal zu Fuss zu gehen. Es ist dies mit 20 km der längste zusammenhängende Originalpfad auf unserem gesamten Pilgerweg. Ein wunderbarer Weg, über tausend Jahre alt, alle 109 Meter von beschrifteten Marksteinen markiert. Cho, Cho (japanisches Längenmaß, ca. 109 m). Über weite Strecken ist der Pfad von Palmwedeln oder Laub bedeckt, was für eine weiche Unterlage sorgt. Unsere Füsse danken es. Nur wenige Passagen erinnern an die massiven Regenfälle der Nacht. Uns kreuzen mehrere Wandergruppen auf dem Weg nach oben. Auf einem Rastplatz treffen wir einen Mann mittleren Alters, der beim Small Talk sagt, er habe von 22 Jahren in Luzern geheiratet. Eine so genannte Japanerhochzeit, all inclusive, im Schloss Meggenhorn. Es ist immer wieder rührend, mit anzuhören, wie die Japaner von der Schweiz schwärmen!
* * *
Link auf Zusammenfassung in Versform:
http://joe.tyberis.com/ohenrovers